Nachbarschaftliche Grenzüberschreitungen
Margarethe Lasinger
Als wir – Ilse Fischer, Hedwig Kainberger und ich – im Frühsommer 2015 im Café Bazar in Salzburg am Feinschliff der vierten Ausgabe des Symposions »Europa NEU denken« arbeiteten, hatte uns eine neue Realität längst eingeholt. Uns gegenüber saß Salim Chreiki, ein in seiner früheren Heimat höchst erfolgreicher und bekannter Schauspieler. Er war – wie viele Hunderttausende andere auch – aus Syrien geflohen und nun unweit von Salzburg in einer Flüchtlingsunterkunft gestrandet.
Mit Händen und Füßen, einigen englischen Floskeln und ein paar Brocken Deutsch erzählte er von seiner Flucht, von seinen Ängsten und Hoffnungen und wie er sich sein Leben nun neu denken wolle. Aus einem Notizblock holte er ein Blatt hervor, auf dem er in arabischer Schrift seine Gedanken notiert hatte, und zugleich bemühte er sich, diese in ihm noch fremden Worten und Zeichen darzustellen: »wir haben eine menge von den untergang des syrischen volkes im meer. meer ist gräber von vielen geworden …«, stand auf den Zettel gekritzelt. Mit den schlimmsten Erinnerungen an seine Flucht versuchte sich Salim Chreiki eine neue Sprache anzueignen.
»Das ›Meer‹ steht für Ängste und für Hoffnungen, für Grenzen und Entgrenzung, für die Furcht vor dem Fremden einerseits und unermessliche Vielfalt andererseits«, hatten wir in unserem Einladungstext zum Symposion formuliert. Uns war, als würden wir der Personifizierung all der Fragen, die wir uns im Hinblick darauf stellten, in unserem neuen Nachbarn gegenüberstehen.
Und dann also Dubrovnik, das sich uns bei der Ankunft sommerlich warm zeigte und prächtig funkelte. Doch bald schon verfinsterte sich der Horizont und heftige Stürme peitschten die See auf – »ungeheuer, ungezähmt, unermesslich« hatten wir in unserem Text geschrieben. Uns war, als wolle sich das Meer in seiner gewaltigsten Eigenart präsentieren, während Dieter Richter über die Angst vor dem Meer referierte und uns von staunenswerten Zeremonien berichtete, um dem anonymen maritimen Tod zu begegnen und dem Meer zu trotzen – »einem Gegner, von dem es in Homers Odyssee heißt: ›Denn nichts Schrecklicheres ist mir bekannt, als die Schrecken des Meeres‹«.
Ohne Meer jedoch kein Abenteuer, keine Bewährung, keine Entwicklung, repliziert Raimund Schulz zum Auftakt in seinem Beitrag über die Hassliebe zum Meer. Und Konstantinos Kosmas macht uns die bedenkliche Metaphorik des Wasservokabulars und der Meeresbühne im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Flüchtlinge deutlich. Bilder, die sich in diesem Sommer in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben, lässt Krsto Lazarević in seinem Beitrag vor unseren Augen wiedererstehen. Den Schreckensbildern stellt Ricarda Vidal die Utopie eines historischen Großprojekts gegenüber: Herman Sörgels »Atlantropa«-Vision. In der Neudeutung einer solchen Utopie befasst sich Jan Tabor mit der Gründung einer supranationalen europäischen Metropole.
Von einer naturwissenschaftlichen Seite untersuchen die Meeresbiologen der Universitäten Crna Gora und Split die Grenzenlosigkeit des Meeres und stellen ihr inter-institutionelles Netzwerken im Dienste der grenzüberschreitenden Erforschung dieses besonderen Ökosystems, um dessen Biodiversität zu schützen, dar.
Alida Bremer betrachtet mit ihren Schriftstellerfreunden aus Südosteuropa die widersprüchliche Erörterung der Idee Europa aus der Sicht der EU-Nachbarstaaten. »Das Mittelmeer, der Orient und der Balkan sind nicht nur dank der Neigung der Westeuropäer, diese Räume auf vergleichbare Art zu mystifizieren, in einem unlösbaren Verhältnis miteinander verbunden. Dort, wo sich diese Gebiete – ob imaginiert oder real – überlagern, wie etwa in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, entstehen Konflikte um Deutungen, Zuschreibungen und Abgrenzungen«, schreibt sie.
Arian Leka (Albanien) etwa berichtet von seinen sehr persönlichen Träumen, seiner naiven Idolatrie. Dem ehemals sehnsüchtigen Blick über das Meer nach Europa setzt er den heute skeptischen entgegen: jenen auf Xenophobie und Menschenhatz und auf das Auseinanderdriften von West und Ost, von Wir und Ihr. Jeton Neziraj (Kosovo) spürt der Rolle des Theaters in Krisensituationen nach; Nedžad Ibrahimović (Bosnien und Herzegowina) beschreibt die Ursachen der prä-europäischen Nostalgie, die Devastierung des Geistes und die verzweifelte Konstruktion von Zufluchtsorten in der Literatur – und Rumena Bužarovska den Fall Mazedonien: Sie zeigt auf, wo die Traditionen des Orients auf jene des Okzidents treffen und wie anhand der Öffnung historischer Routen eine Integration der Nationalstaaten gelingen könnte.
Saša Ilić (Serbien) schließlich wirft in seinem Beitrag die Frage nach dem Erinnern der Kriegserlebnisse und der Überwindung von Traumata unter neuen Bedingungen auf. Er erzählt von seinen Erfahrungen als Matrose im Krieg an der Adria. Den dokumentarischen Notizen aus dem Logbuch des Matrosen stellt er Fakten aus der Zeit des Seekriegs gegenüber. Traum und Trauma verbinden sich bei seiner Wiederbegegnung mit Dubrovnik.
Auf diese berührenden Erinnerungen antwortet seinerseits Tvrtko Jakovina (Kroatien) mit Tagebucheitragungen und Briefen aus seiner Militärzeit bei der Marine kurz vor Ausbruch des Kroatienkrieges. – Mit ihren Aufzeichnungen entführen die beiden uns mitten in jenen Konflikt, dessen Spätfolgen uns heute beschäftigen. Sie lassen uns nicht nur an ihrer Geschichte teilhaben, sondern an der Geschichts-Schreibung und uns damit ihre Erfahrungen begreifen.
In seinem historischen Beitrag analysiert Jakovina zudem den Status quo, die weltweiten Verflechtungen sowie die historischen Hintergründe der Krise im Mittelmeerraum. »Jener Teil der Welt, der die ältesten Zivilisationen, einige der schönsten Städte und schmackhafteste Nahrung aufzuweisen vermag, sieht sich mit Problemen konfrontiert, die von epischen Ausmaßen zu sein scheinen.«
Bruno Ćorić (Kroatien) zeigt auf, wie die wirtschaftliche Rezession den Mittelmeerländern in höherem Maße zusetzte als dem Epizentrum der Weltwirtschaftskrise und dass nur Investitionen in die Bildung eine Entwicklung zur Demokratie beschleunigen können.
Darauf bezieht sich auch Kommissar Johannes Hahn in seinem Vortrag: »Die Herausforderung der Stabilisierung im Mittelmeerraum wird uns die nächsten Jahre begleiten … Ich glaube, wir werden sie nur meistern, wenn wir parallel zu den notwendigen politischen Maßnahmen auch ganz massiv in die Entwicklung einer Zivilgesellschaft investieren.«
Von einem, der schon früh vor den Gefahren des Nationalismus in Jugoslawien warnte und sich gegen unüberlegte Zuschreibungen verwehrte, schreibt Ilma Rakusa. Der bedeutende europäische Erzähler Danilo Kiš setzte der Einengung und der Begrenzung das »ozeanische Gefühl«, eine durch und durch weltoffene Haltung entgegen, wie sie eindrücklich aufzeigt.
Ein solches »ozeanisches Gefühl« beseelte auch Gerard Mortier, den ehemaligen Intendanten der Salzburger Festspiele, dessen Denken Sven Hartberger nachspürt. Er führt uns einen großen Europäer vor Augen, der seine schöpferische Kraft »nicht zuletzt aus der gelungenen Vereinigung vieler kultureller Gegensätze zog, welche in ihrer Gesamtheit wiederum die Identität Europas ausmachen«.
Boris Podrecca umschreibt diese Vielheit für seine Architektursprache als »Poetik der Unterschiede«. »Die Poetik der Unterschiede führt mich zu einprägsameren Beziehungen von Stadt, Landschaft und Mensch, wodurch der Transfer der Andersheit erreicht werden kann.« Ivana Prijatelj Pavičić geht einer solchen Poetik der Ambivalenz in den Grenzüberschreitungen in bildender Kunst und Gastronomie auf den Grund, und Vjera Katalinić dem Kulturtransfer zwischen Zentraleuropa und dem Mittelmeerraum, der durch Musik und Musiker erfolgte.
Distanz versus Nähe, Bedrohung versus Verheißung, Diversität versus Kongruenz, Eingrenzung versus Migration – um diese grundlegenden Ambivalenzen kreisen sämtliche Beiträge. Das Ambivalente beschreibt einerseits die Metaphysik des Meeres, aber auch jene Traumgestalt von einem Europa, die so viele zu erreichen suchen. Gentian Shkurti (Albanien) etwa verglich sie gar mit einer Geliebten, die aber – heftig umworben – unerreichbar bleibt. »Für uns Albaner ist die Beziehung zu Europa eine noch nicht realisierte Liebesgeschichte – Break on through, to the other side«.
»Europa neu zu denken setzt die Beantwortung der Frage voraus, welches Europa wir eigentlich wollen«, hielt Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler in ihrem Referat in Dubrovnik gleich zu...