… in mundo huius temporis …
Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart: Das Textcorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konstitutioneller Text des Glaubens
Peter Hünermann, Tübingen
Zur Eröffnung des Wiener Symposions „Erinnerung an die Zukunft“ möchte ich einige Gedanken über „die Bedeutung des II. Vatikanums im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart“ vortragen und mit einer Vorbemerkung beginnen, die das Konzil als ein gefährliches Unternehmen kennzeichnet.
Ich möchte dies in wenigen Strichen begründen.
- Wir stehen nicht nur in Europa, sondern in ähnlicher Weise in Kanada und den USA wie in den lateinamerikanischen Ländern in einer tiefgreifenden Kirchenkrise. Es zerbröselt gleichsam der Sockel, auf dem das Glaubensleben der Menschen, die Kirche, in den zurückliegenden Jahrhunderten gebaut war. Der rapide Rückgang der Gottesdienstbesucher, das Ausscheren der jüngeren Bevölkerungsschichten aus dem Überlieferungsprozess des Glaubens, sind beängstigend. Der Schrumpfungsprozess der geistlichen Berufungen in Korrelation zu den katholischen Bevölkerungszuwächsen ist inzwischen zu einem immensen Problem geworden. Das Konzil war angetreten unter der Hoffnung auf ein neues Pfingsten. Ist nicht das Gegenteil der Fall?
- Darüber hinaus ziehen sich – quer durch die Gemeinschaft der Glaubenden – scharfe Auseinandersetzungen um das Verständnis des Konzils. Sie sind wie trennende Gräben in der kirchlichen Landschaft. Was steht in kathpedia, der von Linz aus gesteuerten katholischen Enzyklopädie nicht alles zu lesen! Es hat mir die Sprache verschlagen.
- Nach der Ansprache Papst Benedikts in Freiburg, einer Begegnung mit hochengagierten Christen, Männern und Frauen, hatte man den Eindruck: Es gibt keinen Dialog in der Kirche. Kirche wird administriert. In diesem Kontext die Bedeutung des Konzils in einem Vortrag erörtern: Ein gefährliches, weil der akuten Gefahr von Missverständnissen, Verwirrungen, Streitereien ausgesetztes Unternehmen.
- Hinzu kommt, dass das Corpus der Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils keineswegs in allem völlig ausgeglichen und transparent ist. Um ein Bild zu gebrauchen: Das Konzil hat den riesigen Acker, Gottes Saatfeld, umgebrochen, aber die Schollen liegen noch groß und schwer da. Es muss geeggt und gesät werden, damit der Acker Frucht trägt. Von daher die gesteigerte Gefährlichkeit des Versuchs, in einem Beitrag die Bedeutung des II. Vatikanums mit seinen vielen Dokumenten im unübersichtlichen kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart zu umreißen.1
Dieses Unternehmen trägt nur Frucht, wenn wir uns gemeinsam einlassen auf die Regel, die Ignatius von Loyola am Beginn seines Exerzitienbüchleins dem, der die Exerzitien gibt, und dem Exerzitanten ans Herz legt: „… dass jeder gute Christ bereitwilliger sein soll, die Behauptung des Nächsten zu retten als sie zu verdammen; und wenn er sie nicht retten kann, so frage er, wie er sie verstehe …“. Nur so kann die Isolierung, können die Sprachlosigkeiten, die Unterstellungen von Einseitigkeiten und Missverständnissen überwunden werden.
Wir beginnen mit einer These, welche die Überschrift des Vortrages erläutert und die Gliederung anzeigt:
Dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt in der Abfolge der Konzilien eine eigene Stellung zu:
Veranlasst durch die Moderne,
stellt das Zweite Vatikanische Konzil eine theologische Besinnung auf die gesamte Traditionsgeschichte der Kirche dar,
konzentriert in zwei Reihen von Eckpunkten.
Dadurch wird die Katholizität der Kirche in neuer Weise aufgedeckt.
Die einzelnen Zeilen geben jeweils die Abfolge der Argumentation wieder.
Wir beginnen mit der ersten Zeile:
1. „Dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt in der Abfolge der Konzilien eine eigene Stellung zu“
Christoph Theobald hat in seiner großen fundamentaltheologischen Untersuchung „La réception du Concile Vatican II“2 seinen ersten Teil überschrieben: „Qu’est-ce que c’est qu’un concile?“ Seine These lautet: Der Streit um das Zweite Vatikanische Konzil beruht darauf, dass die Identität, das eigene Profil des Konzils nicht erkannt ist. So arbeitet er auf den ersten einhundert Seiten seines Werkes zunächst das unterschiedliche Profil der für Ost und West gemeinsamen Konzilien von Nikaia bis ins 9. Jahrhundert aus, deren Ziel jeweils die Überwindung einer Häresie war und die Wiedergewinnung des consensus antiquitatis sowie des vertikalen und zeitgenössischen Konsensus. Dies ergibt einen anderen Typus von Konzilien als in den mittelalterlichen Generalsynoden, in denen es wesentlich um die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern geht, und zwar in je unterschiedlicher Weise von der cluniazensischen Reform bis zu den Konzilien von Konstanz, Basel, Ferrara-Florenz. Trient und das I. Vatikanum bilden demgegenüber nochmals je eigene Gestalten. Und das Zweite Vatikanische Konzil?
2. „Veranlasst durch die Moderne“
Im Vorwort und in der expositio introductiva in Gaudium et spes (GS 1–3 u. GS 4–10) charakterisieren die Konzilsväter in prägnanter Weise die sachliche Veranlassung des Konzils: „Heute befindet sich das Menschengeschlecht in einer neuen Epoche seiner Geschichte, in der sich tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt für Schritt über den gesamten Erdkreis ausbreiten“ (GS 4,2). In GS 5,1 wird diese Neuprägung so charakterisiert: „Die heutige Unruhe der Herzen und die Veränderung in den Lebensbedingungen sind mit einer umfassenderen Umwandlung der Dinge verbunden (ampliori rerum transmutatione connectuntur), durch die bewirkt wird, dass bei der Ausbildung des Geistes die mathematischen und die Naturwissenschaften bzw. vom Menschen selbst handelnden Wissenschaften in der Ordnung des Handelns oder die aus diesen Wissenschaften hervorgehenden technischen Fertigkeiten ein wachsendes Gewicht erlangen. Dieser wissenschaftliche Geist formt die kulturelle Anschauung und die Denkweisen anders als früher. Die technischen Fertigkeiten schreiten so weit voran, dass sie das Antlitz der Erde umformen. … Auch über die Zeiten weitet der menschliche Geist gewissermaßen seine Herrschaft aus: Über die Vergangenheit mit Hilfe der historischen Erkenntnisse über die Zukunft durch Prognose und Planung. In ihrem Fortschritt verhelfen Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften nicht nur den Menschen zu einer besseren Erkenntnis seiner selbst, sondern sie helfen ihm auch, unter Anwendung technischer Methoden auf das Leben der Gesellschaften unmittelbar Einfluss auszuüben“.
Diese Auswirkungen von Wissenschaft, Forschung, Technik, die damit verbundenen Produktions- und Wirtschaftsformen, die enormen Machtzuwächse verwandeln nicht nur das traditionelle Ethos, sie betreffen ebenso den Glauben und das religiöse Leben. Auf der einen Seite, so konstatiert Gaudium et spes, „läutert das schärfere Urteilsvermögen das religiöse Leben von einem magischen Weltverständnis“. „Andererseits aber entfernen sich breite Volksmassen praktisch von der Religion“ (GS 7).
Es ist erstaunlich, wie genau die Konzilsväter die Situation charakterisiert haben. Sie haben die zahlreichen Systeme vor Augen, in denen Menschen in globaler Weise zu leben beginnen: Wirtschaftssysteme, Bildungssysteme, Rechtssysteme, die Systeme der Arbeit, Gesellschaftssysteme, Staatssysteme, die das Leben der Menschen vermitteln und von Grund auf verändern. Diese Systeme prägen das Leben, weil hier hochkomplexe, aus vielen Teilen und Momenten bestehende Organisationsstrukturen gebildet sind, die mit wissenschaftlichen Begriffen fassbar sind. Mit der traditionellen Ontologie ist diese Realität nicht mehr zu fassen. Was die Konzilsväter nicht zu Stande bringen, ist die philosophisch-begriffliche Analyse dieses radikal veränderten Lebenskontextes. Sie haben nur sehr anfängliche Kenntnisse von Kant, Fichte, Schelling, Hegel,3 von Maréchal und Blondel, von Husserl und Heidegger4. Sie sind weitgehend geprägt von der Neuscholastik und vertraut mit einer Theologie, die ganz selbstverständlich als wissenschaftliches Instrumentar die aristotelischen Begriffe „Wesen“ bzw. „natura“, „Substanz“, „Bewegung“, „Ursache“, „Ziel“ gebrauchte, wobei der Prototyp des Seienden, das analogatum princeps, der natürliche Gegenstand ist. Mit diesem Begriff war seit der griechischen klassischen Philosophie die Vorstellung von einer gestuften Rangfolge der Naturen verbunden. Das formale Prinzip Gott zu denken nach Art der via eminentiae ist von Anselm formuliert worden: Id quo maius cogitari nequit. Und noch bei Descartes wird Gott substantia infinita genannt, Spinoza spricht von Deus sive substantia, und für Leibniz ist Gott die unendliche Monade im Unterschied zu den anderen Monaden.
Die Aneignung des transzendentalen und phänomenologischen Denkens5 wie die Durchdringung des modernen Systemdenkens, die damit verknüpfte gründende Funktion der Freiheit im Bezug auf alle Regelsetzung – nun nicht aus der Sicht der Philosophie – vielmehr aus der Sicht des Glaubens und der Theologie steht noch ganz in den Anfängen. Karl Rahner sucht in seiner Dissertation „Geist in Welt“ im Ausgang von Thomas von Aquin einen Zugang dazu. Die „katholische Heideggerschule“, repräsentiert etwa durch Max Müller, Johannes B. Lotz, Bernhard Welte, Gustav Siewerth,...