Der Dichter und die Ratio
Erinnerungen an Bertolt Brecht
Bertolt Brecht bin ich das erste Mal im Winter 1926/27 begegnet. Ende 1926 hatte ich ein Buch »Der Imperialismus« veröffentlicht1, das außerordentlich viel in Zeitungen und Zeitschriften diskutiert wurde, und war daraufhin nach Berlin gegangen. Dort besaß ich zunächst noch keine Wohnung, so daß ich bei dem mir befreundeten, erst vor wenigen Jahren in München verstorbenen Maler Rudolf Schlichter kampieren mußte. Schlichter fragte mich eines Tages, ob ich seinen Freund Bertolt Brecht kennenlernen wolle. Ich wußte nur wenig von Brecht. Die Presse nannte noch vielfach Bronnen und Brecht zusammen. Ich selbst hatte bisher nur in dem Stück »Baal« geblättert, ohne sehr davon beeindruckt worden zu sein.2 All dies in Erinnerung, sagte ich zu Rudolf Schlichter: »Mir liegt nicht viel daran, Brecht kennenzulernen.«
Noch am selben Abend gingen wir in ein damals berühmtes Berliner Restaurant, das dem älteren Bruder von Rudolf Schlichter gehörte.3 Wir aßen dort. Einige Tische weiter bemerkte ich einen Mann, der eine Brille trug und auch zu Abend aß. Er fiel mir auf. Wie er so dasaß, wie er die Hände bewegte, ging von seinem Gesicht und seiner Gestalt etwas Merkwürdiges, Unvergeßliches aus. Ich sagte zu Schlichter: »Du, Rudi, den Mann möchte ich kennenlernen.« Schlichter lachte laut: »Das ist ja der Brecht«, antwortete er.
Er bat Brecht, an unseren Tisch zu kommen. Es war erst früher Abend, und wir blieben bis in die Nacht. In der ersten Stunde ging es ganz und gar nicht friedfertig zu. Ich kann mich auf keine Einzelheiten mehr besinnen; ich weiß nur noch, daß Brecht in einer prononcierten Weise Urteile über Dinge fällte, die er, wie mir schien, nicht ganz verstand. Ich widersprach daher oft sehr heftig. Ich sagte beispielsweise, daß sein »Baal« mit den vielen Frauen schlechter sei als die Jugendstücke von Wedekind. Brecht hörte sich das zunächst ganz ruhig an. Dann wandte er sich unvermittelt an Schlichter: »Sag mal, hast du nicht erwähnt, daß Herr Sternberg seinen Doktor in Ökonomie gemacht hat?« Als Schlichter dies bejahte, sagte Brecht, der in scheinbar höflicher Form außerordentlich grob sein konnte: »Frag ihn doch mal, ob er mir helfen will, wenn ich mir einen Anzug kaufe. Vielleicht könnte ich das mit seiner Hilfe ökonomischer machen.« Schlichter bemühte sich, diesen Tiefpunkt des Gesprächs zu überwinden, und es gelang ihm auch.
Im weiteren Verlauf des Abends sagte Brecht: »Ich habe einmal ein Drama ›Trommeln in der Nacht‹4 geschrieben, und obwohl der Erste Weltkrieg und die bayerische Revolution den Hintergrund bildeten, stand doch in diesem Drama die Beziehung eines Mannes zu einer bestimmten Frau im Mittelpunkt.« Ich weiß nicht, ob ich diese Sätze noch Wort für Wort zitieren kann; jedenfalls fuhr Brecht fort: »Seitdem ich dieses Drama geschrieben habe, ist es mir nicht mehr möglich, aus der Beziehung eines Mannes zu einer Frau eine Vision zu gewinnen, die stark genug wäre, ein ganzes Drama zu tragen.«
»Das ist der erste nicht nur interessante, sondern fortschrittliche Satz, den Sie bisher gesprochen haben«, sagte ich in die Stille hinein, die nach Brechts Worten entstanden war.?
Brecht wurde sehr erregt. Mit einer Erschütterung, die durch seinen ganzen Körper ging, fragte er: »Wieso? Warum ist es fortschrittlich, wenn ich nicht mehr eine Vision davon bekomme, daß ein Mann mit einer bestimmten Frau eine Beziehung hat?« – »Um Ihnen das zu erklären«, antwortete ich, »brauche ich längere Zeit.« Brecht erwiderte, ich müsse ihm das unbedingt erklären. Es sei wesentlich für sein ganzes Schaffen. Was ich Brecht daraufhin sagte, war etwa folgendes: Es habe bereits viele Zeiten gegeben, in denen die Beziehung eines Mannes zu einer bestimmten Frau nicht im Mittelpunkt stand. Wenn ich die weitere Entwicklung richtig einschätzte, befänden wir uns heute und auch in nächster Zukunft in einer Zeit, wo die Beziehung eines Mannes zu einer Frau für die Epoche nicht symptomatisch sei.
Brecht bat mich, dies näher zu erklären. Er fragte, ob ich historische Beispiele dafür hätte, Beispiele aus großen literarischen Dokumenten.
Meine Antwort war: »Es gibt dafür eine weite Reihe entscheidender literarischer Dokumente. Vor mehr als 2000 Jahren schrieb Platon sein Symposion. Nun steht zwar in den meisten platonischen Dialogen Sokrates ohnehin im Mittelpunkt und verkündet die Lehren des Philosophen. Die Lehre, die im Symposion verkündet wird, hat Platon aber für so wichtig gehalten, daß er Sokrates erklären läßt, sie sei ihm unmittelbar von der Göttin Diotima offenbart worden. Und was lehrt Sokrates im Symposion? Die Liebe, sagte er, gehe den Weg von der Liebe zu einem einzigen schönen Leibe zur Liebe zu vielen schönen Leibern und schließlich zur Liebe zu der Idee der Schönheit. Daß im Leben eines Mannes die Liebe zu einer Frau im Mittelpunkt stehen könne, kam für Plato nicht in Frage.
Jahrhunderte später sind die Märchen aus Tausendundeiner Nacht entstanden. In vielen von ihnen liebt ein Mann eine schöne Frau. Wenn aber die Dichter diese schöne Frau beschreiben, hat sie keinerlei individuelle Züge. Man kann in den meisten Geschichten von Tausendundeiner Nacht die schönen Frauen vertauschen; sie sind fast immer mit den gleichen Worten beschrieben.«
»Und in Europa?« fragte Brecht.
Darauf ich: »Wir haben, wie Sie wissen, die Tristan-Legende. Tristan soll für seinen König die Braut holen. Er liebt Isolde; aber um glaubhaft zu machen, daß dies überhaupt möglich sei, daß die Liebe zu einer bestimmten individuellen Frau stärker sein könne als die Vasallentreue zum König, dazu brauchte man damals noch einen Teufelstrank.
Ein Umschwung kam erst mit Dante. Dante begegnet in sehr jungen Jahren Beatrice und schreibt die ›Vita Nuova‹. Am Ende dieses Werkes erklärt er, er wolle Beatrice ein Denkmal setzen, wie es noch nie ein Sterblicher einer Sterblichen gesetzt habe. Und Dante schreibt die Göttliche Komödie. Aber in unserem Zusammenhang«, so sagte ich zu Brecht, »scheint es mir wesentlich zu sein, daß Dante immer nur von sich allein spricht: er sei von Beatrice bis ins Innerste seines Wesens erschüttert worden; er wolle ihr ein Denkmal setzen. Dante sagt nirgends, daß er in seinem Werk bereits für seine Epoche spreche.
Das Neue, der wirkliche Wandel, kommt Jahrhunderte später mit Shakespeare, mit ›Romeo und Julia‹. Romeo – das scheint mir wichtig zu sein – ist keine außerordentliche Figur wie etwa Coriolan oder Cäsar oder Hamlet; ebensowenig ist Julia eine außerordentliche Frau wie etwa Kleopatra oder Portia. Die beiden lieben einander: das ist ihr Mittelpunkt und ist der Mittelpunkt des Dramas. Wahrscheinlich war dies noch gar nicht symptomatisch für die Shakespeare-Zeit, sondern wurde es erst für die Epoche, die ein Jahrhundert später kam. Aber da Shakespeare ein Dichter war, stand er nicht wie die meisten der heutigen sogenannten Schriftsteller hinter seiner Zeit zurück oder im besten Falle als Photograph ihren Erscheinungen gegenüber, sondern hatte Visionen und schuf in ihnen Menschen, die für eine viel spätere Zeit symptomatisch werden konnten.
Als dann Goethe 1774 seinen ›Werther‹ schrieb, war die Liebe eines Mannes zu einer bestimmten individuellen Frau für die Epoche schon so charakteristisch geworden, daß er mit seiner Veröffentlichung eine kleine Selbstmordepidemie auslöste. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich wird die Beziehung eines Mannes zu einer Frau immer mehr zum Mittelpunkt des Dramas. Ibsen und Strindberg sind ohne sie nicht denkbar. In unserer Zeit aber – nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Oktober-Revolution – reichen diese Stoffe nicht mehr aus.« Das waren ungefähr meine Worte.
Brecht hatte kaum unterbrochen – und wenn, dann nicht um zu polemisieren, sondern weil er den einen oder anderen Punkt ausführlicher erörtert haben wollte oder selbst einige Bemerkungen in der gleichen Richtung zu machen wünschte.
Es war spät geworden. Bevor wir aufbrachen, verabredeten wir, uns öfter zu sehen, und Brecht fragte, ob er mir unveröffentlichte Manuskripte senden könne.
Seit diesem Gespräch – Brecht stand damals etwa in der Mitte seines Lebens – kannten wir uns, kannten uns mit langen Unterbrechungen zwanzig Jahre. Das letzte Mal sah ich Brecht in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, bevor er nach Europa und dann in die Ostzone ging. In der letzten Epoche seines Lebens, nach 1947, bin ich ihm nicht mehr begegnet.5
Seit dieser ersten Nacht im Frühling 1927 sahen wir uns, wenn wir beide in Berlin waren, ziemlich regelmäßig, im allgemeinen mindestens einmal in der Woche. Brecht kam seltener zu mir – ich wohnte in der Koblankstraße, nicht weit vom Schönhauser Tor in unmittelbarer Nähe der Volksbühne, er hatte ein Atelier am Knie und war viel in der Wohnung der Schauspielerin Helene Weigel, die er 1929 heiratete.6
Ich hielt damals Kurse, in denen ich gewisse Zusammenhänge des Marxismus mit den Geisteswissenschaften zu analysieren versuchte. Auch Brecht nahm einige Zeit an meinen Kursen teil, gab dies aber dann – und wir waren uns darin einig – wieder auf. Das systematische Denken lag ihm nicht. Wenn daher in einem größeren Kreise ein bestimmtes Thema analysiert wurde, war die Diskussion mit ihm nicht sehr fruchtbar. Dagegen konnte eine Diskussion mit Brecht allein unendlich fruchtbar sein. Ich sagte ihm einmal: »Sie denken nicht in geraden Linien, Sie denken im Rösselsprung. Sie denken in...