Erzählen ist Leben – Eine kleine Einführung
Erzählen erleben
Seit es Menschen gibt, erzählen sie. Sie erzählen, was sie erlebt haben und was sie beschäftigt. Sie erzählen ihr Leben und sie erzählen die Welt. Sie erzählen, um das Leben zu verstehen und um einen Zusammenhang herzustellen. Erzählen ist Leben.
Religionen gehören zu den großen Erzählungen dieser Welt. Sie erzählen, wie die Welt entstanden ist, sie erzählen die Geschichte des Menschen, sie erzählen von seinen Aufbrüchen und dessen Scheitern, sie erzählen die Geschichte von Verlorenheit und Erlösung. Religionen sind als Geschichten entstanden, nicht als starre Lehrgebäude und abstrakte Denksysteme. Am Anfang stand die erzählte Geschichte. Erzählen ist daher schon immer eine zentrale religiöse Handlung gewesen.
In Erzählungen atmet das Leben. Wir beginnen, sie vor unserem inneren Auge zu sehen: die Gesichter jener Menschen, um die es geht, der Ort, an dem sie unterwegs sind, die Farben des Himmels und der Erde. Wir spüren den Wind aus einer anderen Zeit und riechen den Duft fremder Blüten. Wir können sie hören, diese Menschen, wie sie sich streiten und lieben. Wir fühlen, was sie bewegt, was ihnen Angst macht und was ihnen Mut gibt. Wir werden sozusagen „Gäste“ in jenen Geschichten aus einer anderen Welt und können auf diese Weise auch unser eigenes Leben in sie hineintragen. „Wir lesen uns in die alte Geschichte vom Gelingen ein“, formuliert Fulbert Steffensky (Steffensky, Fulbert: Erzählung zur Rettung des Lebens, in: Heimathöhle Religion, Stuttgart 2015, S. 55). „Menschen entkommen der Tyrannei des Augenblicks, indem ihr eigenes Bild aufgelöst wird in das Bild der befreiten Sklaven. Sie entkommen ihrer Hoffnungskargheit, indem sie sich hineinlesen in die Geschichte des endgültigen Gelingens des Lebens.“
Um nicht weniger geht es, wenn wir Geschichten erzählen: um die Befreiung aus der Gefangenschaft in Hoffnungslosigkeit und Angst. Kein Kinderkram also, aber ein Medium, zu dem Kinder viel unmittelbarer einen Zugang haben. Kinder sind geradezu hungrig nach guten Geschichten, die sie stark machen und ihnen helfen, mit ihren Fragen und Problemen zurechtzukommen. Biblische Geschichten können das. Und wir erzählen sie mit allen Sinnen. Weil sie dadurch lebendiger werden, weil sie dadurch in unsere Herzen und in unsere Köpfe kriechen und sich dort einnisten können. Weil eine Geschichte auch davon lebt, dass sie wirklich erzählt (und nicht nur vorgelesen) wird.
Zwei wichtige Regeln hat Jochem Westhof für das Erzählen von Geschichten einmal vorgeschlagen (vgl. Westhof, Jochem: Biblische Geschichten lebendig erzählen, Gütersloh 2011, S. 15). Die erste Regel lautet: „Mache dir ein inneres Bild von dem Ort der Geschichte!“ Es geht also darum sich vorzustellen, wie es dort aussieht, wie es dort riecht, welche Geräusche in der Luft liegen, welche Farben die Häuser haben, wie die Menschen angezogen sind und Verschiedenes mehr. Die Erzählperson kriecht sozusagen als Erste in die Geschichte hinein. Sie versetzt sich in ihrer Fantasie an den Ort des Geschehens. Dadurch wird es ihr gelingen, auch die Zuhörerinnen und Zuhörer auf die Reise in ein fremdes Land mitzunehmen. Die zweite Regel lautet: „Wenn du erzählst, dann benutze ganz viel wörtliche Rede!“ (Westhof, Jochem: Biblische Geschichten lebendig erzählen, Gütersloh 2011, S. 36) Nicht um der Geschwätzigkeit willen, sondern um durch indirekte Rede keine neue Distanz zum Geschehen entstehen zu lassen. Wenn wir in einer Geschichte drin stecken, dann hören wir deren Personen auch ganz direkt.
Wer diese Regeln beherzigt, kann erzählen. Oft genügt es auch, einfach „nur“ zu erzählen. Warum nun sollen wir auf die Idee kommen, „Mitmach-Geschichten“ zu erzählen?
Zum Ersten: weil es Spaß macht. Es ist einfach schön, Kinder mitmachen zu lassen, sie zu erleben, wie sie klatschen, sich bewegen, nachdenken, tanzen, malen, spielen, singen und rufen. Wen es irritiert, durch das Agieren von Kindern aus dem eigenen Konzept gebracht zu werden, der sollte eher die Finger von Mitmachgeschichten lassen. Oder eine Geschichte einfach mal ausprobieren, um dabei zu entdecken, wie viel Spaß es machen kann, mit Kindern etwas gemeinsam zu entwickeln.
Denn zweitens wird durch eine Mitmachgeschichte besonders deutlich, dass Erzählen stets eine Gruppe braucht. Nicht nur eine Gruppe im Sinne von Zuhörerinnen und Zuhörern, sondern eine Gruppe, in der eine Geschichte zirkulieren kann, wie biblische Geschichten eben schon seit Jahrtausenden in der christlichen Kirche zirkulieren. Auf diese Weise wird die Kindergruppe zur „Kirche“, in der eine Erzählung miteinander „geteilt“ wird im wahrsten Sinne des Wortes: durch das Mitwirken der Kinder eignen sie sich einerseits die Geschichte an, andererseits entwickeln sie sie weiter und verleihen ihr eine eigene Interpretation.
Drittens können Kinder bei Mitmachgeschichten viel leichter in eine Erzählung eintauchen, wenn sie diese mitgestalten können. Äußere Beteiligung unterstützt die innere Konzentration. Sie hilft, innere Bilder zu entwickeln, bildet sozusagen eine Art Geländer, um sich in die Geschichte hineinlesen zu können. Nicht immer sind es jene Bilder, die wir als Erwachsene erwarten. Aber das macht diesen Prozess umso spannender.
Durch das Mitmachen der Kinder erhalten wir also eine weitere Perspektive. Das ist der vierte Grund, weswegen es ein Gewinn ist, Kinder beim Erzählprozess mitwirken zu lassen. Es ist ein Stück Kindertheologie, die hier lebendig wird, nicht nur Theologie für Kinder, sondern Theologie von Kindern. Sie geben ihrer Erfahrung einen eigenen Ausdruck. Sie können etwas mitteilen von dem, wie sie Gott und die Welt verstehen. Und glücklich kann sich der Erwachsene schätzen, der solche Impulse als Inspiration begreifen kann.
So sind biblische Mitmachgeschichten – fünftens – Prozesse, die Tiefe ermöglichen und Spiritualität erleben lassen. Der Zusammenhang des Lebens wird nicht „nur“ erzählt, er wird auch erlebt durch die Aktivierung aller Sinne, durch die Erfahrung von Gemeinschaft und Begegnung, nicht zuletzt durch die lebendige Freude, die dabei entsteht, und alle Beteiligte einen kurzen Blick in den geöffneten Himmel werfen lässt.
Erzählen vorbereiten
Die vorliegenden Geschichten richten sich an Kinder bis zu sechs Jahren. Sie können im Kindergarten, beim Gottesdienst mit Kleinkindern, in einer Eltern-Kind-Gruppe oder in der Kinderkirche erzählt werden, manche Entwürfe auch beim Familiengottesdienst. Wichtig ist es, sich auf die jeweilige Zielgruppe einzustellen und sich über den Rahmen klar zu werden, in dem man erzählt.
Für die Vorbereitung gilt es auf jeden Fall zu überlegen:
•Wie groß ist der Raum, in dem ich erzähle? Wie ist er ausgestattet? Wo stehe ich als Erzählperson? Kann ich mich bewegen? Können mich alle Kinder sehen? Welche Raumtechnik ist unter Umständen nötig: Licht, Verdunklung, Verstärkeranlage usw.? Wann kann ich den Raum zuvor begehen und die Raumtechnik ausprobieren?
•Wie groß ist die Gruppe, mit der ich die Geschichte entwickle? Können alle mitmachen oder wähle ich einzelne Protagonisten aus? Kennen sich die Kinder untereinander und was hilft ihnen, miteinander in Kontakt zu kommen? Sind Eltern oder andere Erwachsene ebenso dabei? An welcher Stelle könnte ich diese vielleicht einbeziehen?
•Wie alt sind die Kinder bzw. wie groß ist die Altersspanne? Muss ich damit rechnen, dass viele Kinder unter drei Jahren sind? Wie müsste ich bei ganz kleinen Kindern die Erzählung auf das Wesentliche verkürzen? Oder gibt es Angebote für Kinder aus allen Altersgruppen? Könnte es Situationen geben, in denen die Älteren den Jüngeren helfen?
•Gibt es andere Erwachsene oder Jugendliche, die mich unterstützen und mir helfen, mich ganz auf die Geschichte zu konzentrieren? Die zum Beispiel darauf achten, dass es allen Kindern gutgeht, die ein Kind begleiten können, wenn es plötzlich auf die Toilette muss, die am Eingang stehen, wenn ein Kind zu spät kommt oder die einfach die jeweils nötige Raumtechnik im Blick haben?
•In welchem Kontext erzähle ich die Geschichte? Bin ich in einer öffentlichen Institution wie in einem Kindergarten? Oder befinde ich mich in einem kirchlichen Rahmen? Kann ich davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder aus einem christlichen Elternhaus kommt, oder bewege ich mich in einem multireligiösen Kontext? Welche Folgen könnten sich daraus ergeben, zum Beispiel aus der Form der Einleitung oder...