EULE
Eine alte Vorstellung zeichnet das Bild des Denkens als das eines Menschen, der sich über die Gegenstände seiner Erkenntnis wie über einen Leichnam beugt. Ihm gelingt nur, das Tote zu denken. Das Lebendige widersteht seiner Einsperrung in Kategorien und Begriffen. Es entzieht sich dem Blick des glücklosen Subjekts, dem nur die Spur seiner Abwesenheit zu sichten gelingt. Der Korrelationismus von Denken und Sein oder Subjekt und Objekt beschreibt das Drama eines Lebenden, der, indem er ihn zu denken beginnt, den Gegenstand seines Denkens tötet. Was er schließlich in Händen hält oder als Objekt erhält, ist ein toter Körper, der kaum noch dem anvisierten Gegenstand gleicht. Bedeutet zu denken also zu töten? Gräbt das Denken dem Gedachten, indem es auf es zu beschleunigt, sein Grab? Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass zum Denken Verspätung gehört: »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«[1] Sie ist der Todesvogel der Philosophie. Was aber, wenn zum Denken, mehr als Tötung durch Verspätung, Schöpfung durch Vorzeitigkeit gehört? Es ist nicht so, dass es seine Erkenntnisobjekte im Akt des Erkennens tötet oder hervorbringt. Denken bedeutet, sich dem Wahnsinn einer Beschleunigung zu überlassen, die das Subjekt über seine Objekte hinausträgt. Es gebiert sie nicht. Es zieht sie in seine Richtung, indem es bereits dort ist, wo noch kein Objekt war. Das ist der leere Raum zwischen Gegenwart und Zukunft. Der Raum, in dem passiert, was Gilles Deleuze Werden nennt. Jenseits von Geschichte inmitten der Geschichte. Das taube, blicklose, stumme Herz der Realität. Wir müssen mit Hegels Eule den Vogel einer Gegenwart empfangen, deren gesichtslose Wahrheit jede Gegenwart sprengt. Denken heißt, diese Sprengung nicht nur vorzubereiten und zu bezeugen. Denken bedeutet, sie durchzuführen.
PATHOS
Das sich selbst denkende Denken – die Selbstreflexion des Logos, des Cogito oder des Subjekts – impliziert ein regelrechtes Pathos der Vernunft. Es gibt keine Vernunftlehre, die nicht Affektenlehre wäre. Das Vernunftsubjekt kann sich nicht denken, ohne sich mit seiner Zerrissenheit zu konfrontieren, dem Schmerz, der zur Selbsterfahrung gehört.[2] Das altgriechische Verb páschein bedeutet erdulden oder erleiden – und was ist Leid anderes als eine Erfahrung, die das Subjekt an seine Grenzen führt? Im Pathos drückt sich die Erfahrung unlösbarer Konflikte aus, weshalb es keine Philosophie gibt, die nicht pathetisch wäre in diesem Sinn. Es kann sich um das diskrete Pathos mathematisierten Denkens handeln, um bis zur Zerreißprobe gespannte Argumentationsketten. Es kann das polemische Pathos tobender Vernunft sein, das wir aus den letzten Büchern Nietzsches und den gellenden Invektiven Artauds kennen (aus dessen »animalisch und übermenschlich, schreiend, schrill, grausam, uns an Alter übertreffenden«[3] Rede). Noch das Pathos des Trockenen, der Abstraktion, Nüchternheit und Kälte bringt den Schmerz des Denkens zum Ausdruck, in dem sich der »Verlust seiner selbst«[4] ausdrückt, wie Hegel sagt. Denken heißt, sich wieder und wieder verloren zu gehen. Das Selbst zerreibt sich an seinen Gegensätzen, statt sie dialektisch zu synthetisieren. Die Bewegung der Vernunft zeichnet die Spur ihrer Ruhelosigkeit. Denken ist eine Leidenschaft, die das Subjekt angesichts von Wahrheiten erzittern lässt, die seine Realitäten unterminieren.
PHILOSOPHIE
Man kann Philosophie als Antwort auf die Frage definieren Was ist Philosophie? Das heißt nicht, dass es eine letzte Antwort gibt. Es bedeutet im Gegenteil, dass eine solche Antwort ausbleibt und dass die Unmöglichkeit einer abschließenden Beantwortung der Frage, was Philosophie sei, zu ihrer Antwort beiträgt. Es ist eine Frage, die sich immer neu stellt. Man philosophiert nicht, ohne mit dieser Frage konfrontiert, von ihr getrieben, ermutigt und verunsichert zu sein. Sie ist es, die das philosophische Denken in Atem hält. Im Innersten der Philosophie erwacht nicht nur die Frage, auch die Möglichkeiten ihrer Beantwortung entzünden sich hier. Michel Foucault hat dasselbe von der Literatur gesagt: »›Was ist Literatur?‹ ist weder die Frage eines Kritikers noch die eines Historikers oder Soziologen, der sich angesichts eines bestimmten sprachlichen Sachverhalts Gedanken macht. Es gibt im Inneren der Literatur eine Art Höhlung, in der sie selbst letztlich ihren Platz findet und in der wahrscheinlich ihr ganzes Sein enthalten ist.«[5] Ebenso verhält es sich mit der Philosophie. Die Philosophiehistoriker, Kulturtheoretiker, Soziologen etc. blicken von außen auf eine Praxis, an der sie selbst kaum partizipieren. Sie widmen sich ihr wie der Zoologe einem exotischen Tier. Das Studium und die Analyse der Bedingungen philosophischen Denkens, der historische Rahmen und die politische Situierung desselben sind nur ein Teil der Philosophie genannten Aktivität. Sie entsprechen einem Blick von außen, der dem um Objektivität bemühten Blick des Anatomen oder Pathologen gleicht. Die Frage, was Philosophie sei, lässt sich von hier aus nicht beantworten, wohl aber die Frage, was zu ihr gehört. Man muss zwischen beiden Fragen unterscheiden. Nicht, um der Philosophie eine transhistorische Substanz zuzusprechen, sondern um sie dem Pseudosubstanzialismus der Tatsachenesoteriker zu entreißen. Das eben ist Philosophie: Aufstand gegen die Tatsachen, Resistenz gegenüber dem »Kult der ›Realitäten‹«[6], exzessive Infragestellung von Historismus und Faktengläubigkeit. Das Problematische dieser Realismen ist, dass sie Idealismen sind. Jeder ernstzunehmende Philosoph, sei es Spinoza, Kant, Hegel, Schopenhauer, Husserl, Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Weil, Lacan, Foucault, Deleuze, Cavell, Derrida, Badiou, Kittler, Nancy, Agamben, Žižek oder Butler, weiß, dass die Frage, was Philosophie sei, sich nur beantworten lässt, wenn die Pseudoalternative Realismus versus Idealismus suspendiert wird. Der wahre Idealismus widersetzt sich der Tatsachenesoterik, indem er auf ein Reales jenseits ihres Horizonts ausgerichtet ist. Der wahre Realismus ist einer, der die idealistische Weltflucht durch ein Denken begrenzt, das immanente Transzendenzen anerkennt.[7] Die Dummköpfe werden das als einen Rückfall in Metaphysik und Religion ansehen. Sie begreifen nicht, dass das, was sie als Metaphysik auffassen, auf dem Terrain der plattesten Positivismen überlebt hat, in Form eines Faktenobskurantismus, der der Haltung des letzten Menschen aus Nietzsches Zarathustra entspricht. Nichts schützt die Dummen vor ihrer Dummheit. Nicht einmal, Nietzsche nicht gelesen zu haben, um sich nicht die Finger an ihm zu verbrennen. Zur Philosophie gehört Widerstand gegenüber dem aktiven Nicht-Denken, das ich hier Dummheit nenne. Es handelt sich um einen Widerstand, der sich nicht im Negativismus erschöpft. Er impliziert die Selbstbeschleunigung des denkenden Subjekts, das sich auf dem Weg zum Inkonsistenzpunkt seiner Realitäten befindet. In ihm drückt sich der Wille aus, den Rand seiner Welt zu erkunden. Weder die richterliche Attitüde des Kritikers noch die professorale Überheblichkeit des Akademikers machen einen zum Philosophen. Denn Philosophen bewohnen die Welt, indem sie ihr das Vertrauen entziehen. Sie leben in einer Realität, die für sie letzter Evidenz entbehrt.[8] Denken heißt, mit diesem Evidenzmangel klarzukommen. Am deutlichsten zeigt er sich dort, wo die Konsistenzversprechen ins Maßlose reichen. Eine erste Antwort auf die Frage Was ist Philosophie? könnte lauten: Philosophie ist Inkonsistenzerfahrung als Lebensform.
HAUS
Architekturmetaphern durchziehen das abendländische Denken von Platons Höhle über Descartes’ fundamentum inconcussum bis hin zu Heideggers Rede von der Sprache als »Haus des Seins«[9] und Foucaults Evokation des »großen platonischen Denkgebäudes«.[10] Die philosophischen Häuser müssen keine Schlösser sein. Hegels Systemarchitekturen erinnern an Kathedralen oder Wolkenkratzer, Nietzsches Aphorismensammlungen an nomadische Zeltdörfer, Luhmanns systemtheoretische Entwürfe an monströse Bürokomplexe – sie alle sind ins Leere gestellt und auf Sand gebaut! Philosophen bauen ihre Häuser in die Wüste, sie besteigen Schiffe, um mit ihnen wie auf schwimmenden Häusern ganze Ozeane zu durchqueren. Es gibt bescheidenere Architekturen: Die Reihenhaussiedlungen der Frankfurter Schule der dritten Generation. Heideggers Vorliebe für Hütten drückt, statt Bescheidenheit, das Pathos mönchischen Lebens aus. Wie jemand baut, so denkt er. Ein Beispiel dafür ist das Wittgensteinhaus im 3. Wiener Bezirk. Es gibt akademische Diskurse, die in ihrem Aufbau, ihrer Sprache und ihrem Argumentationsgang dem Ort ihrer Herstellung und Lehre ähneln: Der demokratischen Zweckarchitektur der Universität mit ihren polierten Böden und Gängen. Derridas Lektüren lassen an pompöse Theater denken, Foucaults Heterotopien (Kliniken, Gefängnisse, etc.) affizieren seine textuellen Topologien; die großen Bücher von Deleuze sind hysterische Begriffsarchitekturen; Bourdieus soziologische Analysen samt ihren Statistiken haben den Charme von Industriebauten; Badiou konstruiert seine Ideen mathematisch; Agamben geht minutiös wie ein antiker Baumeister vor. Sie alle haben mit Statik und Tragfähigkeit zu tun. Alle fragen sich, ob hält, was sie konstruieren. Sie suchen noch dann ein Fundament für ihre Bauten, wenn sie längst an seiner...