Fasten ist fest in unserer Kultur verankert
Auch bei uns ist regelmäßige Nahrungskarenz seit Jahrhunderten traditionell verankert. In allen Weltreligionen wird gefastet. Fasten gilt als Zeit der Einkehr und Besinnung und ist durch den freiwilligen Verzicht ein Ausdruck von Glauben und Demut. Zudem werden die Sinne geschärft, der Körper wird in einen wachen, klaren und euphorischen Zustand versetzt. Das ist evolutionär bedeutungsvoll, denn so entgehen einem die unter dem Gras versteckten Pilze genauso wenig wie der Geruch des Wildes, das hinter einem Busch versteckt grast. Anders formuliert: Mit allen Sinnen lässt sich erfolgreicher Nahrung sammeln und erjagen.
Im Christentum wird 40 Tage ab Aschermittwoch bis Ostern gefastet, die Sonntage nicht mitgezählt. Jesus wurde am Ende seiner Fastenzeit in Versuchung geführt, ließ sich aber nicht beirren. Als der Teufel ihm zuraunte: »Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden«, konterte er: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« (Matthäusevangelium). Griechisch-orthodoxe Christen fasten 180 bis 200 Tage im Jahr, zu unterschiedlichen Zeiten. Sie praktizieren ein Teilfasten, bei dem vor allem auf Fleisch verzichtet wird. Im Judentum wird je 25 Stunden vor den Feiertagen Purim und Pessach sowie an Jom Kippur gefastet. Auch der Prophet Mohammed fastete. Dazu und zur Meditation zog er sich regelmäßig auf den Berg Hira zurück, auf dem er 610 n. Chr. das erste Offenbarungserlebnis hatte. Im Monat Ramadan, dem neunten Monat des islamischen Mondkalenders, erhielt Mohammed dort den Koran. Viele der 1,6 Milliarden Muslime auf der Welt fasten darum heute im Ramadan und verzichten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf Essen und Trinken. Die Sadhus, hinduistische Gurus, sind lebenslang in Askese, und im Buddhismus fasten viele zu Vesakh, dem höchsten buddhistischen Feiertag. In der Theravada-Tradition des Buddhismus ist Intervallfasten üblich, es wird dann nur einmal am Tag gegessen, und zwar in der späten Morgenzeit bis zum Mittag.
Effekte des Fastens wurden auch für kriegerische Zwecke genutzt. In der Antike hielten Spartaner und Perser ihre Soldaten dadurch wehrfähig. Im Alten Testament wird beschrieben, wie die Makkabäer, jüdische Aufständische, drei Tage lang hungerten, bevor sie gegen König Antiochus in den Kampf zogen. Und der deutsche Kaiser Otto I. verweigerte seinem Heer vor der entscheidenden Schlacht gegen die Ungarn das Essen.
Die heilsame Wirkung des Fastens –
von der Antike bis heute
Der antike griechische Schriftsteller Plutarch (um 45 bis um 125 n. Chr.) war ebenfalls vom Fasten überzeugt. Er empfahl: »Statt Medizin zu nehmen, faste heute lieber.« Ähnliche Zitate sind von Platon und seinem Schüler Aristoteles überliefert. Grundsätzlich verwundert es nicht, dass das Fasten in seiner religiösen Tradition, aber auch in seinem philosophischen Kontext lobend und positiv erwähnt wird. Wie gesagt, der Verzicht auf Nahrung steigert die Wachheit, die Aufmerksamkeit und die Sinne.
Spätere Literaten machten sich auf ihre Weise Gedanken zum Fasten. Mark Twain formulierte: »Etwas Hunger kann für den Kranken tatsächlich mehr tun als die besten Arzneien und Ärzte.« Und für seinen amerikanischen Kollegen Upton Sinclair war das Fasten eine persönliche Rettung. Er widmete seinen positiven Fastenerfahrungen sogar ein ganzes Buch. Seine Gesundheit war durch den Stress einer jahrelangen intensiven Recherche und Arbeit an seinem Buch Der Dschungel, einem Enthüllungsbuch über die schrecklichen Zustände in den Schlachthöfen von Chicago, stark angeschlagen. Medizinische Behandlungen brachten keine Besserung, lange Fastenkuren hingegen schon. Im Jahr 1911 veröffentlichte er seine Fastenerfahrung in The Fasting Cure. Er blieb ein Fan des Fastens bis zu seinem Tod mit 90 Jahren. Zu dieser Zeit gab es bereits einige Fastenärzte, die als Pioniere viele Patienten behandelten und über ihre eindrucksvollen Erfolge berichteten. Der britische und in die Staaten übergesiedelte Arzt Henry S. Tanner (1831–1918) machte seine erste Fastenerfahrung 1877 (er fastete 40 Tage), etwa zur gleichen Zeit dokumentierte der US-amerikanische Fastenarzt Edward H. Dewey (1837–1904) seine Fastenheilerfolge.
Aber erst moderne Forschung und Molekularbiologie konnten die Effekte des Fastens wissenschaftlich nachweisen. In den folgenden Kapiteln werde ich die eindrucksvolle therapeutische Wirkung von Fasten und kalorischer Restriktion bei vielen chronischen Erkrankungen vorstellen. Das betrifft sowohl die Therapie als auch die Prävention. Die Forschungen auf diesem Gebiet haben dem Fasten inzwischen zu neuer Popularität verholfen. Laut einer Forsa-Umfrage von 2017 erfreut sich Fasten auch hierzulande wieder zunehmender Beliebtheit, innerhalb von fünf Jahren ist die Zahl derjenigen, die ab Aschermittwoch fasten, von 15 auf 59 Prozent gestiegen.
Der Gerontologe Valter Longo von der University of Southern California wurde 2018 vom Time Magazine aufgrund seiner Fastenforschungen unter die 50 einflussreichsten Menschen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge (health care) gewählt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten zum Fasten sind bahnbrechend, und ich bin froh, dass wir inzwischen bei einigen wissenschaftlichen Projekten eng zusammenarbeiten.
Inzwischen geht es vor allem um die Frage, wie gefastet werden sollte und gar nicht mehr darum, ob Fasten gesund ist – das ist längst hinreichend erwiesen! In meinem großen Fasten-Kapitel erfahren Sie, wie und mit welchen Erfolgschancen mit dieser Therapiemethode Krankheiten zu bekämpfen oder vorzubeugen sind (siehe S. 168ff.).
Natürlich wünsche ich niemandem, dass er unfreiwillig hungern muss, doch wir alle tun gut daran, uns aus gesundheitlichen Gründen das Hungergefühl regelmäßig aus eigener Entscheidung zurückzuholen.
Unsere heutigen Ernährungsgewohnheiten sind regelrecht entgleist. Studien zeigen, dass die meisten Menschen bis zu zehnmal am Tag etwas essen. Ein richtiges Hungergefühl kennt fast niemand mehr, Kalorien werden nicht nur zu den Mahlzeiten, sondern auch fortwährend zwischendurch eingenommen, kontinuierlich sozusagen.
Aber es geht nicht nur um die Menge. Wir Menschen genießen gern, und gab es noch vor Hunderten von Jahren nur die Süße der reifen Früchte oder selten einmal mit Honig Gesüßtes, so werden wir heute von der Lebensmittelindustrie mit Zucker überschüttet. Kaum ein Produkt enthält keinen Zucker.
Darum ist es neben dem Fleisch vor allem der Zucker, der unsere gesunden traditionellen Ernährungsformen mittlerweile konterkariert. Die »Kreta-Diät« war die Urform der gesunden Mittelmeerdiät (siehe S. 48ff.). 2017 war ich auf Kreta und konnte feststellen, dass es fast nirgendwo mehr das klassische Vollkornfladenbrot gibt, sondern nur noch leicht gesüßtes Weißbrot und enorme Mengen Süßes. Da wundert es nicht, dass in Griechenland heute mehr übergewichtige Menschen leben und die Herzinfarktraten höher sind als in anderen europäischen Ländern. Es ist das mediterrane Paradox: Die »Erfinder« der gesündesten Ernährungsform sind mittlerweile die Menschen, die übergewichtig und krank sind!
Noch nie standen uns frisches Obst, Gemüse und Gewürze in einer solchen Fülle zur Verfügung – und zwar das ganze Jahr über. Allerdings hat der Transport von Lebensmitteln rund um den Globus dazu geführt, dass wir nicht mehr saisonal und regional essen. Beides ist für unser Mikrobiom, unseren Darm wahrscheinlich von Nachteil (siehe S. 31ff.) und man nimmt an, auch für unsere Gene.
Abgesehen davon, dass wir instinktiv spüren, wie unnatürlich es ist, im Dezember Erdbeeren, Tomaten und Melonen im Supermarkt vorzufinden. Wirklich gut schmeckt die importierte Ware dann auch selten, und der Vitamin- und Nährstoffgehalt ist durch den abgebrochenen Reifungsprozess, wenn die Waren oft noch »grün« in die Container gelangen, sowieso fragwürdig.
Mein Tipp: Berücksichtigen Sie grundsätzlich, zu welcher Jahreszeit und zu welchem regionalen Gericht importiertes Gemüse oder Obst passen könnten. Ist das nicht der Fall, verzichten Sie besser auf das Überseeangebot!
Ein kluger Schutzmechanismus der Evolution
Übelkeit in der Schwangerschaft ist ein Mechanismus, der im Lauf der Evolution entstanden ist, um den Embryo vor Giften zu schützen. Schwangere reagieren stark auf Gerüche, auf einen bitteren Geschmack sowie auf tierische Produkte und treffen dadurch eine gesunde Nahrungsauswahl für ihr Ungeborenes. Oder verzichten »freiwillig« auf potenziell Schädigendes.
So erklärt man sich, dass Schwangere gerade auf Fleisch, Fisch und Eier mit Abneigung reagieren, denn tierische Produkte waren von jeher eine Parasitenquelle. Eine Untersuchung von 27 unterschiedlichen traditionellen Gemeinschaften weltweit zeigte, dass in 20 von ihnen Schwangerschaftsübelkeit auftrat, in sieben jedoch nicht. Deren Bewohner ernährten sich überwiegend vegetarisch, vor allem von Mais. Übelkeit ist also ein evolutionärer Schutzmechanismus, auch bei Nichtschwangeren.
Dieser Schutzmechanismus wird von modernen Lebensmitteln oft überdeckt durch Zusatzstoffe (Zucker oder auch Salz). Ohne diese »Vernebler« würden wir uns viele moderne Krankheiten und damit viel Leid ersparen. Limonade ohne Zucker aber würde niemand mehr trinken, Süßigkeiten ohne Zucker verlören ihren Reiz, Fertigsoßen ohne Geschmacksverstärker...