|7|3 Allgemeine Grundsätze für die Beurteilung der Fahreignung
Im Hinblick auf die Gefahren, die mit einer falschen positiven, bejahenden Beurteilung der Fahreignung verbunden sind, muss auch die Überprüfung der Fahreignung im Rahmen der ambulanten oder klinischen Behandlung den Anforderungen genügen, die an eine behördlich angeordnete Begutachtung gestellt werden. Diese ergeben sich aus den aktuell geltenden Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Gräcmann & Albrecht, 2014) und der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) mit deren Anlagen 4, 5 und 6. Da es ausschließlich darum geht, die Fahreignung solcher Personen zu prüfen, die bereits im Besitz einer geltenden Fahrerlaubnis sind und bei denen bis zum Zeitpunkt der zerebralen Erkrankung oder Schädigung keine Bedenken hinsichtlich der Fahreignung bestanden, kann sich die Untersuchung auf die Frage möglicher fahreignungsrelevanter körperlicher oder geistiger Mängel beschränken; die Frage nach gravierenden oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze, die nach der Fahrerlaubnis-Verordnung als Indikatoren für erhebliche Verhaltensstörungen oder Charaktermängel gelten und die die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs in der Regel ausschließen (§ 11 Abs. 1 und § 46 Abs. 1 FeV), muss nicht berücksichtigt werden.
In der klinischen Beurteilung der Fahreignung ist nicht selten eine Tendenz zu einer sehr vorsichtigen bis ängstlichen Betrachtungsweise zu beobachten, bei der angenommen wird, dass ein zukünftiges Versagen des Patienten im Straßenverkehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können muss. Nach den Ausführungen in den Begutachtungsleitlinien (Kap. 2.1) ist aber davon auszugehen, dass ein Patient „ein Kraftfahrzeug nur dann nicht sicher führen kann, wenn aufgrund des individuellen körperlich-geistigen (psychischen) Zustandes beim Führen eines Kraftfahrzeugs Verkehrsgefährdung zu erwarten ist. Für die gerechtfertigte Annahme einer Verkehrsgefährdung muss die nahe durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schädigungsereignisses gegeben sein. Die Möglichkeit – die niemals völlig auszuschließen ist –, dass es trotz sorgfältiger Abwägung aller Umstände einmal zu einem Schädigungsereignis kommen kann, wird … hingenommen.“
3.1 Verkehrsgefährdung infolge mangelhafter körperlich-geistiger (psychischer) Leistungen
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, sei vorab auf einige in den Begutachtungsleitlinien verwendete Begriffe eingegangen. Insbesondere bei der mehrfach vorkommenden Begriffskombination „körperlich-geistig (psychisch)“ mag es nicht ganz eindeutig erscheinen, ob „psychisch“ lediglich als alternativer Ausdruck für „geistig“ zu verstehen ist oder die Kombination „körperlich-geistig“ umfassen soll (etwa im Sinne des Ausdrucks „psycho-physisch“). Betrachtet man die Kontexte, in denen die Begriffe „körperlich“, „geistig“ und |8|„psychisch“ verwendet werden, wird deutlich, dass sich „körperlich“ auf sensorische und motorische Funktionen bezieht, während „psychisch“ teilweise als Bezeichnung für „kognitive“ oder „intellektuelle“ (geistige) Leistungen, teilweise aber auch als Bezeichnung für „affektive“ oder „emotionale“ Funktionen verwendet wird. Speziell in Kapitel 2.5 der Begutachtungsleitlinien werden unter der Überschrift „Anforderungen an die psychische Leistungsfähigkeit“ vorwiegend solche Leistungen angeführt, bei denen sensorische, motorische und kognitive Funktionskomponenten eng miteinander verknüpft sind, wie z. B. der Reaktionsfähigkeit oder der optischen Orientierung. Eine starre begriffliche Trennung erscheint bei solchen komplexen Sachverhalten insgesamt betrachtet wohl kaum möglich; deshalb sollte hinsichtlich der Begriffsbedeutung stets der jeweilige Kontext berücksichtigt werden, in dem die Begriffe in den Begutachtungsleitlinien verwendet werden.
Nach den Begutachtungsleitlinien liegt ein „Gefährdungssachverhalt“ dann vor, „wenn
- a)
von einem Kraftfahrer nach dem Grad der festgestellten Beeinträchtigung der körperlich-geistigen (psychischen) Leistungsfähigkeit zu erwarten ist, dass die Anforderungen beim Führen eines Kraftfahrzeuges, zu denen ein stabiles Leistungsniveau und auch die Beherrschung von Belastungssituationen gehören, nicht mehr bewältigt werden können oder
- b)
von einem Kraftfahrer in einem absehbaren Zeitraum die Gefahr des plötzlichen Versagens der körperlich-geistigen (psychischen) Leistungsfähigkeit (z. B. hirnorganische Anfälle, apoplektische Insulte, anfallsartige Schwindelzustände und Schockzustände, Bewusstseinstrübungen oder Bewusstseinsverlust u. ä.) zu erwarten ist,
- c)
wegen sicherheitswidrigen Einstellungen, mangelnder Einsicht oder Persönlichkeitsmängeln keine Gewähr dafür gegeben ist, dass der Fahrer sich regelkonform und sicherheitsgerecht verhält.“
Für die neuropsychologische Beurteilung der Fahreignung ist vor allem der unter a) genannte Sachverhalt relevant. In Kapitel 2.5 der Begutachtungsleitlinien werden (in Übereinstimmung mit Anlage 5 zur FeV) als wesentliche Aspekte der psychischen Leistungsfähigkeit genannt: Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Reaktionsfähigkeit, optische Orientierung und Belastbarkeit. Die folgende Aufzählung in den Begutachtungsleitlinien führt weiter aus, wie sich Mängel in den fünf genannten Leistungsbereichen negativ im Fahrverhalten auswirken und zu einer Verkehrsgefährdung führen können:
„Optische Informationen werden in ihrem Bedeutungsgehalt nicht ausreichend schnell und sicher wahrgenommen.
Die Zielorientierung im jeweiligen optischen Umfeld, d. h. im Verkehrsraum, gelingt nicht oder nicht sicher oder nur mit einem so deutlich erhöhten Zeitaufwand, dass daraus in der konkreten Verkehrssituation eine Gefährdung entstehen würde.
Die Konzentration ist zeitweilig oder dauernd gestört in der Weise, dass die jeweils anstehende Fahraufgabe aufgrund von Abgelenktsein oder Fehldeutungen verkannt oder fehlerhaft gelöst wird.
|9|Die Aufmerksamkeitsverteilung ist unzulänglich, weil nur ein Teilbereich der für den Kraftfahrer bedeutsamen Informationen erfasst wird und/oder bei Situationswechsel, z. B. nach einer Phase der Monotonie, neue Informationen der Aufmerksamkeit entgehen.
Die Aufmerksamkeitsbelastbarkeit ist zu gering, weil es unter Stress oder nach länger andauernder Beanspruchung zu fehlerhaften Wahrnehmungen, Interpretationen oder Reaktionen kommt.
Notwendige motorische Reaktionen setzen zu spät ein und/oder werden stark verzögert ausgeführt.
Reaktionen erfolgen unsicher, eventuell vorschnell und situationsunangemessen, oder werden unpräzise, motorisch ungeschickt, „überschießend“ oder überhastet ausgeführt.
Die psychischen Leistungen sind instabil in dem Sinne, dass die erforderliche Ausgewogenheit zwischen Schnelligkeit und Sorgfaltsleistung fehlt.“
3.2 Verfahrensregeln für die Untersuchung und Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit
Die Prüfung der Leistungen soll mit „geeigneten, objektivierbaren psychologischen Testverfahren“ (Begutachtungsleitlinien, Kap. 2.5) bzw. mit „nach dem Stand der Wissenschaft“ standardisierten und hinsichtlich der Bedeutung für die Verkehrssicherheit validierten Verfahren (Anlage 5 zur FeV) erfolgen. Nach dem Bericht „Testverfahren zur psychometrischen Leistungsprüfung der Fahreignung“ von Poschadel, Falkenstein, Pappachan, Poll & Willmes-von Hinckeldey (2009) werden in Deutschland von akkreditierten Begutachtungsstellen und ärztlichen Gutachtern vor allem die Testsysteme „Wiener Testsystem“ oder „Expertensystem Verkehr“ sowie „ART2020“ verwendet. Auch für die neuropsychologische Untersuchung und Beurteilung der Fahreignung im klinischen Bereich sollten also möglichst diese Verfahren eingesetzt werden. Als ein weitgehend äquivalentes und im Sinne der Begutachtungsleitlinien „geeignetes“ und „objektivierbares“ Verfahren kommt auch die...