Vorwort
»Es gab nie einen schöneren März.«
Der 34-jährige jüdisch-katholische Priester Johannes Maria Oesterreicher erlebt die letzten Tage der Ersten Republik als wahren Frühlingsrausch. Die subjektive Erinnerung des Geistlichen hält einer meteorologischen Überprüfung stand. Im März 1938 scheint die Sonne deutlich öfter als im jahrzehntelangen Durchschnitt. Es regnet auch um ein Drittel weniger.
Zwei Tage nach der Okkupation der Alpenrepublik durch Hitlers Armee und der Machtübernahme der Nationalsozialisten bricht der Frühling aus. Die Höchsttemperaturen steigen in Wien bis zum 22. März auf fast 21 Grad. Anfang April blüht schon der Flieder. Für viele verbindet sich dieses meteorologische Phänomen mit einem politischen Umsturz. Sieben Jahre Kälte beginnen mit Sonnenschein. Es sind die »Iden des März«, als über Nacht alles in ein Meer blutroter Fahnen mit dem Hakenkreuz getaucht wird.
Es sind Tage unbeschreiblichen Jubels, der in den Propaganda-Wochenschauen des NS-Regimes für den Moment und für spätere Jahrzehnte auf Zelluloid gebannt wird: Der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich Adolf Hitlers, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Umsturz. Dreißig parteieigene Tonbild-Übertragungswagen werden in die neue »Ostmark« geschickt.
Es sind Tage der Tränen, der Zukunftsangst, Tage der Erniedrigung und Scham, der Gewalt, der Flucht ins Ausland und in den Tod.
Davor liegen dreißig Tage: vom 11. Februar bis 12. März 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang.
Es sind Tage der Sorge nach einem Geheimtreffen Adolf Hitlers mit dem österreichischen Kanzler Kurt von Schuschnigg, der Hoffnung auf ein Ende der ständestaatlichen Kanzlerdiktatur, der Trunkenheit eines ausgelassenen Faschings mit glanzvollen Bällen, der Freude über österreichische Erfolge bei Sportereignissen, der zaghaften Zeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Millionen Österreicherinnen und Österreicher werden das Ende dieser dreißig Tage als ungeheuren Aufbruch bejubeln. Millionen fürchten die brutale Wende ins Ungewisse. Sie schweigen, sie weinen, sie haben Angst, sie fliehen, sie sterben.
Die Nacht vom 11. auf den 12. März markiert einen radikalen Umbruch im Gefühlsleben fast aller Österreicher. Nach 19 Uhr steht Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg im Ecksalon vor dem Ministerratssitzungsaal am Ballhausplatz vor einem Mikrofon der RAVAG und spricht mit heiserer Stimme die historischen Sätze: »Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen! Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne wesentlichen Widerstand, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidungen der nächsten Stunden abzuwarten … So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volke mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!«
Schuschniggs letzte Ansprache als Kanzler und »Frontführer« der »Vaterländischen Front« dauert gerade einmal 2 Minuten und 52 Sekunden. Die staatliche RAVAG in der Wiener Johannesgasse überträgt die Rede des Kanzlers über alle Sender. Jeder Zeitgenosse kann sich an den Wortlaut und die Umstände erinnern. Danach klingen aus den Radiogeräten Variationen zur alten Kaiserhymne von Joseph Haydn. Es ist eine doppeldeutige Botschaft. Die Musik der alten österreichischen Hymne ist auch die Melodie der offiziellen Hymne des Deutschen Reichs.
Die wahre Hymne der kommenden Zeit wird erst nach der Rede des neuen nationalsozialistischen Kanzlers Arthur Seyß-Inquart gespielt. Es ist das bis zur Stunde offiziell verbotene Horst-Wessel-Lied. Diese strammen Töne passen besser zur dunklen Stunde. Draußen auf den Straßen lärmen schon die Nationalsozialisten. Die Braunhemden der SA ziehen in Hundertschaften aus den Vorstädten zur Oper vor das Deutsche Verkehrsbüro, über die Kärntnerstraße zum Hof und vor das Wiener Rathaus. Sie brüllen die neue Parole: »Ein Volk, ein Reich!«
Es sind die letzten Stunden einer Entwicklung, die schon mit dem letztlich gescheiterten Nazi-Putsch im Juli 1934 begonnen hat. Die Jahre seither sind für die autoritäre katholisch-konservative Regierung des »Ständestaates« ein Rückzugsgefecht. Nach dem Verlust der Rückendeckung durch den faschistischen italienischen Diktator Benito Mussolini und infolge des offenkundigen Desinteresses der Westmächte Frankreich und Großbritannien versucht Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg Zeit zu gewinnen. Schon mit dem Juli-Abkommen im Jahr 1936, das zwar auf dem Papier die Unabhängigkeit Österreichs mit der Unterschrift Adolf Hitlers garantieren soll, hat sich die österreichische Regierung auf einen »deutschen Weg« zwingen lassen. Schritt für Schritt sickern Nationalsozialisten in die staatlichen Organisationen und über eigens dafür geschaffene »volkspolitische Referate« in die sogenannte »Vaterländische Front« ein, bis alle Dämme brechen. Die Hoffnungen Schuschniggs und seiner Wegbegleiter, »betont nationale« Österreicher durch ihre Einbindung in staatliche Institutionen von den gewaltbereiten Nazi-Rabauken zu trennen und so die ohnehin heillos zerstrittene NS-Bewegung zu spalten und zu schwächen, gehen nicht auf. Das Konzept des »deutschen Weges«, also das Nebeneinander zweier »deutscher« Staaten, zerbricht an der machtpolitischen Realität.
Im März 1938 scheitert eine »Republik wider Willen«. Österreich wird von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges geschaffen, weil dem geschlagenen Deutschen Reich kein Gebietszuwachs zugestanden wird. Österreich entsteht auf dem Territorium, das von keinem anderen Nachfolgestaat der Monarchie beansprucht wird. Es ist buchstäblich der »Rest« eines mitteleuropäischen Imperiums. Ohne die Klammer einer Herrscherdynastie ist die tief gespaltene Gesellschaft zur Eigenstaatlichkeit verurteilt. Ihre Wirtschaft ist von den einstigen Absatzgebieten getrennt und nach der ersten Erholung nach den Verheerungen des Krieges von der Wucht der Weltwirtschaftskrise und drei Jahre später vom Zusammenbruch des Bankensystems geschlagen. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers im Deutschen Reich wächst der Druck auf das Land, das nach der Beseitigung der Parteiendemokratie und einem blutigen Bürgerkrieg autoritär regiert wird.
Im März 1938 kann Österreich nur noch auf Zeit spielen. Vielleicht ändert sich ja die weltpolitische Lage, vielleicht wird sich Hitler-Deutschland doch wie ein »zivilisierter Staat« verhalten? Vielleicht bessert sich die Wirtschaftslage, vielleicht kann die Arbeitslosigkeit doch spürbar gesenkt werden? Österreichs Politik vermeidet, das nationalsozialistische Deutsche Reich zu reizen, verzichtet dafür auf eine klare Haltung. Es regiert nur noch das Prinzip Hoffnung.
Nicht anders verhalten sich die großen europäischen Nationen. Frankreich und England geben den immer weitgehenderen Forderungen Hitlers nach, die Besetzung des Rheinlands, die Abstimmung im Saarland, Schritt für Schritt, um des Friedens willen, wird der verhängnisvolle Friedensvertrag von Versailles zum toten Recht. Und Mussolinis Italien braucht Hitlers Hilfe bei seinen imperialen Abenteuern in Abessinien und Spanien. Die internationale Anerkennung für die NS-Diktatur folgt den machtvollen Inszenierungen der Olympischen Spiele von Berlin und Garmisch-Partenkirchen. In nur vier Jahren ist die deutsche Armee zur modernsten Streitmacht Europas gerüstet worden. Zwanzig Jahre nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg ist Deutschland wieder eine – die – europäische Großmacht. Seit 1933 hat eine »Bewegung« alle demokratischen Strukturen zerstört, den Staat einer Ideologie untergeordnet, die sich als rassistische Glaubenslehre versteht. Was Nationalsozialismus ist, bestimmt die Willkür eines »Führers«. Adolf Hitler will alle »Deutschen« in einem Großreich vereinen. Die sechseinhalb Millionen Österreicher zählt er dazu. Der »Anschluss« ist längst beschlossene Sache. Die kurzfristig für den 13. März angesetzte Volksbefragung erzwingt eine Entscheidung. Schuschnigg überrascht Hitler. Der Kanzler fordert den Reichskanzler heraus. Berlin muss reagieren und taumelt 36 Stunden lang. Dann entscheidet Hitler – oder ist es doch Hermann Göring – für den Einmarsch.
In einer Salzburger Villa feiert an diesem Tag die Familie des ehemaligen Korvettenkapitäns Georg Ludwig Ritter von Trapp den 25. Geburtstag der ältesten Tochter Agathe. Die elfköpfige Familie versammelt sich in der stattlichen Bibliothek. Statt Musik aus dem Radio hören die Trapps die bekannte Stimme des Bundeskanzlers. »Gott schütze Österreich!« Sie sind ratlos, entsetzt, vor den Kopf...