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Es ist nie zu spät

Ihr zweites Leben. Von Charlie Chaplin bis Karlheinz Böhm

AutorDietmar Grieser
VerlagAmalthea Signum Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783903083943
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Vom Glück der Spätberufenen Die Dienstmagd Anna Mary Robertson ist 75, als sie unter dem Künstlernamen Grandma Moses zur 'Weltmeisterin der naiven Malerei' aufsteigt, die Bäuerin Anna Wimschneider erobert als 66-Jährige mit ihrem Roman 'Herbstmilch' sämtliche Bestsellerlisten, und der Wiener Bürgermeister Theodor Körner ist gar schon 78, als er zum Bundespräsidenten der Republik Österreich gewählt wird. Das berühmte Köchel-Verzeichnis ist die Fleißarbeit eines pensionierten Staatsbeamten aus Krems, das Sozialwerk 'Künstler helfen Künstlern' die Initiative einer abtretenden Burgschauspielerin, Axel Munthes 'Buch von San Michele' der Geniestreich eines ehemaligen (und inzwischen erblindeten) Modearztes. Der Chansonnier Charles Aznavour ist 85, als er das Amt des Botschafters seines Heimatstaates Armenien antritt. Auch Daniel Defoe, der Autor des Abenteuerromans 'Robinson Crusoe', zählt zu den Spätberufenen, und die englische Rockband 'The Zimmers' setzt sich aus Rentnern zusammen, deren Altersdurchschnitt 78 beträgt. Auch im Privatleben alternder Stars kommt es zu erstaunlichen Ausbrüchen später Jugendlichkeit. So lernt George Bernard Shaw erst mit 68 Tanzen, Charlie Chaplin wird mit 73 Vater, und Pablo Casals tritt mit 80 vor den Traualtar. Spurensucher Dietmar Grieser hat die interessantesten unter den Spätberufenen mit der ihm eigenen Entdeckerfreude und Sensibilität porträtiert - es ist seine ganz persönliche Antwort auf den heute alles beherrschenden Jugendkult. Das richtige Buch zur richtigen Zeit.

Dietmar Grieser lebt seit 1957 in Wien und ist seit 1973 als Buchautor erfolgreich. Seine Bestseller wurden in mehrere Sprachen übersetzt, etliche auch fürs Fernsehen verfilmt. Zu seinen Auszeichnungen zählen u. a. der Eichendorff-Literaturpreis, der Donauland-Sachbuchpreis, der Buchpreis der Wiener Wirtschaft, der tschechische Kulturpreis 'Artis Bohemiae Amicis', das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst sowie das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Zuletzt bei Amalthea erschienen: 'Die böhmische Großmutter' (6. Aufl. 2015), 'Der Onkel aus Preßburg' (4. Aufl. 2009), 'Das gibt's nur in Wien' (2. Aufl. 2012), 'Landpartie' (2. Aufl. 2013), 'Wege, die man nicht vergißt' (2015), 'Geliebtes Geschöpf' (2. Aufl. 2016) und 'Schön ist die Welt' (2017)

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Leseprobe

Vernissage mit Marmeladebrot


Ihre Bilder tragen Titel wie »Apfelpflücker«, »Waschtag« oder »Der Postbote war da«. Jedes einzelne erzählt eine Geschichte, wie sie ältere Menschen – vor allem auf dem Lande lebende – aus ihrer eigenen Kindheit in Erinnerung haben: »Drachensteigen«, »Kerzengießen« oder »Zuckerernte im Ahornwald«. Den einen spricht »Großvaters Haus« oder »Landstreicher am Weihnachtstag« mehr an, den anderen »Der eichene Brunneneimer« oder »Das erste Automobil«. Über 1600 sind es insgesamt, das meiste auf Preßholz gemalt und in Öl, durchwegs in hellen, leuchtenden Farben und passend gerahmt.

Sähe man sie alle an einem Ort versammelt, wären sie wohl das, was man ein Lebenswerk nennt.

Doch es ist ein Lebenswerk, das erst im Alter von 75 einsetzt. Und auch erst mit 101 endet. Der Name der Künstlerin: Anna Mary Robertson alias Grandma Moses. Die Großmutter – pardon – Großmeisterin der naiven Malerei.

Eines gleich vorweg: Sollten Sie – etwa beim Besuch eines der einschlägigen Museen – Gelegenheit haben, sich in Grandma Moses’ Œuvre zu versenken, sich dabei in ihre Bilder verlieben und davon träumen, selber eines davon zu besitzen, wird es wohl beim Träumen bleiben. Selbst die kleinsten Formate sind heute für einen Normalmenschen unerschwinglich, auch gelangt davon kaum noch etwas in den Handel. Alles ist seit Jahr und Tag in fester Hand. Grandma Moses’ Bedeutung für die Welt besteht daher in etwas ganz anderem: in ihrer Vorbildwirkung. Genauer gesagt: in der Botschaft, die sie mit ihrem Werk aussendet. Und diese Botschaft lautet: Auch als alter Mensch kannst du es zu etwas bringen – zu sinnvoller Beschäftigung, zu künstlerischer Erfüllung, ja zu Weltruhm. Und sogar (woran dieser Anna Mary Robertson allerdings am wenigsten lag) zu Geld.

Selbst für Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ist es eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel. Am 7. September 1860 kommt Anna Mary Robertson in Greenwich im US-Bundesstaat New York zur Welt. Ihre Vorfahren sind schottisch-irischen Geblüts, der Vater betreibt eine kleine Farm in Washington County. Über ihre sorglos-glückliche Kindheit auf dem Lande wird sie später zu Protokoll geben:

Ich schaukelte die Wiege der kleinen Schwester, erhielt von der Mutter Unterricht im Nähen und vergnügte mich mit den Brüdern. Wir machten Flöße und ließen sie auf dem Mühlteich schwimmen, wir streiften durch die Wälder, wir sammelten Blumen und bauten Luftschlösser.

Härter wird ihr Leben, als Anna Mary in die Schule kommt. Die Winter sind in ihrer Heimat streng, auch fehlt es den Kleinen an warmer Kleidung. Außerdem fällt daheim eine Menge Arbeit an, auch die Kinder müssen im Haushalt mithelfen. Der Schulunterricht bleibt auf sechs Monate im Jahr beschränkt – drei im Sommer, drei im Winter.

Schon mit zwölf verläßt Anna Mary das Elternhaus, verdingt sich als Dienstmagd. Ihre erste Stelle findet sie bei einem betagten Ehepaar: gutherzige, fromme Presbyterianer, die der Heranwachsenden die aufopfernde Haushaltsarbeit und Krankenpflege mit ziehelterlicher Zuwendung belohnen:

Eine meiner Pflichten bestand darin, sie am Sonntagmorgen mit dem Pferdewagen in die Kirche zu fahren, einen Strauß Blumen auf die Kanzel zu stellen und niemals den Text der jeweiligen Lesung zu vergessen. Wenn der Pastor zu den Whitesides auf Besuch kam, durfte ich das feine Linnen, das Porzellan und das schwere Silber aus dem Schrank holen. Es gab kleine heiße Kuchen, selbstgemachte Butter und Honig und hausgeräuchertes Fleisch – darauf war ich stolz.

Es folgen andere Dienstgeber, und auch die Wohnorte wechseln. Mit 17 heiratet Anna Mary Robertson: Thomas Salmon Moses ist wie ihr Vater Landwirt – zuerst in einem kleinen Pachtbetrieb, dann in der 600 Morgen großen eigenen Farm. Anna Mary spezialisiert sich auf Butter und – eine Neuheit zu dieser Zeit – geröstete Kartoffelscheiben. Sie beliefert mit ihren Produkten die Märkte in der Umgebung.

Zehn Kinder kommen zur Welt, fünf von ihnen überleben. Als die Sprößlinge groß genug sind, wird in den Bundesstaat New York übersiedelt. Und wieder ist es eine gutgehende Meiereiwirtschaft, die die siebenköpfige Familie Moses ernährt. Als im Jänner 1927 Thomas Salmon Moses stirbt, tritt der jüngste Sohn das Erbe an und übernimmt die Farm. Witwe Anna Mary Moses, inzwischen 66 Jahre alt, könnte sich also aus dem Arbeitsleben zurückziehen, bräuchte nur noch für ihre Enkel da zu sein. Doch das genügt ihr nicht, füllt sie nicht aus und so verlegt sie sich auf das Verfertigen von Bildern – zunächst in Wolle, bald auch in Öl. Landschaften, Häuser, Tiere – so, wie sie es aus ihrem Alltagsleben kennt.

Schon als Kind hat sie sich im Zeichnen versucht:

Als ich noch ganz klein war, kaufte der Vater mir und meinen Brüdern manchmal bogenweise weißes Papier, das für Zeitungsdruck verwendet wurde. Er sah es gern, wenn wir zeichneten; der Bogen kostete einen Penny pro Stück und hielt länger vor als Süßigkeiten. Mein ältester Bruder zeichnete am liebsten Dampfmaschinen, der zweite verlegte sich auf Tiere. Was mich betrifft, so wollte ich richtige Bilder haben – je bunter, desto besser. Zuerst fertigte ich eine Skizze an, dann folgte das Malen – entweder mit Trauben- oder Beerensaft. Das Wichtigste war: Es mußte rot sein, richtig schön rot.

Sollte sich in diesen frühkindlichen Versuchen schon das spätere Talent ankündigen? Während ihrer vierzig Ehejahre und der damit einhergehenden harten Tagesarbeit auf der Farm kann es sich jedenfalls nicht entfalten – abgesehen von zwei kaum nennenswerten Gelegenheiten, die Anna Mary zu Pinsel und Farbtopf greifen lassen. Das eine Mal ist es das Brett, mit dem der offene Kamin im Wohnzimmer verkleidet ist, das andere Mal der alte Klapptisch in der Küche, unter dessen Platte die Familie ihr Zinngeschirr aufbewahrt. Beides kommt Anna Mary »nackt« vor, unansehnlich, verschönerungsbedürftig. Also verziert sie die Gegenstände mit Landschaftsbildern. Nur so. Aber doch schon recht gekonnt. Ja, für einen blutigen Laien, der sie ist, fast professionell. Es sind ihre Werke Nummer eins und zwei …

Bis die Nummer drei folgt und überhaupt der »Betrieb« voll einsetzt, vergehen allerdings noch 15 Jahre: Anna Mary Moses spart sich das in ihr schlummernde Talent für ihren Lebensabend auf. Daß sie sich damit so lange Zeit läßt, hat einen einfachen Grund. Es hängt mit ihrer Gesundheit zusammen:

Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte so arge Nervenschmerzen und Arthritis, daß ich nur noch wenig Arbeit verrichten konnte. Ich mußte mich aber immer beschäftigen, um die Zeit zu vertreiben. Zuerst versuchte ich es mit gestickten Bildern, dann ging ich zu Ölmalerei über. Und jetzt male ich beinahe die ganze Zeit. Es ist eine sehr angenehme Liebhaberei, wenn man sich nicht beeilen muß. Ich lasse mir gern Zeit, um alles richtig zu Ende zu bringen. Anfangs habe ich nur zum Vergnügen gemalt. Dann aber wurde mehr von mir verlangt, als ich tun konnte, um meinen Versprechungen nachzukommen.

Welchen Versprechungen?

Unsere Künstlerin behält ihre Tätigkeit nicht für sich, sondern zeigt ihre Kreationen im Familien- und Bekanntenkreis herum, verschenkt hie und da etwas an Leute, die daran Gefallen finden, läßt sich das eine oder andere auch für ein paar Dollar abkaufen. Das Material, das sie für ihre ersten Arbeiten verwendet, könnte schlichter nicht sein: ein Stück Leinwand zum Beispiel, das beim Flicken der Schutzdecke für die Dreschmaschine übriggeblieben ist, oder ein Holzbrett, das im Gerümpelschuppen herumliegt. Auch die Farben braucht sie nicht extra zu kaufen: Es sind die Reste, die vom letzten Anstrich der Haus- und Zimmerwände übriggeblieben sind.

Der Zuspruch, den ihre ersten Malversuche finden, ermutigt Anna Mary eines Tages dazu, die Inhaberin des Drugstores im Nachbarort Hoosick Falls, wo sie ihr Petroleum, ihr Waschpulver und ihr Speisesoda kauft, um die Gefälligkeit zu bitten, ein paar ihrer Bildchen ins Schaufenster zu hängen. Das lockt Kunden aus dem Ort an und bald auch Kunden, die sich nicht bloß mit dem Angebotenen begnügen, sondern eigene Wünsche äußern: Ob Mrs. Moses nicht vielleicht bereit wäre, ein Haus, eine Landschaft, eine Szene ihrer Wahl zu malen? Die ersten Aufträge …

Dabei würde es wahrscheinlich bleiben, verschlüge es nicht um Ostern 1938 den New Yorker Kunstsammler Louis Caldor in das kleine Hoosick Falls: Der fremde Besucher wird auf die »Ausstellung« in der Auslage des Drugstores aufmerksam, betritt den kleinen Laden, sieht dort weitere Bilder der ihm noch Unbekannten, äußert sein Entzücken, fragt nach der Adresse, sucht Anna Mary in ihrem Haus auf, fordert die Künstlerin dazu auf, mit ihrer Arbeit...

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