Es ist im Prinzip nicht möglich, eine exakte Definition zu liefern, was „normales“ Essverhalten ist und ab wann genau die Grenze zu einer Essstörung gezogen werden kann. Gerade in der heutigen Zeit, wo Diäten als völlig gesellschaftsfähig empfunden werden, fällt es schwer, eine klare Linie zu ziehen. Es gibt jedoch charakteristische Verhaltensweisen und Muster in Hinblick auf die Körperwahrnehmung und Gedankengänge, die ganz typisch für eine Essstörung sind. Allen Essstörungen gemeinsam ist zum Beispiel die permanente Fixierung des Denkens auf das Essen und der zwanghafte, suchtartige Umgang mit Nahrung und dem Körpergewicht. Dennoch werden diese Krankheitsbilder in der Medizin nicht als Süchte klassifiziert, sondern als psychische oder psychosomatische Erkrankungen eingestuft, was auf den entscheidenden Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Ebene dieser Phänomene verweist. Gewisse Parallelen zu Suchterkrankungen sind in jedem Fall gegeben, so zum Beispiel die Tatsache, dass Essstörungen von den Betroffenen heruntergespielt werden und in aller Heimlichkeit stattfinden (vgl. Stierle In: Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart 2001, S.1).
Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen drei Hauptformen von Essstörungen: Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und Ess-Sucht (Binge Eating Disorder) (vgl. Gerlinghoff/ Backmund o. J., S. 15). Diese sollen im Folgenden näher beschrieben werden, wobei vorab bemerkt werden muss, dass die Symptome zwischen den Krankheitsbildern sich häufig mischen, so dass man von fließenden Übergängen sprechen kann.
Im Anschluss an die drei oben genannten Krankheitsbilder soll auch auf die so genannte Orthorexia nervosa eingegangen werden, ein essspezifisches Phänomen, das erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat und besonders deutlich macht, wie fließend die Übergänge zwischen normalem, gesellschaftlich akzeptiertem Essverhalten und einer Essstörung sein können.
Bei dieser Form der Essstörung wird die Nahrungsaufnahme stark eingeschränkt bzw. bewusst verweigert. Oberstes Ziel ist der radikale Gewichtsverlust. Übersetzt man den Begriff Anorexia nervosa wörtlich, so spricht man von „nervöser Appetitlosigkeit“, eine Bezeichnung, die eigentlich irreführend ist, da die meisten Betroffenen durchaus Appetit verspüren, diesen aber unterdrücken oder leugnen (vgl. Raabe 2004, S. 6).
Um eine voll ausgeprägte Magersucht diagnostizieren zu können, braucht man gewisse Klassifikationssysteme. Auch wenn diese Schemata recht starr sind, sind sie dennoch für eine angemessene Verständigung unter Fachleuten unverzichtbar. Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme sind das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene ICD-10 („International Classification of Diseases“) sowie das von der Amerikanischen Psychiatriegesellschaft erarbeitete DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) (vgl. Gerlinghoff/ Backmund o. J., S. 15f.).
Entsprechend dieser beiden Klassifikationssysteme sind die Kernmerkmale einer voll ausgeprägten Magersucht wie folgt zu beschreiben:
Das Körpergewicht liegt mindestens 15% unter dem für das Alter und die Größe zu erwarteten Gewicht bzw. es liegt ein BMI <17,5 vor[3].
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch die Vermeidung von hochkalorischen Speisen, teilweise begleitet von selbst induziertem Erbrechen bzw. Abführen, übertriebener körperlicher Aktivität sowie dem Gebrauch von Appetitzüglern und/ oder Diuretika (Entwässerungsmittel).
Es liegt eine Körperschema-Störung vor. Charakteristisch hierfür ist die überwältigende Angst, zu dick zu werden und eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Selbst bei offensichtlichem Untergewicht nehmen sich die Betroffenen als „zu dick“ wahr.
Es liegt eine hormonelle Störung vor, die sich bei jungen Mädchen im Ausbleiben oder – bei präpubertärem Beginn – im Nichteinsetzen der Menstruation äußert und bei Männern als Libido – und Potenzverlust manifestiert (vgl. Raabe 2004, S. 7 sowie S. 114).
Trotz der bisher beschriebenen Symptome der Magersucht bleibt zu betonen, dass Ausprägung und Hintergründe der Erkrankung bei jedem Menschen anders gelagert sind. Es gibt durchaus Magersüchtige, die nicht alle geschilderten Merkmale aufweisen bzw. einige Symptome anders erleben. So zeigen manche Magersüchtige zum Beispiel Einsicht in die Tatsache, dass sie zu dünn sind. Der Punkt der Körperschema-Störung trifft hier also nicht zu. Dennoch fühlen sich diese Menschen unfähig, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen, um ihr Gewicht zu stabilisieren. Es wäre verfehlt anzunehmen, dass jemand, der einzelne Symptome anders erlebt als in den Klassifikationssystemen aufgeführt, demnach nicht an Magersucht leidet (vgl. Pauli/Steinhausen 2006, S. 13).
Die Diagnosekriterien für Magersucht wurden im Verlauf der letzten 20 Jahre immer wieder leicht modifiziert. Seit 1994 findet man im Klassifikationssystem DSM-IV die Unterscheidung von zwei Magersuchts-Typen, dem restriktiven und dem Binge-purging-Typ. Beim restriktiven Typ werden keine aktiven Maßnahmen zur Gewichtskontrolle wie Abführen oder Erbrechen durchgeführt, beim Binge-purging-Typ hingegen können die Hungerperioden teilweise unterbrochen werden, und es kommt zwischenzeitlich zu wiederholten Heißhungeranfällen mit anschließendem Erbrechen oder anderen Maßnahmen zur Gewichtskontrolle (vgl. Gerlinghoff/ Backmund o. J., S.16f.).
Neben den oben beschriebenen Symptomen der Magersucht sind oftmals auch noch folgende Besonderheiten zu beobachten:
Magersüchtige sind sehr angepasste und leistungsorientierte Schülerinnen, die sehr hohe Anforderungen an ihre (schulischen) Leistungen stellen. Ihr Streben nach Perfektionismus wird jedoch oftmals von Versagensängsten begleitet. Dies gilt auch für ihren Körper: Kontrolle über ihr Gewicht wird als Leistung erlebt, Essen und Gewichtszunahme hingegen als Schwäche.
Trotz weitgehender Nahrungsverweigerung kreisen die Gedanken der Betroffenen fast ununterbrochen um Essen und Gewicht. Häufig werden Kochbücher gelesen, Rezepte ausgesucht und Familienmitglieder und Freunde bekocht.
Magersüchtige sind sehr streng mit sich selbst und reagieren sehr empfindlich auf Zurückweisungen. Häufig können sie auch eigene Gefühle nicht beschreiben.
Betroffene verleugnen die körperlichen und seelischen Warnsignale ihres Körpers. Sie zeigen oft keine bzw. eine sehr geringe Krankheitseinsicht, was die Behandlung massiv erschwert.
Selbstwert und Identität von Magersüchtigen sind in extremem Maße an ihr Gewicht gekoppelt. Eine Gewichtszunahme käme einem Verlust ihres Selbst gleich (vgl. Preiß/ Wilser 2000, S. 8f.).
Auffällig ist, dass die Magersucht vor allem junge Mädchen in der frühen Pubertätsphase bis hin ins junge Erwachsenenalter betrifft. 95% aller Magersüchtigen sind weiblich (vgl. ebd., S. 8).
Man geht von ca. 1% betroffener Frauen im Alter von 12 bis 25 Jahren aus, wohingegen das Phänomen bei Männern 10 bis 15 Mal seltener vorkommt (vgl. Klinik für Psychosomatische Medizin Bad Grönenbach o. J., S. 4).
Oftmals beginnt der Einstieg in die Krankheit mit einer harmlosen Diät. Dabei ist zu beobachten, dass sich die Altersgrenze immer weiter nach unten verschiebt. „Untersuchungen haben gezeigt, dass sich heute ca. 50% der 11- bis 13- jährigen Mädchen als zu dick empfinden und ca. 40% der 11- bis 19- jährigen weiblichen Jugendlichen bereits eine Diät hinter sich haben“ (Pauli/Steinhausen 2006, S. 17). Ähnliche Ergebnisse gehen auch aus einer Studie von Gerlinghoff/ Backmund hervor, bei der 800 Schüler/innen der fünften Gymnasialstufe (im Schnitt waren die Kinder 10,8 Jahre alt) zu Körperzufriedenheit und Diäterfahrungen befragt wurden. Ergebnis war, dass 43% der befragten Kinder den Wunsch äußerten, dünner zu sein und 33% der Schüler/innen bereits Diätversuche hinter sich hatten (vgl. Gerlinhoff/ Backmund o. J., S. 14).
Die Erkrankung bricht meist im Alter zwischen 14 und 18 Jahren aus, wobei es auch immer mehr Fälle gibt mit Eintritt vor Beginn der Pubertät. Als ganz besonders gefährdete Risikogruppen für Magersucht gelten Balletttänzerinnen, Extremsportlerinnen und Models, bei denen ein zierlicher Körperbau zur optimalen Karriereförderung vorausgesetzt wird (vgl. Pauli/ Steinhausen 2006, S. 17).
Die gesundheitlichen Folgen der Krankheit sind gravierend. Hormonelle Veränderungen und das damit verbundene Ausbleiben oder Nicht-Eintreten der Monatsblutung werden häufig begleitet von Störungen im Magen-Darm-Trakt, einem Absinken des Blutdrucks...