A Eine ganze Generation
Ick würd dich suchen, würd dich finden,
wäre bei dir, wäre außer mir,
ick wäre echt für jeden Scheiß bereit –
für det bisschen Zärtlichkeit.
(Klaus Hoffmann, Mit Freunden)1
Die Zärtlichkeit einer Generation
Eine ganze Generation scheint – meist nachdenklich – in eine neue Ära zu starten.
Sie kuscheln eher, als dass sie „Sex“ machen.
Junge Väter entsorgen nicht nur den Müll, kaufen auf dem Markt ein oder verstehen sich nicht als „Verdiener“. Sie beanspruchen das Elterngeld, füllen Formulare aus und übergeben Frauen das Steuer. Mehr und mehr von ihnen tauchen auf bei Kindergarten- oder Kita-Elternabenden. Sie joggen mit Baby, säubern, wickeln und schmusen, arbeiten in Teilzeit und sagen: „Das ist auch gut so.“
Junge Mütter haben bestbezahlte Jobs, planen den Zeugungstermin der Kinder, geben das Baby an den Vater ab zum Füttern, schicken den Mann an die Espressomaschine, klären die Termine mit den Handwerkern und schneiden Büsche und Bäume. Wow!
Eine ganze Generation wirbelt alte Rollen gesund durcheinander.
Zu „meiner Zeit“ war das alles anders.
Mein Vater, zurück aus dem Krieg, saß auf dem Schneidertisch des eigenen Ein-Mann-Handwerksbetriebs. Meine Mutter kochte pünktlich das Essen, machte die Wäsche, verdiente ein paar Mark als „Handarbeiterin“ dazu (nächtlicher Billiglohn zu Hause), versuchte mich „aufzuklären“, hätte sich aber strikt geweigert, mit mir gemeinsam in einem Zuber oder einer Wanne zu baden.
Ich weine der alten Zeit nicht nach.
Nur versuche ich einfühlsam zu verstehen, was da innerhalb von 50 Jahren geschehen ist.
Zärtlichkeit war kein Thema meiner Eltern.
Jedenfalls nicht dem Kind gegenüber.
Über das andere weiß ich nichts, weil es im Schlafzimmer immer dunkel war und ich meine Eltern eh nie nackt sah. Ich habe nie einen zärtlichen Kuss meiner Eltern erlebt, sie nicht einmal eine kurze Wegstrecke beim sonntäglichen Spaziergang oder einen Bruchteil eines Abends „Händchen haltend“ gesehen. Nie habe ich meinen Vater dabei ertappt, wie er meiner Mutter sanft über die Backe strich. Das galt eher mir, dem Kind. Und meine Mutter wurde schon rot, wenn sie meinem Vater im Überschwang in die Rippen stieß. Und wenn dann doch so etwas wie körperliche Nähe „passierte“, dann war diese begleitet von fast peinlichem Lachen.
Sie waren einfache Leute. Kinder einfacher Eltern. Sie haben an meinem Bett gewacht, gesungen, gebetet. Sie haben mich häufig fiebernden und oft kranken Jungen gepflegt, umsorgt – aber nie Zärtlichkeiten mit mir ausgetauscht. Der Gute-Nacht-Kuss war maximal auf die Eltern beschränkt. Schmusen war – wenn überhaupt – absolut intern. Die körperliche Züchtigung dagegen war gang und gäbe.
Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Elterngeneration. Auch keine Anbiederung an die Jungen. Ich möchte nur anfangs bewusst machen, was über die Generationen gekommen ist wie ein Wirbelwind.
Der Wirbel kommt nicht von ungefähr. Denn schon meine Generation der 68er – ich habe 1967 in Heidelberg zu studieren begonnen – hatte die Vorzeichen umgedreht, liebte „von ungefähr“ und „weit gestreut“, besaß erstmals die Pille, plante oder versuchte eine anti-autoritäre Erziehung mit allen freien, befreiten und keiner Nachfrage unterworfenen Zärtlichkeiten.
Ich erinnere mich an einen immer wieder zitierten und ins Lächerliche gezogenen Satz einer Mitstudentin im Studentenwohnheim: „Liebe muss dabei sein.“ Mir tut mein eigener Spott heute noch weh.
Doch auch das ist Geschichte. Die Welle ist auch über diese kurze Geschichte hinweggefegt, hat ihr nicht einmal widersprochen, hat sie als „altes Eisen“ weggelegt.
Nicht, dass die Alten nun wieder recht bekämen, die Prügelstrafe wieder eingeführt würde und Sexualität wieder im Dunkeln verschwände. Stünde mein Großvater – „Großvater“ sagte man damals noch, und ich habe ihn geliebt, sehe und verehre ihn bis heute – heute vor mir, er würde die Welt nicht mehr verstehen, so viel hat sich in vergleichsweise kurzer Zeit verändert.
Natürlich kann man sagen: Das war immer so.
Es war aber nicht immer so.
Es änderten sich die politischen, auch die wirtschaftlichen Verhältnisse.
Es gab Unwucht und kleine oder große Karos.
Doch der Mainstream floss ruhiger.
Die Veränderungen geschahen eher in Zeitlupe.
Das Fahrwasser versprach Stetigkeit und die Unfälle blieben die Ausnahme.
Wir sind heute die Generation der „Wissenden“.
In Sekundenschnelle sind wir im Besitz von Informationen, kennen die Widersprüche, hören unterschiedliche Antworten, lesen Bücher und Meinungen, sehen die neuesten Bilder, können bei Rückfragen im Internet surfen. Die Bandbreite der Antworten anderer „Wissender“ steht uns weltweit offen.
Manchmal meine ich, die Jungen von heute müssten taumeln ob der Fülle und zweifeln angesichts des Mega-Angebots an Information.
Doch sie taumeln nicht.
Ob sie nur so tun? Oder ist das eine neue Mutation: „Mensch – Westen – 2000 plus“?
Zärtlichkeit.
Die Rufe werden lauter nach einer sanften Medizin, nach Schonung der Mitgeschöpfe. Wir wissen Bescheid über CO2-Ausstoß und Pestizide, manche misstrauen der Apparatemedizin, suchen die sanfte Geburt, auch den sanften Tod. Zwischen der sanften Geburt und dem sanften Tod suchen Menschen, deren Haut in langen Jahren des „Beherrschens“ dünn geworden ist, an der Welt der Gefühle möglichst unangreifbar teilzuhaben.
Candle-Light-Dinner. Hochzeitskutsche. Big Brother. „Passen Sie gut auf sich auf.“ „Kuschelrock.“ „Magenschonender Kaffee.“ „Wellness-Wochenende.“ Menschen suchen eigentlich längst den „sanften Weg zum Glück“.
Dieser sanfte Weg in die Innenräume, unter die Haut, könnte der Heilungsprozess einer ganzen Kultur werden – wenn er denn nicht als Schnäppchen gehandelt würde. Ein wenig Gespür dafür entwickeln schon die Händler, die immer mal wieder eine Werbung einstreuen, vollkommen ohne Ton. Und während vorher die Geräuschkulisse an dir vorüberrauschte, merkst du plötzlich auf und schaust hin, weil alles schweigt. Sie blenden dann ein: „Wir haben verstanden, Opel, Audi, Ford.“
Das geht am Umgang mit den sensiblen Dingen des Glaubens, mit Gebet, Predigt, Seelsorge nicht spurlos vorüber.
Niemand mehr erwartet eine wortmächtige Kanzelrede. Gesucht ist das sehr persönliche Gespräch, die in diesem öffentlichen Geschehen verborgene persönliche Seelsorge. Verkündigung wird in der Erwartung der mediengeprägten Menschen, der mehr und mehr sich als Individuen fühlenden Menschen eine sehr intime Geschichte zwischen dem, der spricht, und dem, der hört.
Weckruf durch die Biogenetiker
Indem
die Zärtlichkeit
der Kindheit uns verließ,
tritt schon die Jugend ein.
(Andreas Gryphius)
Was ist der Mensch?
Ebenbild – repräsentatives Standbild in einer gelungenen Schöpfung – Gottes? (1. Mose 1,26: „ein Bild, das uns gleich sei“);
Herrscher über die restliche Mitwelt? (1. Mose 28: „die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel im Himmel …“)
Ist der Mensch ein Brudermörder? (1. Mose 4: Kain und Abel)
Einer, der sich von Gott emanzipiert? (1. Mose 11: Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an die Himmel reiche.“)
Ein dem Guten gar nicht gewachsener Getriebener? (Römer 7,18b.19: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“)
Für den Vater, der – bevor er stirbt – für den Zweck einer posthumen Reproduktion sein Sperma hinterlassen hat, findet T. Murphy den Titel „Sperminator“. So zu lesen in biogenetischen Titeln, Fachzeitschriften etc.2
Ist der Mensch heute vielleicht ein biologisches Ersatzteillager, ein „Sperminator“, ein Klon, ein Vorläufer des Computermenschen, ein 1,75 m großes Tamagotchi?
Bevor wir uns in träumerische Wolkenkuckucksheime verziehen, sollten wir einen Blick werfen in die Labors unserer Konzerne. Sie sind aufs „Beherrschen“ programmiert. Wer in einem der Labore seine „Beherrschung verliert“, schadet dem Konzern, erhält keine Fördergelder und wird arbeitslos. Uns tut sich eine brutale Welt auf, die in ihrer Konsequenz vom überzähligen Embryo bis zum dementen Alten gewissenlos tötet. Eine neue Shoah? Eine ununterbrochene Shoah.
Soll ich eher fragen, was sie lassen sollten?
Oder soll ich fragen, was sie vermögen?
Und was hat das Ganze mit „Zärtlichkeit“ zu tun?
Ich bin weder ein Technikfeind, noch ein Kreationist. Ich bin dankbar für ein künstliches Hüftgelenk und staunte nach einem Absturz in Nepal über die Zuverlässigkeit eines veralteten CT-Gerätes in einem Provinzkrankenhaus. Ich flog voll Vertrauen mit einem Hubschrauber nach Katmandu, fuhr angstfrei auf dem Mekong, traute den Nachrichten in Jerusalem. Ich staune, wie mein Internist auf dem Bildschirm Blut- und Sauerstoffströme darstellen und wie ich meine Enkel beim Ultraschall im Mutterleib „hüpfen“ sehen kann.
Und doch bin...