DIE HERAUSFORDERUNG CHRONISCHER SCHMERZ
DIESE HERAUSFORDERUNG STELLT SICH zunächst für den Patienten selbst, der erlebt, wie der Schmerz immer größere Anteile seines Alltags besetzt. Am Anfang greift der Schmerz vielleicht nur leicht in seine alltäglichen Aktivitäten ein, z. B. indem der Betroffene spürt, dass längeres Stehen am Arbeitsplatz, langes Sitzen beim Autofahren oder auch Haushaltsaktivitäten schmerzhaft eingeschränkt sind. Er leidet daran, dass für ihn eigentlich ganz normale Funktionen gestört sind. Im Verlauf kann der Wunsch entstehen, etwas zu unternehmen, damit das Symptom verschwindet, z. B. durch die Einnahme von Schmerzmitteln.
Doch oft wirken diese nur anfangs, im weiteren Verlauf immer weniger, und auch die Erfahrung, dass Medikamente irgendwann nicht mehr wirken, wird schmerzlich erlebt. Später müssen viele Betroffene erleben, wie der Schmerz als scheinbar selbstständig handelnder Täter immer mehr Zugriff auf immer mehr Bereiche des Alltags gewinnt und sie nichts daran ändern können.
Häufig schildern meine Patienten, wie am Anfang der Schmerz kam und wieder ging, wie er dann immer öfter kam und immer länger blieb, bis zum Dauerschmerz, »der einfach nicht mehr wegging« (gerade hier wird deutlich, dass Schmerz als handelndes Subjekt erlebt wird). Je mehr Zeit mit dem Schmerz verbracht wird, wenn dieser auch nachts nicht lockerlässt und gar die Nachtruhe unterbricht (Schlafstörungen sind ein sehr häufiges Begleitsymptom bei chronischen Schmerzen), desto größer sind die Auswirkungen auf die persönliche Erholungs- und Regenerationsfähigkeit.
Diese erlebte Zermürbung hat ihrerseits weitergehende Folgen und verstärkt den erlebten Schmerz im Sinne eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs. Immer wieder beschreiben Patienten eine Zunahme ihrer Schmerzintensität von einem anfänglichen, gelegentlichen leichten Flüstern über ein Anzischen, ein Anherrschen, dem jeweils noch entgegnet werden kann. Später wird daraus ein vorwurfsvolles Anklagen, das vielleicht zeitweise noch besänftigt werden kann, bis der Schmerz den Betroffenen sozusagen anschreit. Bis diesem nichts mehr anderes übrigbleibt, als sich bildlich gesprochen die Ohren zuzuhalten und sich zu verkriechen.2
Die gleiche Zunahme erfahren Patienten auch auf der Ebene der räumlichen Ausdehnung. Zunächst eng begrenzte schmerzhafte Areale werden größer, auch zahlreicher. Erlebt wird, wie bisher friedliche Körperbereiche angegriffen und besetzt werden, »es breitet sich aus«, bis hin zu Schmerzerkrankungen, bei denen in sämtlichen Körperregionen ein Schmerzempfinden vorhanden ist.
Patienten erzählen, wie sie ihren Schmerz als übermächtiges Etwas mit Handlungs- und Bestimmungsmacht erleben, das Besitz von ihnen ergreift. Ihr Schmerz wird so zum feindlichen Gegenüber, das bekämpft werden muss. Und für diesen Kampf gilt es, sich Unterstützer zu besorgen, die in der Lage sind, ihrerseits mächtige Waffen gegen den Gegner Schmerz einzusetzen. Im englischen Sprachraum werden Schmerzmittel dementsprechend als »painkillers« (wörtlich: Schmerztöter) bezeichnet.
Eine große Herausforderung stellt das Leiden an chronischen Schmerzen auch für diejenigen dar, die dank ihrer Ausbildung in der Lage sein sollten, Schmerz mit einem ganzen Arsenal3 von Maßnahmen zu bekämpfen. Leider taugen diese Maßnahmen in der Regel nur zur Behandlung von akuten Schmerzen. Hier kommt es nämlich auf zügigen Wirkungseintritt, Entzündungshemmung, Reparatur von Beschädigungen etc. an, und hier sind diese Maßnahmen außerordentlich erfolgreich.
In der Behandlung von chronischen Schmerzen gelten, und das ist wissenschaftlich schon lange gesichert, allerdings vollkommen andere Bedingungen, und der Großteil dieses Buchs wird darauf abzielen, diese Bedingungen deutlich und verstehbar zu machen.
RICHARD A. DEYO, Professor für Evidence-based Medicine an der Oregon Health & Science University, also einer der Mediziner, die sich mit dem Nachweis der Wirksamkeit (oder eben auch Unwirksamkeit) einzelner Behandlungsmaßnahmen beschäftigen, wird hier ganz deutlich: »There is no magic bull for chronic back pain, and expecting a cure from a drug, injection, or operation in chronic low back pain is generally wishful thinking.« [0-1] Auf Deutsch: Es gibt keine Zauberformel für chronische Rückenschmerzen, und die Erwartung von Heilung durch ein Medikament, eine Injektion oder eine Operation bleibt in jedem Fall bloßes Wunschdenken. [Übers. durch Verf.]
Chronifizierung
WERFEN WIR EINEN BLICK DARAUF, wie die Gesundheitswelt der westlichen Industriestaaten funktioniert: Die Basis liefert eine technisierte Apparatemedizin mit einem vorherrschenden technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Blick auf den Menschen. In diesem Medizinsystem gelangen Patienten mit beginnend chronisch werdenden Schmerzen in die Behandlung von Ärzten, die mittels ihrer apparativen Diagnostik (Röntgen, CT, MRT, Labor u. v. m.) und auch ihrer persönlichen Untersuchung in der Lage sind, jede körperliche Normabweichung zu erfassen und zu dokumentieren.
Diese Behandler sind jedoch nicht hinreichend dafür ausgebildet, die für die Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung wesentlichen Faktoren überhaupt in den Blick zu bekommen. Sie leisten mittels ihrer Methodik viel mehr selbst einen wesentlichen Beitrag zur Verschlimmerung in Richtung einer weiteren Chronifizierung, eines verstärkten Chronischwerdens mit im Verlauf steigender Notwendigkeit für eine immer aufwendigere Behandlung.4
Zwar gehört der Umgang mit dem gesamten Bereich der chronischen Erkrankungen (nicht nur in der Schmerzmedizin, sondern in allen anderen Bereichen ärztlicher Heilkunst) zu den traditionellen und wesentlichen ärztlichen Arbeitsfeldern gerade auch in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft, allerdings werden die speziellen hierzu erforderlichen Qualitäten des Therapeuten sowohl in der aktuellen Ausbildungslandschaft als auch im Medizinbetrieb weder ausreichend gefördert noch ausreichend honoriert.
Wo das Problem des Behandelten mit dem Werkzeug des Behandlers nicht zusammenpasst, ist Scheitern bei der Problemlösung häufig. Stellen Sie sich vor, wie ein an Schmerzen leidender Mensch sich vertrauensvoll in Behandlung begibt und erlebt, dass diese ihm nichts nützt. Wenn das sogar mehrfach passiert, wenn die Behandlung mehrfach scheitert, dann kann der Griff nach dem Strohhalm zu einer routinierten Handlung werden, trotz wiederholter Erfahrung, dass ein Halm eben keinen sicheren Halt bietet. Wie oft lesen wir gerade in Werbeanzeigen, aber auch in zahlreichen Medien Heilsversprechungen der Art »Schmerzfrei in ABC Wochen mit der Methode XYZ!«. Wie oft bekommen Menschen mit chronischen Schmerzerkrankungen sogenannte Empfehlungen aus ihrer persönlichen Umgebung wie »Nimm doch mal ein richtiges Schmerzmittel!« oder auch »Mach doch mal dies oder jenes, das hat doch XY auch geholfen!« und erleben diesen doch nur gut gemeinten vermeintlichen Ratschlag als Entwertung. Logisch, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, Ablehnung spüren und dadurch ihre Hilflosigkeit verstärkt, geradezu zementiert wird. Vertröstungen durch Ärzte (»In sechs Wochen müsste es eigentlich viel besser sein«) lassen wertvolle Zeit verstreichen.
Patienten erleben den von ihrem Behandler gesprochenen Satz »Ich kann (ersatzweise auch »wir können«) nichts mehr für sie tun« wie einen Niederschlag, der das Gefühl entstehen lässt, die eigenen Wünsche an ein normal lebbares Leben mit einer vorher für selbstverständlich gehaltenen Lebensqualität beerdigen zu müssen.
Das Biotop
NICHT NUR FÜR DIE PATIENTEN und ihre Behandler, sondern gerade auch für die Umgebung, insbesondere für die Angehörigen von Schmerzpatienten, stellt chronischer Schmerz eine große Herausforderung dar. Oft sind die Angehörigen in das Hilflosigkeitserleben eingebunden, auch ihr Alltag wird durch die Schmerzerkrankung ihres leidenden Familienmitglieds erheblich beeinträchtigt. Partner, Kinder, Eltern und Freunde (oft bleiben nicht mehr viele übrig!) leisten einen oft beträchtlichen zeitlichen Aufwand, sei es als Begleiter, Transporteur, Versorger etc. Häufig tragen sie vielfältige zusätzliche Belastungen durch eigene Mehrarbeit, Versorgungsleistungen und Einschränkungen der eigenen Freizeit. Gerade in fortgeschrittenen Stadien der Schmerzerkrankung leiden alle Beteiligten unter den finanziellen Einbußen, die durch Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder sogar Erwerbsunfähigkeit hervorgerufen werden (und auch unter den sehr oft erlittenen Entwertungserfahrungen innerhalb von Rentenverfahren). Nicht zuletzt entsteht Leidensdruck bei Angehörigen, wenn sie erleben müssen, dass eine früher ganz...