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E-Book

Die Insel des ewigen Frühlings

Wie ich auf La Réunion meine zweite Heimat fand

AutorBirgit Weidt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492959773
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
La Réunion, die kleine französische Insel im Indischen Ozean, ist weltberühmt für ihre Vanille und aufgrund ihrer landschaftlichen Vielfalt unter Wanderern längst schon kein Geheimtipp mehr. Um der Frage nachzugehen, warum die Insel sie so fasziniert, begibt sich Birgit Weidt auf eine dreimonatige Erkundungsreise zu kreolischen Schatzsuchern und Salzarbeitern, aktiven Vulkanen und duftenden Vanilleplantagen und einer Gruppe deutscher Wissenschaftler aus Brandenburg, die ihren ganz eigenen Inseltraum verfolgen ...

Birgit Weidt lebt in Berlin und schreibt Reisereportagen u. a. für Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Emotion, Brigitte und Abenteuer & Reisen. Jüngst wurde sie für eine ihrer Reportagen mit dem unabhängigen Journalistenpreis des Niederländischen Büros für Tourismus & Convention ausgezeichnet.

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Leseprobe

Berlin/Saint-Denis:
Wer nicht winkt, wird stehen gelassen

Seit Wochen braust ein eisiger Wind durch Berlin, zeichnet mit kantigem Strich Eisblumen an mein Fenster. Er fegt bereits am Nachmittag die Straßen leer. Dicker Schnee fällt und schluckt den Großstadtlärm: kaum hörbar heute das Quietschen bremsender LKW vor der roten Ampel, der Knall abgeladener Kisten vor dem Supermarkt, das überdrehte Kreischen der Kinder nach Unterrichtsschluss. Lediglich die Flugzeuge beginnen wie immer ihren Sinkflug Richtung Flughafen Tegel, ein fernes Brummen, an das ich mich gewöhnt habe.

An einem Morgen wie diesen wickle ich mich in meinen flauschigen Mantel, schiebe den roten Rollkoffer auf den Flur, schultere meinen fest verschnürten Trekkingrucksack, vollgepackt mit Wanderkarten, Schreibzeug, Fotoapparat und Jonglierbällen, und ziehe die Tür hinter mir zu. Für drei Monate, vielleicht auch länger. Zeit genug, um meinen bisherigen Alltag mit seinen gewohnten Abläufen und eingefahrenen Mustern zu unterbrechen. Ich muss raus, weg, mich anregen, durcheinanderbringen lassen. Eine Transitzeit lang. Ich sehne mich nach einem Zwischenraum in den sich aneinanderreihenden Jahren.

Wie vereinbart, klingle ich bei der Nachbarin, um ihr meinen Wohnungsschlüssel anzuvertrauen.

»Bleibst du lange weg?«, fragt der kleine Junge auf ihrem Arm und zupft dabei an seinen blonden Locken. Ich nicke.

»So lange?« Er reckt seine dünnen Ärmchen nach beiden Seiten, als wolle er die Eingangstür abmessen. Ich breite meine Arme im Treppenhaus aus. Sein Gesicht wird ernst.

»Oh, so lange! Und wer wird dich da lieb haben?«

Auf diesen Augenblick habe ich elf Stunden Flug, ach was, habe ich Wochen, Monate, ja eigentlich die Hälfte meines Lebens gewartet: Die automatische Glastür des Flughafengebäudes öffnet sich, ich schreite in den strahlenden Morgen mit dem prickelnd schönen Gefühl, La Réunion so schnell nicht wieder verlassen zu müssen. Wenn schon nicht für ewig, dann doch wenigstens solange das Geld reicht! Für eine große Liebe plündere ich schon mal mein Konto. Nicht, weil sich meine sonst allgegenwärtige Vorsicht mit stetigem Abwägen und Durchrechnen über Nacht verflüchtigt hätte; nein, ganz einfach weil es mir dieses eine Mal leichtfällt, für die Lust, für die Reiselust nicht alles, aber doch eine Menge aufs Spiel zu setzen. Ich habe mich von meinen Auftraggebern abgemeldet, mein Sparkonto aufgelöst und meiner Tochter das notwendige Taschengeld für die nächsten Monate überwiesen.

Nicht oft, aber manchmal hatte ich sie, diese Gewissheit: Selbst wenn im schlimmsten Fall alles gar nicht so wird, wie ich es mir erhofft und ausgemalt habe, werde ich keinen dieser Tage missen wollen. Es ist wie mit der Liebe – sie schleicht sich auf leisen Sohlen heran, ist plötzlich da, nimmt mich vollends gefangen, und ich tue dann alles dafür.

Die im Sonnenlicht glitzernden Palmenwedel flattern im Wind. Hinter dem großen Parkplatz ragen zwei kantige Berge in den tiefblauen Himmel, die aussehen, als wollten sie ihre Nasenspitzen in die Wolken schieben.

Ich will mit dem Bus in die Hauptstadt Saint-Denis fahren, um mir ein Auto zu mieten. Dort ist es preiswerter als direkt am Flughafen. Es ist das erste Mal, dass ich auf La Réunion den Bus nehme. Ich bin hier gewandert, geritten, auf klapprigen Geländewagen übers Land gezuckelt, mit dem modernsten Helikopter geflogen, selbst mit einem Gleitschirm über die Insel geschwebt, aber das Nächstliegende, mit einem Bus zu fahren, das war mir bislang nicht in den Sinn gekommen.

Doch bevor ich nach der Haltestelle Ausschau halte, kehre ich um, laufe zurück in das Flughafengebäude, um Jeans, Pullover und Stiefel gegen Rock, T-Shirt und Badelatschen auszutauschen. Klicke den Rucksack wieder zu und fühle mich befreit.

Vor dem Flughafengebäude trennen sich die Wege: Urlauber eilen, ihre Koffer hinter sich her ziehend, nach rechts zur Autovermietung; Einheimische, die von ihren Familien mit Küsschen links, Küsschen rechts begrüßt werden, versuchen ihr Auto aus dem Meer der parkenden weißen Kleinwagen herauszufinden; und nur eine Minderheit nicht motorisierter Ankömmlinge versammeln sich an der Bushaltestelle auf der schräg gegenüberliegenden Seite. Ein paar Touristen, zwei Kreolinnen und ich.

Wenig später hält ein gelber Expressbus. Ich schiebe mein Gepäck in den Bauch des schnittigen Autobusses und zahle beim Fahrer, der aussieht, als würde er zu einer Geburtstagsfeier fahren – schwarze Hose, rosa Hemd, goldene Kette, fein geöltes, nach Sandelholz duftendes Haar. Dann geht es los, die Fenster weit heruntergelassen, der Fahrtwind trocknet mein Gesicht und wuschelt in meinen Haaren. Der Sitz ist gut gepolstert, ich lehne mich zurück und schaue hinaus: Kreisverkehr, Autobahn, auf der einen Seite die Bergsilhouette. Dahinter ein hellblauer Horizont. Auf der gegenüberliegenden Seite das Meer, glitzernd, mit vielen kleinen weißen Schaumkronen. Direkt an der Autobahn, hinter einer kalkweißen Mauer ein lang gezogener, mit roten Blumen geschmückter Friedhof. Gegenüber die ersten Häuser von Saint-Denis, dann Stau, Ampeln, es geht nur langsam, stockend voran. Ein bisschen ernüchternd: Ich freue mich auf Meer, Palmen und Berge, und das erste französische Wort, was ich neu lerne, ist bouchon – Stau. Aber warum soll es hier anders sein als in anderen großen Städten? Nur weil die Stadt auf einer Insel liegt, mitten im Indischen Ozean?

Ich überlege, wo ich aussteigen muss, und suche schon mal einen Signalknopf, um dem Fahrer ein Zeichen zum Anhalten zu geben. Endlich finde ich ihn am Rand der Sitzreihe, doch er sieht aus wie eine Attrappe, blinkt funkelnagelneu, schaut mich an wie ein falscher Freund, der sich eingeschmuggelt hat. Er passt einfach nicht zum sonstigen bereits abgeschubberten Innenleben des Busses. Ich drücke. Nichts.

Der Alte neben mir faltet die Zeitung zusammen, setzt seinen Hut auf und klatscht zwei Mal in die Hände. Eine Frau hinter mir und zwei Mädchen vor mir folgen seinem Beispiel. Der Bus hält an der nächsten Station, die vier steigen aus. Als wir wieder ein Stück weitergefahren sind, klatsche ich zaghaft, obwohl ich nicht weiß, ob ich hier aussteigen muss. Als Test einer Unwissenden. Der Fahrer hält. Niemand, der zur Tür läuft. Stille, nur der Motor grummelt im Leerlauf wie ein Betonmischer. Ich ziehe den Kopf ein, rutsche etwas tiefer in meinen Sitz nach dem Motto: Ich war’s nicht. Doch es irritiert niemanden.

Kurz darauf klatsche ich noch mal und steige aus. Zwar eine Haltestelle zu früh, aber um eine Erfahrung klüger.

»Wann haben Sie zuletzt geküsst?«

Der Mietwagen-Mann schaut mich an, arglos, so als hätte er nach der Uhrzeit gefragt.

»Und Sie?«, kontere ich.

»Kann mich nicht mehr erinnern.«

Na, das glaube ich dir nicht, denke ich. Sonst würdest du nicht so herausfordernd und selbstbewusst fragen. Der Mietwagen-Mann schiebt sich an seinem mit gefalteten und zerknitterten Formularen übersäten Schreibtisch vorbei und streckt mir mit einem feierlichen Ausdruck die Hand entgegen: »Ich bin Paco.«

Dann zwinkert er mir zu. »Wollte Sie ein bisschen aufmuntern, Sie sehen so verdammt ernst aus. Das hier ist kein Beerdigungsinstitut. Und ein bisschen Flirten steigert den Umsatz. Sie sind Deutsche?«

»Weil ich so ernst schaue?«

»Nein, das höre ich am Akzent, kehlig, trocken, etwas rau. Bei Frauen klingt das nach Abenteuer, für mich jedenfalls, irgendwie exotisch.«

»Exotisch?«

»Klar, alles was sich jenseits der Insel abspielt, ist exotisch!«

Paco hält mir immer noch seine ausgestreckte Hand hin, ich schlage ein. Sein Händedruck ist kräftig, er braucht wohl in keinem Fitnessstudio Hanteln zu stemmen. Es genügte, Autos für die Reparatur hochzuleiern, Räder zu wechseln, am Motor herumzuschrauben. Ich sehe aus dem Fenster: Zwei weitere Monteure liegen unter einer alten Karosse, die fast völlig auseinandergenommen wurde, keine Räder, keine Türen … offenbar gibt es immer etwas zu tun, denn alle Modelle auf dem Hof haben zehn Jahre und mehr auf dem Buckel.

Paco schiebt mit dem linken Zeigefinger seine Sonnenbrille die Nase hinauf: Gläser, groß wie Tennisbälle und so dunkel, dass ich seine Augen nicht erkennen kann. Die Sonnenbrille nimmt er nicht ab, dafür seine mit Nieten gespickte Schirmmütze zum gespielten Gruß mit kleiner Verbeugung. Dann legt er das gute Stück, das aussieht wie ein kleines Sitzkissen, auf den Stuhl und pflanzt sich drauf. Die zusammengebundenen langen Haare lösen sich und fallen zu beiden Seiten auf seine breiten Schultern. Er trägt ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd, das bis zu den Knien reicht, darunter eine weiße Leinenhose und rote Turnschuhe. In seinen Ohrläppchen blinken kleine Stecker mit silbernen Geckos, und am Hals schimmern blaue Tattoo-Sterne.

»Für Sie mache ich einen Rabatt von zehn Prozent!« Der charmante Draufgänger schnalzt mit der Zunge. Ich bekomme einen Renault Clio.

»Hier eine Flasche Leitungswasser gratis, aber nicht trinken! Die Scheibenwaschanlage funktioniert nicht mehr, einfach ab und zu rüberschütten, dann sehen Sie wieder klar. Die Klimaanlage geht auch nicht, ist auch besser, so gewöhnen Sie sich gleich an die Hitze.«

Pacos Büro ist ein gelbgrün angestrichener Container, fensterlos, aber mit zwei weit geöffneten Türen, die für einen kräftigen Durchzug sorgen. Eine Rumpelbude, das Einzige, was hier wirklich neu aussieht, liegt neben der Kasse: sein Lesegerät für Kreditkarten und der Lautsprecher für den MP3-Player. Es läuft Bob Marley: »Reggae nicht nur für Rastermann«, erklärt er. »Auch für Schrauber wie mich, da geht mir die Arbeit...

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