Worum es geht
Noch ein Erziehungsratgeber? Nein! Zumindest keiner der üblichen Art. Vielmehr werden hier Leserinnen und Leser eingeladen, einen Blick zu tun auf das Miteinander in Familien, auf Mütter und Väter und auch Großeltern, wie sie gelernt haben, respektvoll mit ihren Kindern umzugehen. Gleichsam wie Großaufnahmen werden einzelne Szenen dargestellt, wie wir sie alle aus dem Alltag kennen.
Nur dass wir häufig am Ende anders da stehen als diese Familien hier: Streit, Geschrei, Wut, Tränen und schlechte Stimmung haben uns dann wieder eingeholt. Genau das passiert in den hier zusammengetragenen Beispielen nicht.
Dabei sind es ganz normale Eltern und Großeltern aus unserer Zeit und aus unserer Gesellschaft, die uns mit ihren Berichten gewissermaßen Zutritt in das Innere ihrer Familien gewähren: Mütter, die Erwerbstätigkeit und Familie managen; eine Großmutter, die in die Tagesmutterrolle schlüpft; ein allein erziehender Vater; Familienfrauen, die sich eine Zeit lang im Wesentlichen auf die Kinderbetreuung konzentrieren. Nichts ist gestellt, alles direkt aus der Realität gegriffen und von den Beteiligten selbst erzählt.
Wir dürfen Zeugen sein, wie sie die Alltagsherausforderungen mit ihren Kleinkindern, Schulkindern, ja sogar jungen Erwachsenen anders angehen und dadurch ein besseres Klima schaffen. Ein Klima, in dem Eltern wie Kinder sich wohl fühlen und deshalb auch anders miteinander umgehen.
Es ist das Klima der Ermutigung, und es sind die Erwachsenen, die es erst einmal schaffen. Sie haben sich auf den Weg gemacht, die Umsetzung zu üben. Denn ein Klima der Ermutigung kann man nicht einfach per Knopfdruck herstellen: Ermutigung will geübt sein!
Die Berichte zeigen nicht das bestmögliche Verhalten angesichts der jeweiligen Situation, sondern das, was der Mutter, dem Vater oder der Großmutter zu diesem Zeitpunkt möglich war.
Auch die beteiligten Kinder sind ganz ‚normale‘ Kinder: Sie sind Einzel- oder Geschwisterkinder, Zwillinge; haben Erfahrung mit einer Trennung der Eltern; einige leben mit Behinderungen, anderen ist das ADHS-Syndrom bescheinigt; schließlich umspannen sie die Altersphasen vom Spracherwerb bis zum Studium.
Eben diese Normalität aller Beteiligten, so hoffen wir, wirkt wiederum ermutigend auf Sie als Leserinnen und Leser, und löst in Ihnen den Gedanken aus: ‚Wenn andere Eltern diese guten Erfahrungen machen mit ermutigendem Umgang in der Familie, dann schaffe ich das auch!‘
Was ist Ermutigung?
Wenn man die Frage stellt: Wie verhalten sich Menschen, zu denen Kinder sich hingezogen fühlen, von denen sie bereit sind, Neues anzunehmen oder denen sie sich mit ihren Sorgen und Nöten anvertrauen? Dann kommen immer wieder ähnliche Antworten, egal wie viele Leute man fragt. Und zwar:
Das sind Menschen, die
- die Kinder freundlich anschauen
- mit einer freundlichen Stimme mit ihnen sprechen
- Interesse für sie und ihre Interessen haben
- geduldig sind
- ihnen aufmerksam zuhören
- ihre Versuche und Fortschritte anerkennen
- das Gute in ihnen sehen
- freundlich und fest die Richtung bestimmen
- Körpernähe herstellen
- Humor zeigen
- die sicher und überlegt handeln
- ohne zu nörgeln, zu meckern, herum zu kritisieren
- ohne die Kinder zu belehren oder sie zu vergleichen
Genau diese Verhaltensweisen haben die Erwachsenen, die zu diesem Buch beigetragen haben, systematisch geübt, denn sie schaffen ein Klima der Ermutigung.
Ob das wirklich so ist, zeigt sich an der Wirkung.
Denn auf die Wirkung kommt es bei Ermutigung an – nicht auf die Absicht!
Alle Eltern wollen gute Eltern sein. Sie wollen das Beste für Ihr Kind. Auch wenn sie als Erwachsene besserwisserisch auftreten, drohen oder strafen, haben sie gute Absichten: Ihr Kind soll sich an Regeln gewöhnen, seine schulischen Leistungen voranbringen, gutes Sozialverhalten zeigen. Ihre Erfahrung zeigt ihnen aber, dass die Methoden des Schimpfens, Strafens, Belehrens und Drohens langfristig nicht funktionieren.
Was ist das Beste für ein Kind?
„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen:
Wurzeln und Flügel.“
(Goethe zugeschrieben)
Wurzeln wachsen durch die Geborgenheit, das Urvertrauen, die Nestwärme, die Eltern geben, und die das Wachstum und Lernen erst ermöglichen. Zu den Flügeln gehören die Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Leben gut zu meistern. Beiden gemeinsam ist ein gutes Selbstwertgefühl. Die Grundlagen für Wurzeln und Flügel legen erst mal die Eltern und die Menschen, die den Kindern am nächsten sind. Wurzeln geben die Beziehungsqualitäten, die die Eltern im Buch geübt haben. Flügel wachsen den Kindern durch die Instrumente der individualpsychologischen Kindererziehung, die die Eltern anwenden.
Zu den Wurzeln des Kindes gehört das tief empfundene Gefühl: So wie ich bin, bin ich gut genug. Ich bin hier in der Familie angenommen, so wie ich bin. Ich habe meinen Platz. Ich gehöre dazu und bin wichtig, auch wenn ich Fehler mache, auch wenn ich mich durch ein Verhalten mal schuldig mache. Dann muss ich mein Verhalten ändern, aber als Person bin ich trotzdem wertvoll und liebenswert. Dieses feste Vertrauen darf ich haben und werde darin nicht enttäuscht.
Deshalb können wir auch anders formulieren:
Ermutigen bedeutet, das Zugehörigkeitsgefühl eines Kindes zu stärken.
Jedes Kind möchte sich zugehörig fühlen
Mutter schneidet sich die Zehennägel, die zweijährige Susanne schaut interessiert zu. Mutter schimpft vor sich hin: „Wenn das so weiter geht, brauche ich eine Zange.“ Susanne verschwindet und bringt Mutter die Würstchenzange aus der Küche.
Mutter hängt im Garten Wäsche auf. Der zweijährige Valentin reicht ihr die Stücke. „Nein, das nicht, das gehört in den Trockner“, sagt Mutter. Sie merkt kaum, dass Valentin verschwindet. Als sie fertig ist, liegt das Stück im Trockner.
(Eltern berichten)
Wir Menschen sind soziale Wesen und brauchen andere Menschen. Deshalb ist das ‚Gemeinschaftsgefühl‘ (Adler) eine angeborene Fähigkeit, die es aber zu entwickeln gilt. Das geschieht am besten, wenn Kinder sich zugehörig fühlen und auf gute Art beitragen können.
Valentin und Susanne fühlen sich zugehörig und machen mit. Alle Kinder möchten sich zugehörig fühlen, wichtig sein, ihren Platz haben in der Familie, der Kindergartengruppe, der Schulklasse. Sie denken mit, und helfen mit – wenn sie dürfen! Leider geht das manchmal schief.
Das Baby schläft im Kinderzimmer. Der zweijährige Jens spielt mit seinen Autos. Mutter, in der Küche, hört das Baby schreien und schaut nach. Die Autos liegen im Bettchen, das Baby hat eine Schramme im Gesicht.
Eine kritische Situation. Was hat der ‚große‘ Bruder gemacht? Das Baby, das ihn störte, mit Autos beworfen? Oder dem Baby, das sich langweilte, Autos zum Spielen gereicht? Die Reaktion der Mutter wird Weichen stellen. Nimmt sie das Gute an, erklärt dem ‚großen‘ Jens, dass das Baby zu klein ist für die Autos, und macht die Sache nicht so wichtig, lässt ihn aber beim Wickeln und Eincremen mitmachen, wird sich ‚der Große‘ als Helfer fühlen. Sein durch die Geburt des Babys verunsichertes Zugehörigkeitsgefühl wird sich langsam wieder herstellen.
Wird Mutter schimpfen und strafen, das ‚Vergehen‘ wichtig machen, wird der ‚Große‘ lernen, dass er Aufmerksamkeit erhält, und Zuwendung erfährt, wenn er das Baby zum Weinen bringt. Auch wenn Mutter schimpft, ist das für ihn besser als übersehen zu werden. Sein positives Beitragen wird sich in negatives wandeln. Gerade Erstgeborene, auf die sich die Aufmerksamkeit der ganzen Familie zu konzentrieren pflegte, fühlen sich aus dem Gleichgewicht geworfen, wenn das zweite Kind geboren wird. Die Kronprinzen und -prinzessinnen sind entthront. Das ist schwer zu verarbeiten.
Wir sehen: Eltern haben einen großen Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Kinder sind nicht wie CD-Rohlinge, die wir einmal brennen, oder Münzen, die geprägt werden. Sie entwickeln sich, indem sie auf die Erwachsenen reagieren – und die Erwachsenen reagieren auf das Verhalten der Kinder. In dieser ständigen Wechselbeziehung finden Entwicklung und Wachstum statt.
Sehr oft können Eltern nichts dafür, dass Kinder das Zugehörigkeitsgefühl verlieren! Niemand ist schuld, wenn die Mutter krank wird, und das Kind von einer Aushilfe betreut werden muss. Niemand ist schuld, wenn ein Baby geboren wird und das ältere Kind sich zurückgesetzt fühlt. Niemand ist schuld, wenn unsere Kinder sich durch Umzug, Schulwechsel, Tod in der Familie, Arbeitslosigkeit, Wegzug von Freunden, Trennung der Eltern, also das ganz normale Leben, verunsichert und nicht mehr zugehörig fühlen. Den Erwachsenen geht es ja auch so. Auch sie fühlen sich verunsichert,...