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E-Book

Meme

Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter

AutorLimor Shifman
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783518738078
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR


<p>Limor Shifman, geboren 1974, lehrt an der Hebrew University in Jerusalem, wo sie unter anderem &uuml;ber Humor im Internet forscht.</p>

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Leseprobe

2. Kurze Biographie eines begrifflichen Unruhestifters


Der Begriff »Mem« wurde 1976 von dem britischen Biologen Richard Dawkins in seinem Buch The Selfish Gene (dt.: Das egoistische Gen) eingeführt. Als Teil seiner Bemühung, die Evolutionstheorie auf kulturellen Wandel anzuwenden, definierte Dawkins Meme als kleine Einheiten der kulturellen Vererbung, analog zu den Genen, die durch Kopie oder Imitation von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Als Beispiele für Meme nennt er in seiner wegweisenden Arbeit unter anderem Kulturartefakte wie Melodien, Schlagworte und Kleidermoden sowie abstrakte Überzeugungen (etwa den Glauben an Gott). Wie die Gene sind auch Meme definiert als Replikatoren, die Variation, Konkurrenz, Selektion und Retention durchlaufen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kämpfen viele Meme gleichzeitig um die Aufmerksamkeit von Wirten; doch nur Meme, die zu ihrem soziokulturellen Umfeld passen, verbreiten sich erfolgreich, während andere aussterben. Dawkins stellte fest, dass bestimmte Gruppen koadaptiver Meme dazu neigen, gemeinsam reproduziert zu werden – und sich dabei gegenseitig zu stärken. Er nannte solche Gruppen »koadaptive Memkomplexe«, Hans-Cees Speel verkürzte den Ausdruck später zu »Memplexe«.1 So kann beispielsweise Demokratie als Memplex angesehen werden, der mehrere Submemplexe umfasst, wie Menschenrechte und regelmäßige freie Wahlen, die weiter aufgegliedert werden können in ihre jeweiligen Meme.

Das Wort »Mem« leitet sich vom griechischen Wort mimema ab, das »etwas Nachgeahmtes« bedeutet und von Dawkins so abgekürzt wurde, dass es sich auf »Gen« reimt. Interessanterweise war schon ein Jahrhundert zuvor ein ähnlicher Begriff aufgetaucht, um kulturelle Evolution zu bezeichnen. 1870 legte der deutsche Physiologe und Hirnforscher Ewald Hering in seinem Vortrag »Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organisierten Materie« seine Theorie der Funktionsweise des Gedächtnisses dar. 1904 nahm der deutsche Evolutionsbiologe Richard Semon seine Gedanken auf und führte den Begriff »die Mneme« ein (abgeleitet vom griechischen Wort für Erinnerung mneme), den er für den Titel seines im selben Jahr veröffentlichten Buches verwendete. Ohne dass Dawkins sich dieser existierenden Terminologie bewusst gewesen war, erwies sich sein Ausdruck selbst als zufällige, jedoch erfolgreiche Imitation: Sein Begriff überlebte und breitete sich in der Wissenschaftswelt aus.2

Nach über einem Jahrzehnt sporadischen Wachstums begann die Memetik – von Francis Heylighen und Klaas Chielens beschrieben als »theoretische und empirische Wissenschaft, die Replikation, Verbreitung und Evolution von Memen untersucht«3 – sich als aktives Forschungsprogramm zu formen, das in den neunziger Jahren Wissenschaftler aus vielen Bereichen anzog. Wichtige Meilensteine auf diesem Weg sind unter anderem Beiträge des bedeutenden Kognitionswissenschaftlers und Informatikers Douglas R. Hofstadter und des einflussreichen Philosophen Daniel C. Dennett, das Erscheinen des Journal of Memetics von 1997 bis 2005 und die Publikation mehrerer Bücher über das Thema Meme. Von diesen mag Susan Blackmores The Meme Machine (dt.: Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist) von 1999 wohl das einflussreichste, aber auch das umstrittenste sein.

Seit ihren Anfangstagen hat die Memetik beständig Kritik auf sich gezogen. Zwei Kontroversen rund um die Meme – unter den Schlagworten »Analogien zur Biologie« und »Wer ist der Boss?« – sind dabei besonders relevant für das Thema des vorliegenden Buches. In der Debatte über die Analogien zur Biologie geht es um die starke Tendenz, Meme als etwas Viren oder Genen Analoges aufzufassen. Die Mem-als-Virus-Analogie sieht eine Ähnlichkeit zwischen Memen und Krankheitserregern. Sie nimmt sich die Epidemiologie zum Vorbild und betrachtet Meme als kulturelle Entsprechungen zu Grippeviren, die durch die kommunikativen Entsprechungen zu Niesern übertragen werden. In der Internetkultur herrscht diese Metapher in dem sehr präsenten Diskurs über virale Inhalte vor. Doch der amerikanische Medien- und Kommunikationsforscher Henry Jenkins und seine Kollegen behaupten zu Recht, diese Metapher werde auf problematische Weise verwendet, wenn Menschen dabei als hilflose und passive Wesen gedacht werden, die der Beherrschung durch bedeutungslose Medien-»Snacks« ausgeliefert sind, die ihren Verstand infizieren.4

Die zweite verbreitete biologische Metapher für Meme – die sich direkt aus Dawkins' Werk ableiten lässt – nimmt sich die Evolutionsgenetik zum Vorbild. Manche Arbeiten haben diese Analogie allerdings zu weit getrieben und sich um kulturelle Entsprechungen für alle wichtigen genetischen Begriffe bemüht, darunter Genotyp, Phänotyp, Transkription und Code. Dieser Versuch wurde nicht nur kritisiert, weil Meme sich ganz anders als Gene verhalten, sondern auch, weil die Reduzierung von Kultur auf Biologie komplexe menschliche Verhaltensweisen einengt und vereinfacht. Die Mem-Gen-Analogie ist also der vorherrschenden Ansicht nach mit reichlich Vorsicht zu genießen. Tatsächlich ist es bei der Analyse von Memen nicht notwendig, sich auf die Biologie zu berufen. Die Vorstellungen von Replikation, Adaptation und der Tauglichkeit für ein bestimmtes Umfeld können auch aus rein soziokultureller Perspektive analysiert werden.

Die zweite grundlegende Kontroverse in der Memetik, die hier mit dem Schlagwort »Wer ist der Boss?« versehen ist, bezieht sich auf die Frage nach der menschlichen Handlungsfähigkeit im Prozess der Verbreitung von Memen. Am einen Ende des Spektrums stehen Wissenschaftlerinnen wie Susan Blackmore, die in Die Macht der Meme behauptet, Menschen seien bloß Apparate, die von den zahlreichen Memen betrieben werden, die sie aufnehmen und ständig weiterverbreiten. Ich vertrete demgegenüber die Ansicht, dass die Untergrabung der menschlichen Handlungsfähigkeit nicht dem Membegriff selbst inhärent ist, sondern nur einer bestimmten Interpretationsweise. Eine Reihe von Arbeiten aus dem Bereich der Memetik spricht sich ganz deutlich dagegen aus. Am wichtigsten für dieses Buch ist dabei Rosaria Contes Vorschlag, Menschen nicht als Vektoren kultureller Übertragung anzusehen, sondern als Akteure hinter diesem Vorgang.5 Die Verbreitung von Memen, so macht sie geltend, geht von intentionalen Akteuren aus, die in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen: Gesellschaftliche Normen, Vorstellungen und Präferenzen sind in Memselektionsprozessen entscheidend. Wie ich in Kapitel 3 weiter ausführen werde, ist die Darstellung von Menschen als aktiv Handelnden grundlegend für das Verständnis von Internetmemen, insbesondere wenn deren Bedeutung im Verlauf der memetischen Verbreitung deutlich verändert wird.

Während große Teile der akademischen Welt über ihn im Streit liegen, wurde der Membegriff von Internetnutzern begeistert aufgegriffen. Eine Suche bei Google Trends legt einen Anstieg des Interesses an diesem Thema seit 2011 nahe, und eine unlängst vorgenommene Google-Suchanfrage nach dem Begriff »Internetmem« erbrachte rund 1??900??000 Treffer, von denen viele auf große interaktive Membanken führen. Zum Beispiel erklären auf der populären Website »Know Your Meme« (http://knowyourmeme.com) passend in weiße Mäntel gekleidete »hauseigene Internetwissenschaftler« den Erfolg bestimmter Meme. Auf anderen beliebten »Memhubs«, wie die digitalen Memsammlungen auch genannt werden – wie etwa 4chan, Reddit und Tumblr –, wird täglich ein beständiger Strom an Internetmemen hochgeladen und besprochen. Michele Knobel und Colin Lankshear, zwei amerikanische Forscher auf dem Gebiet der neuen Medien und Informationskompetenz, zufolge verwenden Internetnutzer das Wort »Mem«, um die rasche Aufnahme und Verbreitung einer »bestimmten Idee in Form eines schriftlichen Textes, eines Bildes, einer Sprach›bewegung‹ oder irgendeiner anderen Einheit kulturellen ›Krams‹« zu beschreiben.6 Diese umgangssprachliche Verwendung des Begriffs ist den Autoren zufolge vollkommen verschieden von seiner Verwendung in der akademischen Disziplin der Memetik: Während Erstere eher auf aktuelle, oftmals nur kurz andauernde Modeerscheinungen abzielt, ist in der »ernsthaften« Memetik »Langlebigkeit« von entscheidender Bedeutung, da sie diejenigen Meme als erfolgreich beschreibt, die langfristig überdauern.

Ein weiterer Unterschied betrifft das Untersuchungsobjekt: Während die Untersuchungseinheit in der Memetik abstrakt und umstritten ist, neigen Internetnutzer dazu, konkrete audiovisuelle Inhalte wie etwa YouTube-Videos oder lustige Bilder als Meme zu begreifen. Doch der Graben zwischen den populären und den ernsthaften Beschreibungen von Memen kann überbrückt werden. Meme scheinen zwar triviale und banale Artefakte zu sein, tatsächlich spiegeln sie aber tiefe gesellschaftliche und kulturelle Strukturen wider. In vielerlei Hinsicht lassen sich Internetmeme als (post-)moderne Folklore betrachten, bei der gemeinsame Normen und Werte durch Kulturartefakte wie mit Photoshop bearbeitete Bilder oder urbane Mythen konstruiert werden.7 Zum Beispiel zeige ich in Kapitel 8, wie sich postfeministische Vorstellungen über Geschlechterunterschiede durch Internetwitze weltweit verbreiten und wie die kritische Behandlung rassistischer Stereotype in visuellen Memen ihren Niederschlag findet. Ein...

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