Kapitel 3 Von Temperament bis Charakter
Von Temperament bis Charakter
Kommunikation; Soziale Kompetenz und Teamfähigkeit; Temperament; Neigung; Freiheitsrahmen; Charakter und seine Dimensionen; Ordnung als Wesen des Menschseins; Erziehen als Prägung von Charakter
Ein »geglücktes Leben« ist dann erreicht, wenn ein Mensch die Möglichkeiten verwirklicht hat, die in ihm angelegt sind. Es geht um die Frage, ob das, was »Möglichkeiten verwirklichen« suggeriert, nämlich sich frei für oder auch gegen seine Möglichkeiten entscheiden zu können, ob dem Menschen bei seiner Konstitution diese Freiheit überhaupt gegeben ist. Den ersten Untersuchungsansatz dazu enthält das vorangegangene Kapitel. Im zweiten Untersuchungsansatz geht es um den Freiheitsrahmen, den jeder Mensch hätte, wenn es ihn denn geben sollte.
Verbale und nicht-verbale Kommunikation ist anstrengend. Erfolgreiche Kommunikation hängt einerseits von der Bereitschaft ab, mit jemanden kommunizieren zu wollen oder — wie man sagt — »sich auf jemanden einzulassen«. Andererseits hängt sie auch von der Aufmerksamkeit ab, mit der sich der Mensch der Kommunikation widmet. Heutzutage wird dazu oft eine »soziale Kompetenz« eines Menschen konstatiert und seine Teamfähigkeit beschworen.
Im Terminus der »eigenen Wirklichkeiten« des vorangegangenen Kapitels liegt es nahe festzustellen, dass mit sozialer Kompetenz und Teamfähigkeit etwas gemeint ist, was »Charakter« genannt wird. Gemeint sind damit tatsächlich die persönlichen Anstrengungen zur Kommunikation sowie die Bereitschaft und die Aufmerksamkeit zum Abgleichen der jeweiligen Wirklichkeiten. Erkennt man dies an, dann eröffnen sich neue Wege für »soziale Kompetenz« und »Teamfähigkeit«.
Kommunikationsvorgänge sind gruppendynamische Prozesse. Mit ihnen verhält es sich so, dass persönliche Reaktions und Vorgehensweisen durch genetisch vererbtes und damit festgelegtes Temperament weitgehend vorbestimmt sind. Ebenfalls bereits genetisch angelegt sind die beim Abgleich der »Wirklichkeiten« zu Tage tretenden sichtbaren sowie spürbaren Neigungen jedes Kommunikationsteilnehmers. Neigungen sind die sieben »menschlichen Schwächen« Neid, Zorn, Trägheit, Wollust, Hochmut, Völlerei und Habsucht.
Nach Bonelli ist die bloße Neigung von Geburt an durch Gene bestimmt und wird weiterbestimmt durch die Umwelt. Neigungen sind bei jedem Individuum in untereinander verwobener Ausprägung mehr oder weniger vorhanden. Temperament und Neigungen reduzieren die Freiheit des Menschen.
Damit stellt sich angesichts dieser vorbestimmten Gegebenheiten die Frage, wo denn nun die Freiheit liegen soll, die angeblich jedem zu Eigen ist. Die Antwort lautet: Die Freiheit, genauer: der Freiheitsrahmen, den jeder hat, liegt darin, dass er einen Willen besitzt und einen entwickelbaren Charakter.
Der Neurobiologe Robert Cloninger6) hat im Jahr 1989 vier »Dimensionen des Temperaments« definiert. Wie er diese vier Dimensionen benannt hat und wie deren weitere Aufteilung und Beschreibungen sind, ist für diese Untersuchung ohne Bedeutung.
Wichtig sind jedoch zwei Ergebnisse. Zum einen sichert seine Forschung ab, dass menschliches Temperament weitgehend angeboren ist. Zum zweiten hat er — nun als besonders gute Nachricht — wissenschaftlich durchgängig bewiesen, dass Temperament als biologische „Identität“ zwar Ausgangsbasis ist, aber für den Menschen kein deterministisches Schicksal.
Der Mensch ist zu einer beständigen Verhaltensmodifikation vieler seiner sozialen Reflexe fähig und zwar durch Selbsterkenntnis und durch den freien Willen. Das Endergebnis dieses persönlichen Prozesses ist der Charakter. Mittlerweile wurde auch von anderen, unabhängig voneinander forschenden Gruppen bestätigt, dass zwischen Genetik, Botenstoffen im Gehirn und Persönlichkeitsmerkmalen eine Verbindung besteht.
Der Neurologe Bonelli stellt fest, dass durch Cloningers Forschungsergebnisse die klassischen Temperamentbeschreibungen als Sanguiniker, als Phlegmatiker, als Melancholiker oder als Choleriker nicht überflüssig sind. Die Aufteilung in alltagspsychologische Archetypen, so Bonelli, ist immer noch brauchbar. Für die vorliegende Untersuchung ist die klassische Einteilung aber nicht relevant. Wichtig ist nur die Feststellung, dass Temperament — einerlei ob klassisch oder von Cloninger definiert — weitgehend genetisch vorbestimmt ist.
Robert Cloninger fand heraus, dass nachweisbar menschliches Temperament zwei bestimmten Hirngebieten zuzuordnen ist und dass der Charakter des Menschen in drei weiteren Hirngebieten »zu Hause« ist. Die drei Hirngebiete des Charakters machen den Menschen gegenüber dem Affen zu dem, was er ist: dass er »Mensch« ist. Im Jahr 1993 ordnete Cloninger den drei Hirnarealen jeweils eine »Charakterdimension« zu. Er spricht von da ab von den drei Dimensionen des Charakters und nennt sie »Innere Ordnung« beziehungsweise »Kooperationsfähigkeit« beziehungsweise »Selbsttranszendenz«.
Der »Inneren Ordnung« wiederum ist zugeordnet Verantwortung, Sinn-Orientierung, Einfallsreichtum und Selbstakzeptanz. Innere Ordnung unterscheidet »verlässlich« und »sachlich« von »beschuldigend« und »planlos«. Sie bestimmt, wie ihr Name sagt, die innere Ordnung des Menschen.
Der »Kooperationsfähigkeit« ist zugeordnet die Soziale Akzeptanz, Empathie, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und aufrichtiges Gewissen. Kooperationsfähigkeit unterscheidet »tolerant«, »hilfsbereit«, »teamfähig« von »voreingenommen« und »rachsüchtig«. Sie bestimmt im Menschen die Ordnung in seinen Beziehungen.
Der »Selbsttranszendenz« ist zugeordnet die Selbstvergessenheit, Transpersonale Identifikation und Spirituelle Akzeptanz. Selbsttranszendenz unterscheidet »selbstvergessen« und »spirituell« von »selbstbezüglich«, »ichhaft« und »materialistisch«. Sie bestimmt im Menschen seine Einordnung in das kosmische Ganze.
Auffällig ist, dass allen drei Dimensionen und damit dem Charakter insgesamt das Wesen der »Ordnung« gemeinsam ist. Ordnung ist bei allen das Schlüsselwort. Deswegen sei nochmals nebeneinandergestellt und betont: Neben der Inneren Ordnung ist Kooperationsfähigkeit die Ordnung in den Beziehungen und Selbsttranszendenz entspricht der Einordnung in ein kosmisches Ganzes.
Der Evolutionsbiologe Rupert Riedl konstatiert, dass der Mensch von seiner mentalen Ausstattung her nicht ohne Ordnung leben kann. Damit ist nach Auffassung des Autors für unsere aktuelle Lebenssituation einer der wesentlichsten Einschränkungen beschrieben, weswegen viele Menschen heutzutage in ihrem Lebens- und Berufsumfeld nicht klarkommen. Sie haben keine Aussicht darauf, ein »geglücktes Leben« zu führen, da Digitalisierung, Globalisierung und Internet, weil zu kleinteilig und detailliert, zu abstrakt und somit für sie nicht vollständig greifbar, die Ordnung, die für sie zum Leben notwendig ist, unerreichbar werden lassen.
Unsere Gesellschaft hat dafür noch keine Lösungswege gefunden. Sie hat dieses Problem vielleicht noch gar nicht erkannt. Vielleicht will sie es auch gar nicht wahrnehmen. Durch diesen Umstand, das heißt, wegen der unsortierten Menge an ausufernden Informationen, wegen der Vielzahl von Sachverhalten, die den Menschen zur Kenntnis gelangen und wegen der vielen, oft überflüssigen Details, ist derzeit für viele Menschen unserer Gesellschaft ein Scheitern vorausbestimmt. Es fehlt ihnen schlicht die Möglichkeit zum Überblick und die Fähigkeit, dies alles zu ordnen.
Nach diesem Exkurs nach Rupert Riedl, dass der Mensch von seiner mentalen Ausstattung her nicht ohne Ordnung leben kann, zurück zur Frage aus Kapitel 1, wie viel Freiheit dem Menschen trotz seiner molekularen und genetischen Vorbestimmtheit doch tatsächlich bleibt.
Die gute Nachricht aus Cloningers wissenschaftlichen Erkenntnissen ist, dass der Mensch im Sinne unserer Fragestellung trotz seiner Vorbestimmtheit doch frei ist. Denn er hat mit seinen Hirnarealen das Potenzial zur Selbstprägung seines Charakters. Dies ist das menschliche Potenzial, um in sich und um sich herum Ordnung zu verwirklichen. Wie der einzelne Mensch dieses macht und vor allem ob er es überhaupt macht, ist ihm jedoch selbst überlassen.
In den Worten von Raphael M. Bonelli ist das die Freiheit des Menschen, nämlich er kann entscheiden, ob er selbstvergessen, hilfsbereit und tolerant handeln will oder ob er eher fremdbeschuldigend, voreingenommen und rachsüchtig durchs Leben gehen will. All dies ist das Potential, das wir Charakter nennen. Und dieses Potential, der Charakter, ist prägbar. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen: Erziehen zielt auf die Prägung des Charakters solcherart, dass ein geglücktes Leben und Zusammenleben in der Sozietät möglich wird.
Die Prägbarkeit von Charakter, wie Cloninger sie manifestiert,...