Einführung: Was ist Leben?
Was ist Leben? Wodurch unterscheidet sich lebendiges Sein von dem unbelebter Körper? Die Antwort auf diese Fragen fällt verschieden aus, je nachdem, unter welchem Blickwinkel sie gestellt werden. Die biologische Standarddefinition, die sich auf alle Erscheinungsweisen des Lebens von den einfachsten Bakterien bis zum Menschen anwenden lässt, sieht Leben durch Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung (Selbstreproduktion) bestimmt. Voraussetzung dieser drei Grundfunktionen des Lebens ist das Vermögen zur Selbstorganisation, das wiederum an die Fähigkeit zur Informationsspeicherung und ihr materielles Substrat, den Besitz von ein oder zwei DNS-Strängen (Desoxyribonuklein-Säure) gebunden ist. Unter dieser Rücksicht scheint das Leben nichts anderes zu sein, als ein physikalisch-chemischer Prozess oder eine emergente Eigenschaft der Materie, die beim Übergang von der unbelebten Welt zur organischen entstanden ist. Aber wird man der Eigenart und Vielfalt des Lebens gerecht, wenn man es aus Leblosem herleitet und nur als allgemeines Phänomen, als Leben »an sich«, als Durchgangsprozess durch seine bestimmten Formen beschreibt, in denen es dem beobachtenden Blick des Betrachters entgegentritt?
I. Blick von unten: Die biologische Standarddefinition
Eine wissenschaftliche Erklärung des Lebens, die dieses unter reduktionistischer Perspektive als ein physikalisch-chemisches Geschehen beschreibt, das ubiquitär über alle Formen des Lebendigen hinweg Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ermöglicht, erkauft ihre Objektivität durch einen hohen Preis: Sie muss von dem absehen, was das Leben jeweils zu einem Lebendigen, einem individuell geformten Sein macht, dem die rätselhafte Eigenschaft des Lebendig-Seins zukommt. Das Leben als solches lässt sich zwar anhand der genannten biologischen Minimalbestimmungen in seinen Differenzmerkmalen zur unbelebten Welt beschreiben, aber es kommt in dieser biologischen Arbeitsdefinition noch nicht zum Vorschein, wer dieses lebendige Etwas ist, von dem Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ausgesagt werden. Die wissenschaftliche Bestimmung der Eigenschaft »Leben« kann erklären, wodurch sich eine Blume oder eine Pflanze, eine Palme oder ein Frosch von einem unbelebten Ding wie einem Stein oder einem Stück Holz unterscheiden. Aber sie gibt noch keine Auskunft über den jeweiligen Träger dieses so bestimmten Lebens, über das Sub-jektum, dem Leben zukommt.
Die Auskunft, wo immer Leben erscheine, beruhe es auf chemischen Prozessen, die dem Lebewesen Informationsgewinnung- und Verarbeitung ermöglichen, verleitet zudem zu Fehlschlüssen, die eine wichtige Eigenart des Lebendigen verkennen: Das Verhältnis zwischen der Basisinformation, die Leben ermöglicht und den konkreten Erscheinungsformen des Lebens, darf nicht nach der Analogie von Software und Hardware bei einem Computer gedacht werden, die sich beim Gebrauch der Metapher »Information« aufdrängt. Während die Hardware eines Computers jede beliebige Software aufnehmen kann, kennzeichnet es lebendige Körper, dass ihr Lebensprinzip – die antike Naturphilosophie nannte es seit Aristoteles ihre Seele – auf diesen bestimmten Körper bezogen ist. Leben gibt es nicht wie die Materie als noch ungeformten Stoff, als reines Ausgedehntsein, das sich erst nachträglich in seine konkreten Erscheinungsweisen differenziert, sondern Leben ist immer nur in lebendiger Form und als konkrete Gestalt – als diese Pflanze, dieses Tier oder dieser Mensch – gegeben. Die Priorität der Form gegenüber dem Stoff, die alles Lebendige gegenüber der unbelebten Materie auszeichnet, wiederholt sich auf allen Stufen des Lebens. Schon eine Pflanze und erst recht ein Tier sind mehr als nur austauschbare Exemplare ihrer Art oder eine beliebige Durchgangsstelle für den biologischen Gesamtprozess des Lebens. Auf jeder Stufe, bereits auf der untersten des Einzellers, ist Leben nur in der Besonderheit konkreter Form und Gestalt, niemals als ungeformte Kraft oder gestaltlos-sphärische Energie über den konkreten Lebensformen oder durch sie hindurch gegeben.1
II. Die Entstehung des Lebens
Ein anderer Weg, die Eigenart des Lebens zu begreifen, eröffnet sich, wenn wir nach seinen Entstehungsbedingungen fragen. Unseren eigenen Planeten, die Erde, gibt es seit ungefähr 4,5 Milliarden Jahren; die ältesten Spuren des Lebens, die als Gesteinsablagerungen von Pflanzen oder Tieren entdeckt wurden, sind etwa 3,5 Milliarden Jahre alt. Wie kam es dazu, dass Leben auf der Erde entstehen konnte? Wie konnten sich aus den anorganischen Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel Eiweißverbindungen als Trägerstoffe des Lebens entwickeln? Unter welchen Bedingungen führte die chemische Evolution zum spontanen Auftreten des Lebens? Oder ist das Leben gar, wie eine besonders verwegene Theorie annimmt, erst durch einen Meteoriteneinschlag auf die Erde gelangt? Abgesehen von dem spekulativen Charakter dieser Annahme erklärt sie nicht, warum einfaches organisches Leben die notwendigen Bedingungen auf der Erde fand, unter denen es sich weiterentwickeln konnte. Daher verschiebt diese Theorie die Ursprünge des Lebens nur in noch rätselhaftere Weiten des Weltalls, ohne sie selbst zu erklären.
Die moderne Kosmologie, die die Entstehungsgeschichte des Universums seit dem »Urknall« rekonstruiert, kann den Ursprung des Lebens über die einzelnen Stufen der physikalischen, chemischen und biologischen Evolution in umgekehrter Richtung bis auf seine einfachsten materiellen Strukturen zurückführen. Sowohl die Entwicklung des Universums als auch, in diese eingebettet, die Entstehung des Lebens verliefen nach so genannten Naturkonstanten, die den Annahmen des Standardmodells der Weltentstehung zufolge unveränderlich sind. Wären diese Konstanten, zu denen vor allem die gleich bleibende Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, das Massenverhältnis zwischen Elektron und Proton sowie eine so genannte Feinstrukturkonstante gehören, nur um einen geringfügigen Wert von ihrem faktischen Verlauf abgewichen, wäre das Universum in einen gasförmigen Urzustand zurückgesunken, ohne komplexere Erscheinungsformen des Lebens hervorzubringen. Auch die entgegengesetzte Möglichkeit, eine zu rasche Expansion des Universums, hätte dieselben Auswirkungen gehabt und zu einem vorzeitigen Ende der physikalischen Entwicklung geführt. Erst die unwahrscheinliche Summe vielfältiger, höchst kontingenter Gleichförmigkeiten, die aus dem Anfangszustand des Universums in keiner Weise ableitbar sind, schuf den überaus schmalen Korridor, in dem die Evolution des Lebens die erforderlichen Bedingungen für ihren Fortgang fand.
Die grundlegenden Eigenschaften der Materie, die sich in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem »Urknall« gebildet haben müssen, sind in ihrem Zusammenspiel und ihrer Feinabstimmung für alle weiteren physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge verantwortlich, die zur Entstehung organischen Lebens auf Erden führten und schließlich das Auftreten des Menschen ermöglichten. Computer-Simulationen zeigen, dass schon geringfügige Abweichungen im Verhältnis der physikalischen Kräfte zueinander die weitere kosmologische Entwicklung, das Entstehen der chemischen Grundelemente und die biologische Evolution der Organismen, unmöglich gemacht hätten. Die Wärmestrahlung aufgrund des Abstandes unseres Planeten zur Sonne, das Magnetfeld der Erde, das Verhältnis von Wasser- und Landflächen zueinander, die Häufigkeit des Kohlenstoff-Atoms in Relation zu anderen chemischen Elementen – wäre auch nur eine dieser Bedingungen nicht in der gegebenen Weise erfüllt gewesen, hätte die »Kette« der Lebewesen schon in ihren Anfangsgliedern nicht entstehen können. Auf jeder Entwicklungsstufe mussten sich Feinabstimmungen, Wechselwirkungen und Ordnungsstrukturen immer höherer Komplexitätsgrade einstellen und erhalten, damit pflanzliches, tierisches und menschliches Leben auf Erden auftreten konnte.2 Die extreme Unwahrscheinlichkeit des Verlaufs, den die physikalische und chemische Evolution vor der Entstehung des Lebens nahm, lässt dabei völlig offen, ob das Geschehen in irgendeiner Weise zielgerichtet verlief, so dass die Anfangsstufen auf die Ermöglichung der späteren Entwicklung hingeordnet sind. Besagt die verlässliche Feinabstimmung unter den Naturkonstanten lediglich, dass sich Leben nur unter den tatsächlich gegebenen Bedingungen entwickeln konnte, wie eine schwache Deutung des anthropischen Prinzips annimmt? Oder verlief die physikalische und chemische Evolution des Lebens so, wie es tatsächlich der Fall war, damit organisches Leben entstehen konnte, das auf einer höheren Entwicklungsstufe schließlich Bewusstsein, Wille und Geist hervorbrachte?
Diese starke Deutung des anthropischen Prinzips, nach der die gesamte Naturgeschichte auf die Entstehung des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, wird von den meisten Physikern und Biologen wegen ihrer Nähe zu einer teleologischen Weltdeutung abgelehnt. Doch bleibt auch die schwache Variante unbefriedigend, da sie die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens ebenso wenig beseitigt wie die Auskunft, das blinde Zusammenspiel kausaler Mechanismen mit unvorhersehbaren Zufallsfaktoren habe den Menschen hervorgebracht. Lässt sich berechtigterweise noch von einem Würfeln der Evolution sprechen, wenn die Würfel immer wieder so fielen, wie sie von der Zukunft aus gesehen fallen mussten, um diese erklären zu können?3 Wie ist es um den Zufall bestellt, wenn dieser immer zur rechten Zeit und am notwendigen Ort zur Stelle ist? Die Unklarheit der Metapher vom Würfeln des Zufalls und die extreme Unwahrscheinlichkeit, unter der die...