VORWORT
Fast ein Idol
»Mehr als jemanden sonst habe ich diesen Menschen nahezu abgöttisch geliebt«, schrieb der Elisabethanische Dramatiker Ben Jonson. »Dieser Mensch« war Jonsons Freund und Lehrer William Shakespeare. Beide waren sie erfolgreiche Dramatiker – Jonson: gebildet und gelehrt, Shakespeare: draufgängerisch und genial. Eifersucht aufeinander war den beiden fremd. Als Jonson zu schreiben begann, wurden die Stücke des neun Jahre älteren Shakespeare bereits mit großem Erfolg auf den Londoner Bühnen aufgeführt. Er war, wie Jonson einmal sagte, »ehrlich und hatte ein offenes und freimütiges Wesen« und half seinem jüngeren Freund mit Rat und Tat. Wohl am wichtigsten war, daß er eine der Hauptrollen in Jonsons erstem Stück, Every Man in His Humour1 übernahm, das 1598 uraufgeführt und ein durchschlagender Erfolg wurde. Es markierte den Beginn von Jonsons Karriere; er war damals fünfundzwanzig, sein Freund vierunddreißig. In der Folgezeit schrieb Jonson weiterhin Gedichte und Dramen; viele seiner Theaterstücke wurden von Shakespeares Truppe aufgeführt. Als Dichter und Gelehrter erlangte Jonson eigenständig Ruhm, und nach seinem Tod ehrte man ihn mit einem Begräbnis in der Westminster Abbey. Doch nie vergaß er, was er seinem alten Freund verdankte. Als Shakespeare starb, verfaßte Jonson das Gedicht To the Memory of My Beloved Master William Shakespeare2; einige Zeilen erlangten Berühmtheit:
»Nicht unsrer Zeit gehört’ er an, war über aller Zeit.«
»Kaum kanntest du Latein noch weniger das Griechisch,
So daß, zu ehren dich, nach Namen ich nicht suche.
Aufrufe vielmehr jene Wortgewaltigen: den Aischylos
Euripides und Sophokles …
Zu neuem Leben, daß dein’ Kothurn sie stampfen hören.«
»War doch Natur selbst stolz auf seine Werke,
Und schwelgte im Gewande seiner Zeilen …
Doch schenkt Natur nicht alles: Deiner Kunst,
mein holder Shakespeare, gebührt der gleiche Ruhm.
Mag die Natur auch Stoff dem Dichter sein,
Sein’ Kunst verleiht ihr Form; er wirket dann
im Schweiße dieser Last die lebensvollen Worte …
Wohl wahr: ein guter Dichter schafft sich selbst,
In gleichem Maß, wie er geboren wird.«
Was haben Jonson und Shakespeare mit Richard Feynman zu tun? Ganz einfach – wie Jonson kann ich sagen: »Mehr als jemanden sonst habe ich diesen Menschen nahezu abgöttisch geliebt.« Vom Schicksal war mir das ungeheure Glück beschieden, Feynman als Lehrer zu haben. Als ich, der gebildete, gelehrte Student, 1947 aus England an die Cornell University kam, war ich vom ersten Augenblick an von der ungestümen Genialität Feynmans hingerissen. In jugendlicher Überheblichkeit kam ich zu dem Schluß, ich könnte für Feynman das sein, was Jonson einst für Shakespeare war. Zwar hatte ich nicht damit gerechnet, ausgerechnet in Amerika Shakespeare zu begegnen, doch als ich ihn sah, fiel es mir nicht weiter schwer, ihn zu erkennen.
Ehe ich Feynman kennenlernte, hatte ich bereits eine Reihe mathematischer Abhandlungen voll raffinierter Gedankenspielereien veröffentlicht, die jedoch ohne jegliche Bedeutung waren. Als ich dann Feynman begegnete, war mir schlagartig klar, ich war in eine andere Welt eingetreten. Ihm lag nichts daran, hübsche Traktate zu veröffentlichen. Er rang, angespannter als ich je irgend jemanden kämpfen sah, um ein Verständnis dessen, wie die Natur funktioniert, indem er die Physik von Grund auf umgestaltete. Ich kann von Glück reden, daß ich ihn zu einem Zeitpunkt kennenlernte, als dieser acht Jahre währende Kampf sich seinem Ende näherte. Die neue Physik, die sieben Jahre zuvor, als er noch Schüler John Wheelers gewesen war, in seinen Gedanken allmählich Gestalt angenommen hatte, verschmolz endlich zu einer in sich geschlossenen Vorstellung von Natur, zu einer Sichtweise, die er als den »Raum-Zeit-Ansatz« bezeichnete. 1947 war diese Vision noch nicht ganz zu Ende gedacht, steckte voller offener Fragen und Widersprüchlichkeiten. Doch ich wußte sofort, sie mußte einfach richtig sein. Ich nutzte jede Gelegenheit, Feynman zuzuhören, in der Flut seiner Ideen schwimmen zu lernen. Und er redete gerne, hieß mich als Zuhörer willkommen. So wurden wir Freunde fürs Leben.
Ein Jahr lang sah ich zu, wie Feynman seine Methode, die Natur mittels Bildern und Diagrammen zu beschreiben, vervollkommnete, bis er alle losen Enden verknüpft und alle Widersprüchlichkeiten ausgeräumt hatte. Dann stellte er anhand seiner Diagramme Berechnungen an. Mit erstaunlicher Schnelligkeit berechnete er physikalische Größen, die er unmittelbar mit Experimenten vergleichen konnte. Und deren Ergebnissen stimmten mit den von ihm berechneten Zahlen überein. Im Sommer 1948 wurden Jonsons Worte wahr: »War doch Natur selbst stolz auf seine Werke / Und schwelgte im Gewande seiner Zeilen …«
Im selben Jahr, als ich mich oft und lange mit Feynman unterhielt, las ich auch die Arbeiten der beiden Physiker Schwinger und Tomonaga, die eher konventionellen Pfaden folgten, jedoch zu ähnlichen Ergebnissen gelangten. Mit ihren umständlicheren, komplizierteren Verfahren hatten Schwinger und Tomonaga jeder für sich ihr Ziel erreicht und zogen die gleichen Schlußfolgerungen, wie Feynman sie unmittelbar aus seinen Diagrammen ablesen konnte. Schwinger und Tomonaga begründeten keine neue Physik: Sie bedienten sich der Physik, die sie vorfanden, und führten lediglich neue mathematische Berechnungsmethoden ein, um aus der Physik bestimmte Zahlen abzuleiten. Als sich zeigte, die Ergebnisse ihrer Berechnungen stimmten mit den Zahlen Feynmans überein, war mir klar: Hier bot sich die einmalige Gelegenheit, die drei Theorien zusammenzubringen. Ich schrieb eine Abhandlung mit dem Titel: »The Radiation Theories of Tomonaga, Schwinger and Feynman«3, in der ich darlegte, warum die Theorien zwar anders aussahen, im Grunde genommen jedoch auf das gleiche hinausliefen. Der Aufsatz wurde 1949 in der Physical Review veröffentlicht und gab auf ebenso entscheidende Weise den Anstoß zu meiner Karriere wie Every Man in His Humour derjenigen Jonsons. Damals war ich, wie Jonson, fünfundzwanzig. Feynman war einunddreißig, drei Jahre jünger, als Shakespeare 1598 gewesen war. Ich legte großen Wert darauf, meinen drei Protagonisten mit dem gleichen Respekt, der gleichen Hochachtung zu begegnen, doch im Grunde war mir klar, Feynman überragte die beiden anderen, und mein vorrangiges Anliegen war es, mit meiner Abhandlung seine revolutionären Ideen Physikern auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. Feynman ermutigte mich begeistert, seine Vorstellungen zu veröffentlichen, und beklagte sich nie, daß ich ihm sozusagen die Schau stahl. Er war der Hauptdarsteller in meinem Stück.
Wie einen Schatz hütete ich etwas, das ich aus England mit nach Amerika gebracht hatte. The Essential Shakespeare von J. Dover Wilson, eine knapp gefaßte Shakespeare-Biographie4, ein Buch, das irgendwo zwischen Roman und einer geschichtlichen Darstellung angesiedelt ist; es gründet auf Zeugnissen aus erster Hand, das heißt von Jonson und anderen. Allerdings nutzte Wilson seine Vorstellungskraft in Verbindung mit den spärlichen historischen Dokumenten, um Shakespeare neu zum Leben zu erwecken. Beispielsweise findet sich der erste Nachweis, daß Shakespeare in Jonsons Stück auftrat, in einem aus dem Jahre 1709 datierten Schriftstück, das also mehr als hundert Jahre später verfaßt wurde. Wie wir wissen, war Shakespeare als Schauspieler ebenso berühmt wie als Stückeschreiber, und ich sehe keinen Grund, warum ich die überlieferte Geschichte, so wie Wilson sie erzählt, anzweifeln sollte.
Gücklicherweise sind die Dokumente, die Hinweise auf Feynmans Leben und Denken liefern, nicht so karg. Der vorliegende Band ist eine Zusammenstellung solcher Zeugnisse; in ihnen hören wir den authentischen Feynman, wie er in seinen Vorlesungen und gelegentlichen Schriften zu Wort kam. Es handelt sich um zwanglose Äußerungen, die eher an ein allgemeines Publikum als an seine Kollegen aus der Wissenschaft gerichtet sind. In ihnen erleben wir Feynman so, wie er war: Stets spielte er mit Ideen, doch das, was wirklich für ihn zählte, nahm er immer ernst: Aufrichtigkeit, Unabhängigkeit, die Bereitschaft, Unwissenheit einzugestehen. Er verabscheute gesellschaftliche Rangordnungen und genoß die Freundschaft mit Leuten aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Wie Shakespeare war er ein Schauspieler mit einer Neigung zum Komödiantischen.
Neben seiner schier unermeßlichen Leidenschaft für Naturwissenschaften war Feynman handfesten Scherzen und ganz normalen menschlichen Vergnügungen alles andere als abgeneigt. Eine Woche nachdem ich ihn kennengelernt hatte, beschrieb ich ihn in einem Brief an meine Eltern in England als »halb Genie, halb Clown«. In den kurzen Pausen zwischen seinen heroischen Kämpfen um ein Verständnis der Naturgesetze entspannte er sich gern in Gesellschaft von Freunden, spielte auf seiner Bongo, unterhielt die anderen mit kleinen Spielereien und Geschichten. Auch darin ähnelte er Shakespeare. Aus Wilsons Buch zitiere ich, was Jonson über diesen schrieb:
»Sobald er sich ans Schreiben gemacht hatte, arbeitete er Tag und Nacht durch, trieb sich selber ohne Unterlaß bis zur Bewußtlosigkeit an: doch war er dann fertig, gab er sich erneut aller nur erdenklichen Kurzweil und zügellosem Lebensgenuß hin. Schier unmöglich war es, ihn wieder ans Schreibpult zurückzuholen; doch kaum wieder dort, war er nach der Entspannung noch stärker, noch ernster.«
Das war Shakespeare, und das war auch jener Feynman, den ich kannte und schätzte: fast ein Idol.
Freeman...