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Existenzweisen

Eine Anthropologie der Modernen

AutorBruno Latour
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783518737378
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR


<p>Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour ist Professor am Sciences Politiques Paris. F&uuml;r sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis.</p>

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Leseprobe

Einleitung:
VON NEUEM VERTRAUEN IN DIE INSTITUTIONEN HABEN?


Eine schockierende Frage, gerichtet an einen Klimatologen ? die dazu zwingt, die Werte von ihrer Wiedergabe in den Berichten der Praktiker zu unterscheiden.
Zwischen Modernisieren und Ökologisieren müssen wir uns entscheiden ? indem wir ein anderes Koordinatensystem vorschlagen.
Was dazu führt, eine imaginäre diplomatische Szene zu definieren: ? in wessen Namen verhandeln ? und mit wem verhandeln?
Die Untersuchung gleicht zunächst einer über Sprechakte ? während sie lernt, verschiedene Existenzmodi ausfindig zu machen.
Das Ziel besteht zunächst darin, ein zwischen Ökonomie und Ökologie umherirrendes Volk zu begleiten.

 

 
 
 
 

Bevor wir verstehen, wie wir zusammen, so hoffe ich, arbeiten werden, wenn wir diese neuen Mittel erkunden, die das Digitale uns zur Verfügung stellt, muß ich dem Leser einen Vorgeschmack von dem geben, worum es bei einer solchen Untersuchung gehen soll. Da das Allerkleinste nach und nach zum Größten führen kann, beginnen wir mit einer Anekdote.

EINE SCHOCKIERENDE FRAGE, GERICHTET AN EINEN KLIMATOLOGEN ?

Um einen runden Tisch sitzen etwa fünfzehn französische Industrielle, verantwortlich für eine nachhaltige Entwicklung in verschiedenen Unternehmen. Ihnen gegenüber ein Forscher vom Collège de France, Spezialist für Klimafragen. Es ist Herbst 2010, es tobt ein Streit, ob der Klimawandel menschlichen Ursprungs ist oder nicht. Einer der Industriellen stellt dem Professor eine Frage, die ich ein wenig zu ungeniert finde: »Aber warum soll man Ihnen glauben, Ihnen mehr als den anderen?« Ich wundere mich. Warum stellt er mit seiner Frage, als handelte es sich um einen bloßen Meinungsstreit, die Spezialisten für das Klima auf dieselbe Stufe mit den sogenannten Klimaskeptikern – wobei man die schöne Vokabel »skeptisch« ein wenig in Mißkredit bringt? Verfügt er zufälligerweise über ein Meßinstrument, das dem des Spezialisten überlegen ist? Wie sollte dieser einfache Apparatschik fähig sein, die Positionen der Experten nach einem Kalkül des Mehr oder Weniger abzuwägen? Aber vor allem, wie wagt er es, von »Glauben« angesichts der Wissenschaften vom Klima zu sprechen? Wirklich, ich finde die Frage fast schockierend, vor allem von jemandem, dessen Metier darin besteht, sich für die ökologische Frage genauer zu interessieren. Ist die Debatte dermaßen ausgeartet, daß man vom Schicksal des Planeten sprechen kann, als befände man sich auf der Bühne einer Talkshow im Fernsehen, wo der Anschein erweckt wird, die verschiedenen Positionen gleich zu behandeln?

Ich frage mich, wie der Professor antworten wird. Wird er den peinlichen Frager zurechtweisen und ihn daran erinnern, daß es sich nicht um Glauben, sondern um Tatsachen handelt? Wird er von neuem die »unbestreitbaren Daten« wiederholen, die nur wenig Raum für Zweifel lassen? Aber zu meiner großen Überraschung antwortet er mit einem langen Seufzer: »Wenn man kein Vertrauen in die wissenschaftliche Institution hat, dann ist das sehr schwerwiegend.« Und dann macht er sich daran, vor seinem Auditorium die große Anzahl der Wissenschaftler aufzuzählen, die mit der Analyse des Klimas befaßt sind, er legt das komplexe System der Überprüfung der Daten, Artikel und Berichte dar, das Prinzip der Beurteilung durch die peers, das riesige Netz der Beobachtungsstationen, der Treibbojen, der Satelliten, der Computer, die den Informationsfluß sicherstellen – und erklärt schließlich noch an der Tafel die Fallstricke der Modelle, die zur Korrektur der Daten notwendig sind, sowie die sukzessiven Zweifel, die man in bezug auf jeden dieser Punkte beseitigen mußte. »Und, im anderen Lager«, fügt er hinzu, »was findet man dort? Keinen auf dem Gebiet kompetenten Forscher, der über die geeignete Ausrüstung verfügt.« Um auf die gestellte Frage zu antworten, hat sich der Professor demnach des Begriffs der Institution bedient, als sähe er darin das beste Instrument, um die Positionen gegeneinander abzuwägen. Er sieht kein höheres Berufungsgericht. Und daher fügt er hinzu, daß das »Vertrauen« in diese Ressource »zu verlieren« für ihn »sehr schwerwiegend« wäre.

Seine Antwort überrascht mich ebenso wie die Frage. Ich glaube nicht, daß ein Forscher vor fünf oder zehn Jahren – vor allem nicht ein französischer Forscher – in einer Situation der Kontroverse von einem »Vertrauen in die wissenschaftliche Institution« gesprochen hätte. Vielleicht hätte er auf die »Vertrauensintervalle« im statistischen Sinne hingewiesen, aber er hätte sich auf die Gewißheit berufen, eine Gewißheit, deren Herkunft er im Detail nicht vor einem solchen Auditorium hätte zu diskutieren brauchen; diese Gewißheit hätte ihm auch erlaubt, den Frager als Ignoranten und seine Gegner als irrational zu behandeln. Keine Institution wäre sichtbar gemacht worden; keine Berufung auf das Vertrauen wäre notwendig gewesen. Er hätte sich an eine höhere Instanz gewandt, an Die Wissenschaft mit großem Artikel. Wenn man sich auf sie beruft, gibt es nichts zu debattieren, weil man sich immer schon auf der Schulbank befindet, wo man lernen muß – oder schlechte Zensuren erhält. Muß man sich jedoch auf das Vertrauen berufen, so ist die Gesprächssituation eine völlig andere: Man muß die Sorge um eine fragile und delikate Institution teilen, die voller entsetzlich materieller und weltlicher Elemente steckt – die Öllobbies, die Peer-Beurteilung, die Zwänge der Modellbildung, die Satzfehler in den tausendseitigen Berichten, die Forschungsverträge, die Computer-Bugs usw. Nun zielt aber eine solche Sorge, und das ist der wesentliche Punkt, nicht darauf, die Forschungsresultate in Zweifel zu ziehen, sondern darauf, die Sicherheit zu erlangen, daß sie valide, robust sind und geteilt werden.

Daher meine Überraschung: Wie kann dieser Forscher vom Collège de France den Komfort aufgeben, den ihm die Berufung auf die unbestreitbare Gewißheit verleiht, und sich statt dessen auf das Vertrauen in die wissenschaftliche Institution stützen? Wer hat heutzutage noch Vertrauen in die Institutionen? Ist es nicht der schlechteste Moment, um vor aller Augen die fürchterliche Komplexität der unzähligen Büros, Versammlungen, Kolloquien, Gipfeltreffen, Modelle, Abhandlungen und Artikel herauszustellen, die unsere Gewißheiten über den anthropogenen Ursprung der Klimaveränderungen durchlaufen müssen? Das ist ein wenig so, als wenn ein Priester einem Katechumenen, der an der Existenz Gottes zweifelte, antwortete, indem er das Organigramm des Vatikans aufzeichnete, die bürokratische Geschichte der Konzilien und die zahlreichen Glossen der Abhandlungen des kanonischen Rechts darlegte … Auch scheint das dem Finger auf die Institutionen Zeigen heutzutage eher als Waffe zu deren Kritik dienen zu können, aber sicher nicht dazu, das Vertrauen in festgestellte Wahrheiten wiederherzustellen. Und dennoch: genau diese Verteidigungsstrategie wählte der Professor, um sich gegen diese zweifelnden Industriellen zu wehren.

Und er hat recht. In einer Situation lebhafter Kontroverse, wo es sich darum handelt, valide Erkenntnisse über derart komplexe Gegenstände wie das gesamte System der Erde zu gewinnen, Erkenntnisse, die zu radikalen Veränderungen in den intimsten Details der Existenz von Milliarden Menschen führen sollen, ist es unendlich sicherer, sich auf die wissenschaftliche Institution zu verlassen als auf die unbestreitbare Gewißheit. Aber auch unendlich riskanter. Welchen Mut mußte er aufbringen, um so den Stützpunkt zu wechseln …

Ich glaube dennoch nicht, daß der Professor sich sehr bewußt war, daß er von einer bestimmten Philosophie der Wissenschaften zu einer anderen übergegangen war. Eher denke ich, daß er nicht mehr die Wahl der Waffen hatte, weil seine Gegner, die Klimaskeptiker, ihrerseits davon sprachen, daß sie nur handeln würden, wenn sie vollständige Gewißheit erlangt hätten, und sie den Begriff der Institution nur verwendeten, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Klagen sie nicht die Klimatologen an, eine »Lobby« unter anderen zu sein, die »Lobby« der Modellierer? Gefallen sie sich nicht darin, der Spur des Geldes zu folgen, das für die Klimaforschung erforderlich ist, wie auch den Netzwerken des Einflusses und der Klüngelei, wovon die E-Mails zeugen, die sie sich heimlich beschafft haben? Und sie ihrerseits, was machen sie, um zu wissen? Sie können sich offenkundig damit brüsten, gegen alle anderen recht zu haben, da Die Gewißheit »niemals eine Frage der Anzahl« ist. Jedesmal, wenn man auf die Vielzahl der Klimatologen und den Umfang ihrer Ausrüstung und ihres Budgets hinweist, empören sich die Klimaskeptiker indigniert gegen das, was für sie ein bloßes »Autoritätsargument« ist. Und machen wieder die große Geste: Die Gewißheit gegen Das Vertrauen, wobei sie sich auf die großgeschriebene Wahrheit berufen, die keine Institution je korrumpieren kann. Und drapieren sich mit den Gewändern der Galilei-Affäre: Hat er nicht ganz allein über die Institution, über die Kirche, über die Religion, über die wissenschaftliche Bürokratie der damaligen Zeit triumphiert? Derart in die Enge getrieben, hatte der Professor kaum noch die Wahl. Da die Gewißheit von seinen Feinden in Beschlag genommen ist und das Publikum anfängt, unhöfliche Fragen zu stellen; da das Risiko besteht, die Wissenschaft mit der Meinung zu verwechseln, greift er auf das zurück, was in Reichweite scheint: das Vertrauen in eine Institution, die er seit zwanzig Jahren von innen kennt und praktiziert und an der zu zweifeln er...

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