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E-Book

Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen

Meine Geschichte der deutschen Einheit

AutorLothar de Maizière
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl340 Seiten
ISBN9783451336096
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Lothar de Maizière der erste frei gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR, erzählt nach zwanzig Jahren erstmals ausführlich, offen und sehr persönlich von den Monaten im Jahr 1990, in denen er Weltgeschichte schrieb. Er berichtet von den dramatischen Ereignissen der Wendemonate, bewertet sein Verhältnis zu anderen großen Protagonisten der Zeit wie Helmut Kohl, Margret Thatcher, George Bush und Michail Gorbatschow und er erzählt von den ersten Monaten im politischen Zentrum eines wiedervereinigten Deutschland. Lothar de Mazières Bericht korrigiert viele Missverständnisse, Mythen und Irrtümer über die aufregendste und wichtigste Phase der europäischen Nachkriegsgeschichte. Sein Buch ist daher nicht nur von bedeutendem historischen Wert - voller vielfach unbekannter Fakten , sondern auch von großer aktueller Bedeutung.

Lothar de Maizière, geb. 1940, vom 12. April bis 2. Oktober 1990 der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR. Rückzug aus der Politik im Oktober 1991. Seitdem arbeitet er in seiner Anwaltskanzlei in Berlin, mit Spezialisierung auf Fragen zur Wiedervereinigung.

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Leseprobe

Bis zum Mauerfall:
Das lange Ende der DDR


IMMER WIEDER WIRD die Frage gestellt, wann denn wohl der Beginn der friedlichen Revolution in der DDR war. Dies lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Vielmehr muss man versuchen, dies einzuordnen in die Geschichte der DDR, in der es immer wieder Zeiten gab, in denen die Kritik und die Auflehnung gegen das System heftiger waren als in anderen Phasen. Vom 9. bis zum 12. Juli 1952 fand in Berlin die 2. SED-Parteikonferenz statt, auf der beschlossen wurde, in der DDR den Sozialismus zu errichten. Dazu sei es notwendig, so führte man aus, das Prinzip des demokratischen Zentralismus im Lande durchzusetzen. Dieses Prinzip beinhaltete, dass alle Entscheidungsfunktionen in einem einzigen Machtzentrum, dem Politbüro des Zentralkomitees der SED, zusammengefasst wurden und alle nachgeordneten Einrichtungen zu reinen Befehlsempfängern degradiert wurden.

Eine willfährige Volkskammer beschloss bereits am 23. Juli 1952 ein Gesetz mit dem Titel „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik“. Mit diesem Gesetz wurde die Länderstruktur in der DDR – so wie sie in der Nachkriegsordnung entstanden war und so wie sie in der Verfassung vom 7. Oktober 1949 festgeschrieben war – aufgelöst, und das Land wurde in 15 Verwaltungsbezirke eingeteilt. Gleichzeitig wurde die auf den Stein-Hardenbergschen Reformen beruhende kommunale Selbstverwaltung zerschlagen und die Kommunen ebenfalls zu Befehlsempfängern degradiert.

Diese 2. SED-Parteikonferenz und die daran anschließenden Restriktionen bis hin zu eklatanten Normerhöhungen führten dazu, dass das SED-Regime in inhaltliche Kritik geriet. Die Führung wurde nach Moskau berufen und zur Mäßigung ermahnt, dennoch kam es zu den Normerhöhungen, die dann zu dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führten. Was zunächst wie ein reiner Tarifstreik aussah, wuchs sich aus zu einem Widerstand des gesamten Volkes. Erstmalig wurden Forderungen nach freien Wahlen und nach der Herstellung der Einheit Deutschlands erhoben. Wir wissen, wie dies endete. Über Jahrzehnte hinweg wurde dieser mutige Volksaufstand, der vielen Menschen das Leben und die Freiheit kostete, als Konterrevolution bezeichnet, als vom Westen initiiertes Machwerk, der wahre Volkswillen wurde negiert. Ich erinnere mich persönlich, wie ich als Schüler hinter dem Protestzug am 17. Juni mitgelaufen bin, von Treptow bis zum Alexanderplatz. Dort waren die Straßen schon aufgebrochen und die Pflastersteine flogen in Richtung Polizei. Ich hab einfach mitgemacht, doch ich zielte nicht weit genug und traf die eigenen Leute. So richtig politisch war das noch nicht. Schnell haben die Älteren mich nach hinten gedrängt, aus der Gefahrenzone weg, da durfte ich nur noch Steine anreichen. Dann bin ich nach Hause gegangen. Unterwegs im Park Schlesischer Busch, an der Grenze zum westlichen Neukölln, fand ich die Uniform eines Volkspolizisten. Die hatte ein Beamter wohl überstürzt ausgezogen und weggeworfen, bevor er in den Westen floh. Ich nahm sie mit nach Hause zum großen Ärger meines Vaters. Der hat sie dann nachts im Treptower Park entsorgt. Auch deswegen war ich am 17. Juni 1990 so bewegt, als wir als freie DDR-Regierung erstmalig im Schinkelschen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin eine Feierstunde anlässlich dieses Tages durchführen konnten. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 haben die Menschen in der DDR über Jahre, wenn nicht über Jahrzehnte hinweg tief traumatisiert, zumal sie erleben mussten, wie gleichartige Bestrebungen 1956 in Ungarn oder 1968 in Prag erfolglos blieben. Gerade meine Generation hat 1968 mit besonderer Aufmerksamkeit die Vorgänge in der Tschechoslowakei verfolgt. Wir alle in der DDR, so auch ich, waren mit einer gewissen Kapitalismuskritik groß geworden. Wir glaubten oder hofften, dass es einen dritten Weg geben müsse, zwischen dem ineffektiven, administrativen, planwirtschaftlichen System und einer freien Marktwirtschaft, die, wie wir glaubten, im Westen vorherrschte. Die Ideen des tschechischen Reformers Ota Sik haben uns sehr begeistert und gefangen gehalten. Am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin befand sich der Tschechische Pavillon. In dem Notbau wurden Produkte aus der Tschechoslowakischen Republik verkauft, Schallplatten von der Firma Supraphon, Bücher des Prager Artiaverlages und Ähnliches mehr. Ab Frühjahr 1968 erschien jeden Morgen die „Prager Volkszeitung“, eine deutschsprachige Zeitung, in der die Theorien von Ota Sik ausgebreitet wurden. Diese Zeitung konnte dort kostenlos bezogen werden, solange der Vorrat reichte. Jeden Morgen bin ich deswegen zum Bahnhof Friedrichstraße gefahren, um ein Exemplar zu ergattern. Umso entsetzter war ich, als sich die Sache im Sommer 1968 zuspitzte. Ich erinnere mich noch, wie Alexander Dubcek in die Sowjetunion einbestellt wurde und wir alle fürchteten, dass er nicht zurückkehren würde. Das Ende des Prager Frühlings, der eben nur bis zum Sommer gereicht hatte und der den Namen von einem alljährlich in Prag stattfindenden Musikfestival übernommen hatte, hat uns alle tief betroffen gemacht.

Damals traten sogar SED-Genossen aus der Partei aus, um einen anderen Weg zu suchen. Auch für mich war dieses Ereignis von einschneidender Bedeutung, zumal ich mich gerade neu orientierte. Meinen geliebten Musikerberuf musste ich aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Ich hatte mich entschlossen, der Familientradition folgend, ein Jura-Fernstudium an der Humboldt Universität Berlin zu beginnen. Seit die de Maizières sich in Berlin als verfolgte Hugenotten niedergelassen hatten, waren sie Juristen geworden. Mein Vater, Clemens de Maizière, war dann in der DDR einer der wenigen Anwälte, die nicht in der SED waren, sondern Mitglied der CDU. Den Jura-Studienplatz bekam ich, weil man in der Führung der CDU wollte, dass ich seine Stelle einnähme. Später war ich dann tatsächlich auch, nach dem Tod meines Vaters, der einzige CDU-Anwalt in der Hauptstadt der DDR. In den 70er Jahren gründete sich die Charta 77 in der Tschechoslowakei, und neue Hoffnungen kamen mit dem Entstehen der Solidarnosc in Polen auf. Die Tatsache, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Wahl von Karol Wojty?a zum Papst und der Entstehung der Solidarnosc-Bewegung, war augenfällig. Die Haltung des Westens bei dieser wie bei allen früheren Freiheitsbewegungen, aber auch bei dem Bau der Berliner Mauer 1961 war die, dass ihnen offensichtlich die Aufrechterhaltung des Status quo wichtiger war als eine wirksame oder zumindest starke moralische Unterstützung dessen, was dort in den östlichen europäischen Ländern passierte. Die Proteste des Westens gegen Repressalien wurden von uns zunehmend mehr als Lippenbekenntnisse denn als echte Empörung und echte Solidarität mit den Protestierenden verstanden. Vielleicht war es auch diese Haltung des Westens, die uns immer mehr zu der Überzeugung gelangen ließ, dass eine Systemüberwindung nicht möglich sei, sondern dass wir geduldig auf Veränderungen innerhalb des Systems, auf Reformen setzen und hoffen müssten.

Anfang der 80er Jahre hatten ich und mit mir viele andere das Gefühl, dass der Boden zu schwanken anfing, dass das Eis, auf dem wir standen, brüchig wurde, dass es so auf keinen Fall weitergehen könne. Über diese Tatsache waren wir uns alle einig, wussten aber keinen Ausweg. Das Gefühl der Resignation, so wie es sich nach dem Mauerbau 1961 ergeben hatte, wurde wieder übermächtig und führte dazu, dass sich immer mehr Menschen in der DDR innerlich vom Staat verabschiedeten. Mit dem Beginn der 80er Jahre begann auch das Bestreben vieler Menschen, die DDR auf legalem Wege zu verlassen, das heißt diese Menschen stellten Ausreiseanträge, gestützt auf die entsprechende UNO-Konvention vom 1966, der die DDR beigetreten war, deren Forderungen sie aber nie in binnenstaatliches Recht transformiert hatte.

1984 hat die DDR kurz entschlossen rund 20.000 Ausreiseantragsteller aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen. Das Regime hatte damit wohl offensichtlich die Hoffnung verbunden, dass die Nörgler so verschwinden würden und man nunmehr wieder Ruhe hätte. Das Gegenteil trat ein. Die Tatsache, dass man Menschen entlassen hatte, führte dazu, dass erneut andere solche Anträge stellten. Zeitgleich begannen aber Gruppen von Menschen, die in der DDR bleiben wollten, die dieses Land verändern wollten, aktiv zu werden. Sie stellten Fragen nach dem Zustand der Wirtschaft, Fragen nach dem Zustand der Umwelt, nach Gerechtigkeit. In den Kirchen wurde diskutiert über das, was man den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung von Gottes Schöpfung genannt hat.

Wir waren es in der DDR gewohnt, nach Moskau zu schauen, wenn wir Fragen an die Zukunft stellten. In Moskau residierte seit ewigen Zeiten Leonid Breschnew. Er wurde abgelöst von Andropow, einem Geheimdienstmann, der aber nur kurz regierte. Ihm folgte Tschernenko, ebenfalls ein Greis, der kaum handlungsfähig wirkte. Umso befreiter waren wir, als bei dem März-Plenum 1985, genau am 11. März 1985, Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU gewählt wurde. Erstmalig war ein „junger“ Mann – ein Mann in den Fünfzigern, ein Mann, den man im Westen schon kannte, der redegewandt, der ideensprühend war – an die Spitze der Bewegung gestellt worden. Seine Worte „Glasnost“ und „Perestroika“ waren für uns reine Zauberworte, versprachen sie doch Transparenz der Gesellschaft und einen...

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