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E-Book

Erstlesen mit gehörlosen Kindern

AutorKatrin Merten
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783640477388
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 2,3, Universität zu Köln (Seminar füe Hör-und Sprachgeschädigtenpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Der Erwerb des Lesens bei gehörlosen Kindern erscheint sehr rätselhaft. Während den meisten gehörlosen Kindern das Lesenlernen relativ schwerfällt, erreichen einige gehörlose Kinder scheinbar mühelos ein altersgemäßes Leseniveau. So berichtet die gehörlose Autorin Dorothea Böhme in ihrer Lesebiographie, wie sie bereits ein Jahr vor ihrer Einschulung lesen lernte, indem sie sich in den Klassenraum der Schulanfänger schlich und den Unterricht von der hintersten Bank aus verfolgte (Böhme 2003). Da das Lesen gerade für Gehörlose u.a. von zentraler Bedeutung zur Kompensation der durch ihre Hörbehinderung bedingten Sprachbarrieren ist, soll hier versucht werden zu ergründen, warum einige gehörlose Kinder so leicht lesen lernen, während ihre Klassenkameraden trotz großer Anstrengungen scheitern. Vermutlich haben gehörlose Kinder ein viel größeres Potential das Lesen zu erlernen als bisher angenommen wurde. Aber wie erlernen gehörlose Kinder überhaupt das Lesen ohne Lautsprache und wie kann davon ausgehend das Lesen angebahnt werden? Zur Beantwortung dieser Fragen werden im ersten Teil der Arbeit zunächst die Gründe für Lernschwierigkeiten beschrieben und analysiert. Nach einer Betrachtung der Unterschiede hörender und gehörloser Kinder wird untersucht, welche Hilfen sich eignen, um den Kindern zur jeweils höheren Leseentwicklungsstufe zu verhelfen. Außerdem wird im zweiten Teil der Arbeit die Eignung der - ausgehend von den Entwicklungsmodellen der Schriftsprache - entwickelten didaktischen Konzepte zum Lesenlernen vor allem hinsichtlich der spezifischen Lernvoraussetzungen gehörloser Schüler untersucht. Dabei soll vor allem auf die Kontroversen zwischen Fibelanhängern und -gegnern und den Anhängern von oralen und bilingualen Leselernkonzepten eingegangen werden. Ausgehend von den gewonnenen Kenntnissen über spezifische Leseschwierigkeiten und den Verlauf der Leseentwicklung werden im dritten Teil die für diese Konzepte entwickelten Fibeln, Spiele und Lernprogramme dargestellt und beurteilt. Im abschließenden Fazit wird noch einmal über die gewonnenen Erkenntnisse für die Erstlesedidaktik reflektiert.

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Leseprobe

3 Entwicklung des Lesens

 

3.1 Die Leseentwicklung bei hörenden Kindern

 

3.1.1 Das Sechsstufenmodell von Frith

 

Im Frühjahr 1984 stellte Frith vor der Studiengruppe „Geschriebene Sprache“ bei der Reimers Stiftung in Bad Homburg ein sechsstufiges Modell des Schriftspracherwerbs vor, das dort sofort regen Anklang fand. Friths Entwicklungsmodell, das auf dem Modell von Marsh u.a. von 1980 (Marsh 1980) beruht, wird in dieser Arbeit besprochen, weil es u.a. als Grundlage für Günthers und Scheerer-Neumanns Modelle des Schriftspracherwerbs diente. Außerdem wird es vielfach als Rahmenmodell für Untersuchungen zur Schriftspracherwerbsforschung (u.a. Brügelmann, Scheerer-Neumann, Kretschmann 1986) und als Grundlage für die Diagnose von Lese-Rechtschreibschwächen genutzt. Die in dieser Arbeit beschriebenen Modelle von Valtin und Brügelmann enthalten ebenfalls Elemente von den Modellen von Günther und Frith. Diese beiden Modelle der Entwicklung der Schriftsprache sind vermutlich die meistzitiertesten Modelle des Schriftspracherwerbs.

 

Die Kognitionspsychologin zeigt in ihrem 1985 veröffentlichten einfach strukturierten Modell wie sich die Leseanfänger schrittweise mit den Regeln der Schriftsprache auseinandersetzen. Dabei wird jeweils eine andere dominierende Strategie benutzt, die abwechselnd zuerst beim Lesen oder beim Schreiben angewandt wird (vgl. Pfeile in Abb.1). Die Sichtweise des Kindes als eigenständiger Entdecker der Schriftsprache war Mitte der 80er Jahre noch sehr neu:

 

„Die Leseforschung davor hat auch den Leseprozess bei Kindern untersucht, aber vorrangig im Hinblick auf das noch nicht Entwickelte: von Interesse war v.a. die Diskrepanz zum Leseprozess des Erwachsenen.“ (Scheerer-Neumann, 1998, 33)

 

Allerdings wurden viele der dem Sechsstufenmodell zu Grunde liegenden Thesen auch schon vor dem Aufkommen des Modells diskutiert.

 

So gingen Ganzheitstheoretiker bereits davon aus, dass der Leseerwerb mit einer ganzheitlich orientierten, visuellen Erwerbsphase beginnt und bald darauf durch „eine lautorientierte Phase“ (Scheerer-Neumann, 1998, 34) abgelöst wird.

 

Frith griff diese Beobachtungen auf, fasste sie auf übersichtliche Art und Weise zusammen und erweiterte sie durch eigene Thesen und Beobachtungen.

 

 

Abb. 3: Sechsstufenmodell

 

(aus Frith 1986, 219)

 

Die visuell-orientierte erste Erwerbsphase benennt Frith als „logographische“ Erwerbsphase. Der Terminus „logographisch“ leitet sich von dem Wort „Logographie“ (Bilderschrift) ab. In dieser Phase werden die Wörter demnach wie in so genannten „logographischen“ Sprachen (z.B. Chinesisch) durch bestimmte „Logogramme“ (bedeutungstragende Bildzeichen) direkt und „ohne phonologische Umcodierung“ (Brügelmann, Scheerer-Neumann, Kretschmann, 1986, 93) erkannt. Die Wörter werden also anhand spezifischer, visueller Merkmale erraten.

 

Derartige „logographische“ Merkmale können nach Frith auffällige Buchstaben, (z.B. das „x“ in Taxi), Buchstabenkombinationen (z.B. das doppelte „t“ in „Mutter“, da es wie zwei Kreuze wirkt) oder andere visuelle Merkmale (i-Punkt bei „Omi“ oder die Wortlänge u.ä.) sein (Beispiele aus Scheerer-Neumann 1998). Dabei schließen die Kinder, laut Frith, anhand des erkannten Bildzeichens blitzartig auf das ganze Wort (Frith 1985). So kommt es zwangsläufig zu Fehlinterpretationen, da z.B. auch andere Wörter mit einem i-Punkt mit der Bedeutung „Omi“ belegt werden (Scheerer-Neumann 1998). Zunehmend werden dabei auch Buchstaben nicht nur als Bildzeichengesehen, sondern auch benannt und erkannt (L2). Schließlich wird auch versucht die Wörter aus dem Gedächtnis aufzuschreiben, was nur schwer gelingt, da sich die Kinder nur wenige Merkmale gemerkt haben.

 

Daher erfolgt ein Wechsel zur „alphabetischen“ Strategie, da das Aufschreiben der Wörter hierbei leichter fällt (u.a. Frith 1985, Günther, K.-B. 1995 u. Günther, Herbert 1995). Mit Schreiben auf dem „alphabetischen“ Prinzip meint Frith, dass Laute sukzessiv in Buchstaben übersetzt werden. „Dazu muss das Kind lernen den Sprechstrom in kleine Einheiten zu zerlegen, also ein Lautkonzept zu erwerben, auf dem unsere Lautschrift basiert.“ (Barth u.a. 2000, 7). Gleichzeitig wird auf dieser zweiten Erwerbsphase beim Lesen noch die „logographemische“ Strategie verwendet. Erst, wenn die Anwendung der Phonem-Graphem-Korrespondenzregel (siehe Kap. 2) auf der produktiven Ebene eine Weile geübt wurde (Stufe A2), wird die Anwendung der „alphabetischen“ Strategie auch beim Lesen versucht. Dieses Lautieren ist aber für den Lesanfänger noch sehr mühsam und auch der Sinn des Gelesenen wird nur schwer erschlossen (u.a. Frith 1985; Günther, K.-B. 2001a; Reichen 2001). Schwierig ist dabei, laut Barth, dass die Laute nicht nur gemerkt werden müssen, sondern bei der Lautsynthese eines Wortes die bisherige Lautfolge so lange im Kurzeitgedächtnis gespeichert bleiben muss, bis das gesamte Wort erlesen wurde (Barth 2000).

 

Daher findet beim Lesen (Stufe O1) schon bald ein Wechsel zur „orthographischen“ Strategie statt und damit wird die dritte Phase des Schriftspracherwerbs erreicht. Diese Strategie bezieht sich auf die automatische Analyse von Wörtern in orthographische Einheiten ohne Umweg über phonologische Codierung. Die Einheiten kann man sich als Morpheme vorstellen oder „als häufig gebrauchte Buchstabensequenzen“ (Frith 1985, 6). Dabei fällt die Anwendung der orthographischen Regeln zunehmend leichter und wird schließlich auch beim Schreiben verwendet (Stufe O2).

 

Scheerer-Neumann sieht den Hauptgrund für den Erfolg des Modells darin, dass die bisher aufgestellten Thesen über den kindlichen Schrifterwerb erstmals zusammengefasst, detailliert beschrieben sowie übersichtlich und einfach strukturiert angeboten wurden, was einen großen Kontrast zu den bis dato komplex wirkenden Modellen des Lesens von Erwachsenen bildete (Scheerer-Neumann 1998, 34). Das Modell kann, laut Scheerer-Neumann (ebd.), auch heute noch als Rahmenmodell zu Forschungen zum Schriftspracherwerb dienen.

 

3.1.2 Das Entwicklungsmodell der Schriftsprache von K.-B. Günther

 

Günther ließ sich durch Friths 1984 gehaltenen Vortrag zu der Entwicklung eines eigenen Studienmodells inspirieren. Sein 1984 entstandenes unveröffentlichtes Manuskript „Schriftspracherwerb als mehrphasiger, strategiebestimmter Entwicklungsprozess“ [1] ist eine unvollständige Vorläuferversion zu dem 1986 in dem Sammelband „ABC und Schriftsprache“ erschienenen Beitrag (vgl. Günther 1986a). Dieser Beitrag hat nichts von seiner Aktualität verloren. Erst 1995 erschien der Aufsatz nämlich erneut und bis auf einige formale Änderungen unverändert in dem Sammelband „Rätsel des Schriftspracherwerbs“ (vgl. Günther 1995).

 

Günther hat Friths Modell nur leicht modifiziert, indem er eine „präliteral-symbolische“ Phase, die in Friths Modell lediglich auf der produktiven Ebene der Stufe 1a (vgl. Abb.2) angedeutet wurde, und eine vierte Phase als „Abschluss des Schrifterwerbs“ (Günther 1995, 99) hinzufügte. Außerdem änderte er den Terminus „logographisch“, den er in seinem Manuskript von 1984 noch selbst gebrauchte, in „logographemisch“ um. Den Terminus „logographisch“ hält der Autor für missverständlich, da der Begriff die Merkmale von Bildschriften wie z.B. die des Chinesischen bezeichnet. Hierbei steht ein Schriftzeichen für eine Silbe oder ein ganzes Wort. In der ersten Erwerbsstufe benutzen die Kinder insofern eine logographische Strategie, indem sie aufgrund einzelner graphischer Merkmale auf das gesamte Wort schließen. Andererseits erkennen sie auch zunehmend die Grapheme und ihre bedeutungsunterscheidende Funktion. Somit sei der Terminus logographemisch umfassender, da er den Wortteil „graphemisch“ enthält und damit auf die bedeutungsunterscheidenden „Grapheme“ verweist. Somit wird klar, dass das Kind auch Schriftzeichen (Grapheme), und nicht nur graphische Merkmale wie Bilder oder Symbole erkennt.

 

 

Abb. 4: Modell der Aneignung der schriftlichen Sprache als mehrphasiger, strategiebestimmter Entwicklungsprozess

 

(aus Günther 1984 zitiert nach Günther 1995, 99)

 

Laut Günther (vgl. Günther 1995) weist das Stufenmodell die drei folgenden grundlegenden Merkmale auf:

 

1.  „Lesen (Rezeption) und Schreiben (Produktion)“ (Günther 1995, 99) gelten als „Träger der Erwerbsstrategien“ (ebd., 100).

2.  Jede der fünf Phasen beinhaltet zwei Stufen, die jeweils in eine produktive und eine rezeptive Seite unterteilt sind.

3.  Der Lernende wendet in „jeder dieser Phasen (...) eine neue Strategie“ (Günther 1995, 100) an, um auf die nächst höhere Erwerbsstufe zu gelangen. Diese jeweils hauptsächlich verwendete Strategie wird abwechselnd beim Lesen und beim Schreiben...

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