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E-Book

Evita Perón

Die Biographie

AutorAlicia Dujovne Ortiz
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl433 Seiten
ISBN9783841216748
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR

Hure, Heilige, Idol?

Eine Frau, die noch faszinierender war als ihr Mythos 

Evita, die idealisierte Gestalt des großen Musicals, Heilige der besitzlosen Massen, skrupellose Intrigantin für ihre Gegner: Wer war diese Frau wirklich, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und bei ihrem Tod mit ganzen 33 Jahren als eigentliche Herrscherin Argentiniens gelten konnte? Beharrliche Recherche und sensible Annäherung verbinden sich in dieser definitiven Biographie zum Bild einer Frau, die faszinierender war als ihr eigener Mythos. 

»Diese Biographie ist kein sprödes Geschichtsbuch, ein Roman könnte kaum fesselnder sein.« Süddeutsche Zeitung 

»Eine historisch fundierte Biographie; Dujovne Ortiz gibt einen Einblick in den kuriosen Prozess der Legendenbildung.« Frankfurter Rundschau



Alicia Dujovne Ortíz, geboren in Buenos Aires, lebt seit 1978 in Frankreich. Ihre Buchveröffentlichungen umfassen Gedichtbände, erzählende Prosa und Biographien. Sie schrieb regelmäßig Beiträge für das Feuilleton großer südamerikanischer und europäischer Zeitungen, besonders für 'Le Monde'.

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Leseprobe

1
Uneheliche Geburt


Evitas Kindheit. Der Geburtsort. Die Indios. Der Großgrundbesitzer und die Köchin. Die Geschwister. Die Beerdigung des Vaters. Abgeschiedenheit. Die lahme Puppe. Das verbrannte Gesicht. Die Flucht nach Junín. Eintausendachthundert glückliche Argentinier. Evita möchte eine andere sein. Regentage. Das Kino. Evita und das Theater. Die bösen Jungens. Evita geht fort.

Die Hanfschuhe waren schwarz und die Schürze weiß. Doch im Laufe der Woche wurde alles grau. Am Freitag hatte der Straßenstaub diesen sozialen Unterschied aufgehoben. Der Präsident Domingo Fausto Sarmiento, ein Idealist des neunzehnten Jahrhunderts, hatte weiße Schürzen als Schuluniform eingeführt, da er keine Klassenunterschiede wünschte. Die Kluft zwischen reichen und armen Landeskindern sollte nach europäischem Muster mit diesem Schneeweiß auf wundersame Weise verschwinden. Mit seinem Buch FACUNDO, CIVILISACION O BARBARIE (Facundo, Zivilisation oder Barbarei) hatte Sarmiento dem nationalen Bewusstsein diese Idee unauslöschbar eingebrannt: Europa war die Zivilisation, und in Argentinien herrschte Barbarei. Sarmientos Traum schien mit den adretten, kultivierten Schürzen dieser kleinen freien, gleichen und brüderlichen Schüler wahr zu werden, obwohl die ewig zerlöcherten Hanfschuhe, die Alpargatas, aus denen stets ein Freiheit suchender Zeh lugte, dann doch ihre tatsächliche Barbarei verrieten. In seiner Begeisterung hatte Sarmiento die Füße vergessen: der tiefe Graben, der den Schüler mit Lederschuhen von dem mit Alpargatas trennte.

Evita gehörte zu letzteren, wenn auch nicht unwiderruflich. Denn im Gegensatz zum Überfluss ist die Armut kein definitiver Zustand (daher ihre Ängste und Hoffnungen). In dieser ungewissen Lage war alles denkbar: spiegelnde Lackschuhe, von den Schwestern geerbt, oder die Spuren der Hanfsohlen auf dem lehmigen Schulweg. Was immer gleich blieb, war die Sauberkeit: Doña Juana, ihre Mutter, eine robuste, doch hübsche, immer nach Seife duftende Frau, stärkte und bügelte die Schürzen ihrer Töchter zweimal pro Woche. Am Donnerstag kamen Eva und ihre Schwester Erminda so adrett in die Schule wie am Montag. Ein seltener Luxus: Selbst die Schürzen der Schülerinnen, die nie Alpargatas trugen, waren am Donnerstag voller Tintenflecken. Aber auch ein verdächtiger Luxus: Welche Sünden wollte die reinliche Frau auf diese Weise wohl fortwaschen?

»Du bist gar keine Duarte, du bist eine Ibarguren«. Beim Betreten der Klasse hatte Erminda diese gefürchteten Worte an der Tafel entdeckt. Sie war in Tränen ausgebrochen, und die anderen Schüler hatten entweder Mitleid gezeigt oder sie ausgelacht. Jetzt hockte Erminda auf einem künstlichen Felsen auf dem Dorfplatz und schilderte ihrer jüngeren, stumm lauschenden Schwester Evita diesen schlimmen Augenblick.

Der Platz von Los Toldos unterschied sich in nichts von allen anderen argentinischen Dorfplätzen. Schule, Kirche, Rathaus, Bank und Kramladen säumten ihn, und mitten auf dem freien Gelände, das zum Flanieren und Spielen gedacht war und wo jeder jeden bespitzelte, thronte das Standbild. Natürlich das von General José de San Martín, dem Helden, der zwei Länder vom spanischen Joch befreit und dann die argentinische Tradition des Exils begründet hatte. Sein Heldentum wurde bewundert, aber sein Rückzug nach Boulogne-sur-Mer warf auch unbequeme Fragen auf: Was bedeutete »freiwilliges Scherbengericht?« Wie viele argentinische Kinder hatten sich über diese Frage schon den Kopf zerbrochen! Blieb die Zivilisation damals in Europa? War der Befreier aus freien Stücken dort zu den Austern gegangen? Das war alles irgendwie merkwürdig! Aber vielleicht handelte es sich gar nicht um San Martíns Standbild. In diesen Pampanestern, die sich hinziehen wie ein langes Gähnen, schenkte man den Toten kaum Aufmerksamkeit. Es gab sicher einen Grund dafür, dass der Nationalheld mitten auf dem Platz thronte, mit seinem Säbel hoch zu Ross. Auf dem Felsen kauernd, interessierten sich die Mädchen nicht dafür. Sie hatten andere Probleme: Warum hieß es in Los Toldos, ihr Name sei nicht Duarte?

Der aus Gleichgültigkeit für San Martín gehalten wurde, war nicht das einzige Standbild. Es gab noch andere, unbedeutendere Helden und, senkrecht auf dem Rasen, zwei Wappen: das argentinische mit Jakobinermütze und Lorbeerzweig und das des Ortes General Viamonte, der seinen Namen einem anderen Kriegshelden des neunzehnten Jahrhunderts, Juan José Viamonte, verdankt. Dieses Wappen zeigte eine Kuh, einen Maiskolben, eine Indianerlanze und eine weiße Hand, die eine andere – mehr oliv- als kupferfarbene – schüttelte. Die gesamte Stadtgeschichte kam darin zum Ausdruck. Los Toldos trug seinen Namen wegen der Indios und ihrer Zelte (TOLDERIAS), und die dunkle Hand erinnerte an die Indios. Früher war der Ort ein kleines Dorf, in der Provinz Buenos Aires gelegen, einem fruchtbaren, doch melancholischen Landstrich, weshalb man auch von »feuchter Erde« spricht. Evita lebte mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nicht mehr auf der Estancia La Unión, die ihrem Vater Juan Duarte gehörte. In früheren, glücklicheren Tagen war sie von dort mit ihrem Vater ins Dorf gefahren. Er hatte sie auf den leichten, zweirädrigen Wagen gehoben und neben ihr Platz genommen. Durchgerüttelt beim Trab der Pferde, die der Vater immer wieder mit den Zügeln antrieb, sah Evita lange den Indios nach, die auf halbem Weg zwischen der Estancia und dem Dorf lebten. Fuhrleute, die Weizen für ihren Vater zum Bahnhof transportierten. Man nannte sie Coliqueos.

Dass sie hier mitten in der Provinz Buenes Aires lebten, war ungewöhnlich. Bis 1879 hatte General Rosas’ »Wüstenkampagne« die gesamte Pampa von den letzten Indios »gesäubert«. Außerdem waren die Coliqueos Mapuche-Indianer aus Chile. Sie hatten sich 1862 in der Gegend niedergelassen. Ihr Cacique, Ignacio Coliqueo, hatte sich mit seinem Stamm den Truppen von General Urquiza angeschlossen, dem Gouverneur des Zweistromlands Entre Ríos und Sieger über den Tyrannen Rosas. (Später sollte Evita die Coliqueos verurteilen, wenn auch nicht allzu streng, weil sie ihnen immer noch zugetan war: denn der Peronismus rehabilitierte Rosas, den Caudillo der Föderalen, der sich 1830 zum Diktator des Landes aufschwang und den die Gauchos und die Dunkelrassigen verehrten. Er war ein großer Feind Englands, wohin er dann doch später ins Exil ging, obwohl die Geschichtsbücher in seinem Fall zur großen Verwirrung der Schüler nicht von Scherbengericht sprechen, was ausschließlich San Martín vorbehalten ist). Nachdem die Coliqueos also mit ihrer olivfarbenen Hand zum Sieg über Rosas beigetragen hatten, gründeten sie ein Dorf an der Stelle des heutigen Los Toldos, das zweimal hintereinander von anderen Stämmen, die Rosas folgten, zerstört wurde.

All das konnte Evita nicht wissen. In der Schule hatte sie es nicht gelernt. Die meisten Schulbücher beschränkten sich darauf, die traditionellen Muster indianischer Töpferarbeiten zu beschreiben. Weder in der Schule noch im Dorf hatte Evita von diesen Dingen erfahren. Wer wusste das denn noch in Los Toldos? Argentinien hat eine kurze Geschichte und versteht es meisterhaft zu vergessen.

Um die Gegenwart jener aus Gewohnheit nicht mehr wahrgenommenen Überlebenden zu bemerken, brauchte man einen ebenso unvoreingenommenen wie einen verzweifelten Blick: den Blick eines einsamen kleinen Mädchens. Bei den Indios entdeckte Evita jene Spuren der Trostlosigkeit, an denen sie Jahre später ohne Zögern ihr »Volk« erkennen sollte. Sie konnte sie kaum übersehen, wo doch ihrem eigenen kleinen Mädchenkörper eben diese untrüglichen Zeichen eingebrannt waren. Andererseits waren Verstehen und Dankbarkeit für sie eins: erkennen hieß auch dankbar sein. Und gerade den Indios war sie verpflichtet. Am 7. Mai 1919, dem Tag ihrer Geburt, war ihrer Mutter eine Hebamme zu Hilfe geeilt. Es war ein regnerischer Morgen gewesen. Die Geburtshelferin, die sich Unwetter und verschlammten Wegen ausgesetzt hatte, gehörte zum Stamm. (Sie hieß Juana, wie die Gebärende, Juana Guaquil. Wie hätte sie auch anders heißen können? Es ist der Name aller, die in Evitas Leben eine Rolle spielten. Juan hießen ihr Vater, ihr Bruder, ihr Mann, und selbst dessen Mutter hieß Juana.) Die Voraussetzung, um eine bis zur Geburt zurückreichende Schuld zu begleichen, ist allerdings, dass man sich erinnert. Und Evita erinnerte sich: Sie war jemand, der nie vergisst. Ihrem Herzen blieben Freund und Feind auf immer eingebrannt. Eine Indiofrau hatte sich im Morgengrauen aufgemacht, um ihr auf die Welt zu helfen? Also waren die Indios gut. Die hingegen, von denen diese beschämenden Worte an der Tafel stammten, sollten dafür büßen.

Don Juan Duarte stammte aus Chivilcoy, einer – für die riesigen Entfernungen der Pampa – relativ nahe bei Los Toldos gelegenen Kleinstadt. Scheinbar hatte er die Estancia »LA UNION« von dem konservativen Bürgermeister Malcolm gepachtet, der ihn auch zum Untersuchungsrichter ernannt hatte. Doch laut Aussage von Pater Meinrado Hux, einem schweizer Benediktinermönch, der sich mit Regionalgeschichte befasst, lagen die Dinge nicht ganz so einfach. Zum einen scheint Duarte die Estancia, um die Steuer zu umgehen, über einen Strohmann gekauft und nicht gepachtet zu haben. Außerdem enthob ihn Malcolm persönlich seines Amtes wegen Veruntreuung von Geldern. Duarte war ein konservativer Caudillo mit persönlichen Ambitionen: ein konservativer Duartist. Auf »LA UNION« führte er, ohne auf die Kosten zu achten, seine eigene Wahlkampagne durch. Für ein Fest hatte er ein ganzes Orchester aus der Stadt kommen lassen. Die Gauchos mit ihren...

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