Reinhold Boschki
Erinnern, begegnen, kämpfen
Nostra Aetate als Bildungsaufgabe
♦ In einer Situation „gefühlter Islamisierung“ kommt der sich öffentlich wie politisch verstehenden Religionspädagogik eine wichtige gesellschaftliche Rolle zu. Ausgehend von der mit der Shoah aufs Engste verknüpften Entstehungsgeschichte von Nostra Aetate nimmt der Autor, Professor für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, Theologie und Kirche in die Pflicht, (religions-)pädagogisch in eine Gesellschaft hineinzuwirken, die sich via Neuen Medien mit Antisemitismus und Islamophobie massiv konfrontiert sieht. (Redaktion)
1 Hinführung
Eine Begebenheit im Juli 2018 auf dem Dresdener Neumarkt offenbart die Dramatik der Frage nach Bildung angesichts anderer Religionen und Kulturen: Der Redner bei einer genehmigten Montagsdemonstration rechtsradikaler Gruppierungen gegen die „Islamisierung“ Deutschlands erwähnt die „Lifeline“, das deutsche Schiff zur Flüchtlingsrettung. Es durfte tagelang an keinem europäischen Mittelmeerhafen anlegen, um die mehr als 230 aus dem Wasser geretteten Flüchtlinge an Land zu bringen. Zunächst hört man Buh-Rufe aus der Menge der Demonstranten gegen die „Mission Lifeline“, dann den minutenlangen, lauthalsen Sprechchor: „Absaufen! Absaufen!“
Dass im heutigen Deutschland am helllichten Tage öffentlich und vor laufenden Kameras dazu aufgerufen werden kann, andere Menschen sollten sterben, ist ein politischer Skandal, eine menschliche Tragödie und zeigt ein Versagen moralischer Bildung bei den Akteuren. Bildung allein kann zwar die weltpolitischen Probleme ebenso wenig lösen wie die sozialen Verwerfungen einer Gesellschaft. Doch die Hoffnung einer engagierten Bildungsarbeit, zumal aus christlicher Motivation, ist, dass Bildung einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung und – im Idealfall – zur Vermenschlichung der Debatten leisten kann, die in ganz Europa zur Frage des Zusammenlebens der Kulturen und Religionen geführt werden.
Das kleinste, aber vielleicht eines der wichtigsten Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, die „Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ aus dem Jahr 1965 kann Impulse geben, interreligiös und interkulturell sensible Bildung zu realisieren. Denn Nostra Aetate ist ein Dokument, das aus der Erinnerung an menschliche Katastrophen entstanden ist.1
2 Im Ursprung: eine Begegnung
Die Genese des Dokuments Nostra Aetate ist eng verbunden mit einer Begegnung, die am 13. Juni 1960 – also zwei Jahre vor dem Konzil – im Vatikan stattfand. Der französische Historiker Jules Isaac, der mit knapper Not dem Holocaust entronnen war, während seine Familie dem Massenmord zum Opfer fiel, hatte jahrelang auf diese Begegnung hingearbeitet.2 Schon zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veranstaltete Isaac eine Konferenz im Schweizer Ort Seelisberg, um die Ursachen des christlichen Antijudaismus und Antisemitismus aufzudecken und künftig zu bekämpfen. Diese Konferenz ging in die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen ein, da sie einerseits eine der ersten Tagungen darstellte, an der christliche und jüdische Theologen teilnahmen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, andererseits die berühmten „Seelisberger Thesen“ publizierte.3 Die zehn kurzen Thesen stellen ein für damals revolutionäres Statement einer völligen Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Christen und Juden dar. Gleich in der ersten These wird formuliert: „Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und Neue Testament zu uns allen spricht.“4 Weiterhin sei hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter geboren sei, dass seine Jünger Juden waren, dass die Liebe zum Nächsten bereits im Alten Testament verkündigt, von Jesu bestätigt wurde und für Christen und Juden gleichermaßen gilt – und zwar für alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Darauf folgen sechs Artikel, die aufzählen, was in Lehre und Predigt unbedingt zu vermeiden ist: Herabsetzung der Juden zugunsten der Christen, Gottesmordvorwurf gegen die Juden, Lehre von der Verwerfung und Verfluchung des jüdischen Volkes etc.
Von heute aus betrachtet lesen sich die Seelisberger Thesen wie das Präskript zur Textfassung von Nostra Aetate. Bis zur Promulgation jener Erklärung des Konzils sollte es jedoch ein langer Weg sein. Zuvor studierte und beschrieb Jules Isaac in einer detaillierten Studie die Geschichte der christlichen Judenfeindschaft, die er als Grundübel der abendländischen Geschichte deutete.5 Er war überzeugt, die christliche Lehre von der Verachtung und Überwindung des Judentums ist ein zentraler und gleichzeitig fataler Teil des Wegs, der am Ende zu Auschwitz führte. Die Kirche und Kirchen müssten diese Lektion lernen und eine grundlegende Revision ihrer Lehre zum Judentum vornehmen. Isaac sah es nach dem Tod seiner Familie im Holocaust als Lebensaufgabe an, christliche Theologinnen und Theologen, Verantwortliche in den Kirchen, ja selbst den Papst davon zu überzeugen, dass eine Umkehr dringend notwendig ist.
Seine hartnäckigen Eingaben hatten Erfolg: Johannes XXIII. empfing den Überlebenden des Holocaust im Vatikan und bekam von dem Historiker ein Dossier überreicht, das die wesentlichen Punkte einer völligen Neuordnung des Verhältnisses zu den Juden enthielt. Die Themen, die Isaac dezidiert einbrachte, waren: Die Lehre von der „Verachtung der Juden“ und das christliche „System der Herabwürdigung“6 jüdischen Glaubens und Lebens musste überwunden werden; die ungerechten Aussagen über die Juden mussten in Lehre, Katechese und Predigt überprüft und korrigiert werden;7 die Juden sollten nicht länger als die Schuldigen am Tod Jesu bezeichnet werden; die Zerstreuung des Judentums über den Erdkreis sollte fortan nicht mehr als Strafe für die Ablehnung oder gar die Kreuzigung Jesu dargestellt werden.
Nach der Audienz erteilte der Papst Kardinal Bea den Auftrag, eine Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk auszuarbeiten. Hier beginnt die komplizierte Textgeschichte von Nostra Aetate 4 und des ganzen Dokuments. Die kurze, aber höchst intensive und bedeutsame Begegnung sollte die kirchliche Lehre und Theologiegeschichte grundlegend umkrempeln, und mit ihnen die religiöse und interreligiöse Bildung der Christinnen und Christen.
3 Erinnerung als geheimes Thema von Nostra Aetate
Betrachtet man das vierte Kapitel von Nostra Aetate mit einigem Abstand und im Kontext der langen Geschichte des Verhältnisses von Christen und Juden, kann von einer „kopernikanischen Wende“8 gesprochen werden, wie sie kirchengeschichtlich kaum ein Vorbild hat. Im historischen Rückblick wird deutlich: Ohne die Schoah ist Nostra Aetate nicht denkbar. Roman A. Siebenrock sieht Nostra Aetate 4 als Reaktion der katholischen Kirche auf Auschwitz, die Neuordnung der Beziehung zum Judentum war „wesentlich von der europäischen Katastrophe der Schoah“ motiviert.9 Die Erinnerung an die „strukturelle Sünde“, welche die Kirche im Laufe der Jahrhunderte – allen Ausnahmen zum Trotz – durch ihre inhärente Judenfeindschaft auf sich geladen hatte, und das aufdämmernde Bewusstwerden einer kirchlichen Mitschuld an der Katastrophe von Auschwitz, schreckte nicht wenige Konzilsväter auf: „Doch in der tiefsten Nacht zeichnete sich eine Wende ab. Der Beginn eines wirklichen Dialogs zwischen Christen und Juden entwickelte sich im Schatten der Schoah.“10
Für Johannes XXIII. war die Neuordnung des Verhältnisses zum Judentum ein Herzensanliegen, seit er dem Überlebenden Jules Isaac begegnet war. Diesen Impuls nahmen andere auf und führten ihn auch nach dem Tod des Papstes weiter: „Für die deutschen Bischöfe und Kardinal Bea war Auschwitz auf dem Konzil präsent. Die christliche ‚Theologie nach Auschwitz‘ begann in St. Peter.“11
Die Ermordung der europäischen Juden war zumindest implizit und oft genug unausgesprochen als Erinnerung an ein konkretes geschichtliches Ereignis auf dem Konzil präsent. Blickt man vor diesem Hintergrund in den Text, fällt auf, dass erschreckend wenig von konkreter Erinnerung die Rede ist. Der Text schweigt über die Schoah. Die Katastrophe der Vernichtung wird mit keiner Silbe erwähnt. Zwar „beklagt“ die Kirche in Nostra Aetate 4 all die Verfolgungen, den Hass und die „Manifestationen des Antisemitismus, die, zu welcher Zeit auch immer und von welchen auch immer, gegen Juden gerichtet wurden“. Diese Aussage ist einerseits klar und wurde zu einer zentralen Argumentationsfigur in der Rezeption des Konzilstextes, bis hin zur Spitzenaussage von Papst Franziskus: „Aufgrund unserer gemeinsamen Wurzeln kann ein Christ nicht antisemitisch sein!“12 Damit ist eine wesentliche Basis für den Kampf gegen Judenfeindschaft in Kirche und Welt gelegt, auch für eine scharfe Verurteilung des neu aufkommenden Antisemitismus in den Gesellschaften von heute. In allen antijüdisch gefärbten Konflikten der Gegenwart (neu aufkeimender Antisemitismus in Europa; Angriffe auf...