Archipel
Er hat im Sinn, sich ganz der Erforschung der Handels-
verhältnisse auf dem Archipel der Sunda-Inseln
zu widmen, deren Schönheit und Reichtum er mit
der größten Begeisterung beschreibt.
Tadeusz Bobrowski in einem Brief
Weit von Europa, und vielleicht in einem gleichen Abstand zu allen anderen Kontinenten, liegt Borneo. Im 19. Jahrhundert jedoch rückt dieses schillernde Inselreich in unsere Geschichte. Die Verlegung von Unterseekabeln für die Telegraphie und überhaupt die Verkabelung der Welt im Zeichen von Nachricht und Information machte die Beschaffung besonderer Materialien notwendig. Man fand sie in der Milch, die aus den Bäumen Borneos floß. Die Eingeborenen nannten sie Guttapercha, Gummibaum. Europa und Amerika brauchten Gummi für Zähne, Knöpfe, Säbelgriffe und Golfbälle, vor allem aber für Abdichtungen aller Art. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren ganze Baumarten auf Borneo ausgerottet.
Borneo wurde von den Portugiesen für die westliche Welt entdeckt. 1521 landeten die Gefährten Magellans, der zuvor auf den Philippinen im Kampf mit Eingeborenen gefallen war, an der Küste des heutigen Brunei. Man handelte mit Schildkröteneiern, transportierte Edelhölzer, Orchideen, Diamanten und Gold. Am wichtigsten waren für die Europäer die Gewürze, und das wichtigste unter den Gewürzen war der Pfeffer. Das Land, wo der Pfeffer wächst, hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung; es war eine himmlische Versprechung. Dem Eldorado der westlichen Hemisphäre kann man geradezu ein Pfefferland in der östlichen Hemisphäre zuordnen. Das Verlangen nach Pfeffer, heißt es im 22. Kapitel von Joseph Conrads Lord Jim, brannte »heftig wie Liebesglut in der Brust holländischer und englischer Abenteurer. … Kein Land, in dem der Pfeffer wuchs, in das sie nicht gegangen wären.« Diese Liebesglut aber machte die Inseln verwundbar. Gleichzeitig blieben sie politisch unübersichtlich, beherrscht von den verschiedensten Kolonialmächten und einheimischen Fraktionen, verwirrend und hinterhältig wie der Dschungel und die Flüsse in ihm. In seiner Traumvision hatte auch der preußische Kronprinz schon erkannt, daß Borneo sich vor den Europäern und Chinesen versteckte. Eine Luftspiegelung, dieses Inselreich im hinterindischen Osten, zugleich verzerrtes Abbild jener Reiche, in denen Europa im Ausklang der napoleonischen Zeit träumte. Denn das nach-napoleonische Europa, das einen ersten Anlauf auf Einigung verworfen hat, wird verwirrend sein wie ein Archipel.
Etwas Imaginäres ist an Inseln. Viele sind im Laufe der Jahrhunderte auf den Karten so lange verschoben worden, bis sie verschwanden: die Insel des heiligen Brandan, die Insel Buss, die sichelförmige Insel Mayda, die sich mal bei Cape Cod, mal bei den Bermudas aufhielt, Swacy’s Island, die sich auf sowjetischen Karten befindet, Podesta, die von dem italienischen Kapitän Pinocchio entdeckt und nie wieder gesehen ward: All diese Inseln sind Teile eines Mobiles, eines imaginären Reiches, auf das die Menschheit ihre Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und Strategien projiziert, Teile einer imaginären Geographie, die unter der realen liegt und diese mitbestimmt. Inseln und Archipele sind daher auch Landschaften für Ausgestoßene und Vertriebene, wie James Hamilton-Paterson in seinen Seestücken schreibt. Sie kommen dem Provisorium entgegen, in dem der Exilierte sich aufhält, sie verhelfen zu Flucht und Versteck, es fehlt ihnen die Überwachung durch eine Zentralmacht. Nationale Zuordnungen sind schwierig, Korsika ist italienisch und französisch, korsisch ohnehin, die Kanalinseln sind englisch und französisch, man pflegt Zweisprachigkeit, liegt zwischen den politischen und nationalen Gezeiten. Der Horizont mit seinen Schiffen ist eine Bühne der Beweglichkeit, das Meer, die schwankenden Silhouetten, die vielfältigen Winde und das strahlende Licht sorgen dafür, daß hier Grenzen ganz anderer Art gezogen sind als auf dem Lande und daß hier eine Autonomie herrscht, von der in den trüben Städten nicht einmal geträumt werden kann: Schmuggelei, Seeräuberei, Brauchtümer, Anarchien und Despotien, Verschwörungen und Rebellionen, Tyrannei und Freiheit zugleich. Inseln dienten von jeher dazu, Zukunft in Form von idealen Staatswesen zu bündeln, auch deshalb sind sie Träger von Träumen. Überall, wo etwas Neues entsteht oder experimentiert wird, muß eine Insel in der Gegenwart entstehen, mag sie räumlich oder zeitlich sein. Ein Gebiet muß sich absetzen, wie die Schauspieler einen Kreis um sich ziehen, um als Spieler erkannt zu werden. Die Insel ist der Ort des Spiels, des Traums, der Zukunft, sie ist Utopie, Laboratorium, Experiment. Daher aber ist sie auch der Realität entfremdet. Zukunft wird um den Preis der Entfremdung, des Verlustes an Gegenwart erkauft. Deshalb kann sie auch ganz plötzlich zum Gefängnis werden, zu einem Ort der Verdammten und Gescheiterten. Das ist Conrads Welt: der Archipel als Labyrinth von Lebensläufen, von undurchsichtigen Biographien, von Linien der Schuld und des Schattens, des Versteckten und Verdorbenen, zwischendurch aufgehellt von heroischen Blitzlichtern – so von Tom Lingard, dem Rajah Laut, dem weißen Herrn der fremden Meere. Auf den Inseln zwischen Borneo, Sumatra und Thailand läßt Conrad seine Figuren hindämmern oder unergründlichen Schicksalen nachgehen, an der Liebe zerbrechen, Korruptionen ausleben und Verbrechen planen: ein Almayer, der sich nach Europa zurückträumt, ein Lord Jim, der es nach seinem Scheitern noch einmal versucht, der Schwede Heyst, dem der Sprung über seinen Schatten nicht gelingt, Schomberg, der Schlechtigkeit verbreitet wie eine Krankheit, Lena, das einsame Mädchen aus dem Damenorchester, Freya von den sieben Inseln, zermalmt zwischen den Patriarchen, Lingard selbst zerrissen zwischen Ehre und Gefühl. Zugleich ist diese Inselwelt mit ihren Lagunen und Riffen, den Flüssen und Dschungeln eine kindliche Welt. Sie eignet sich für Versteckspiel und Abenteuer wie keine andere, sie wird für Conrad zu einem idealen Ausdruck der Komplexität des Gefühlslebens und seiner Widerstände.
Borneo und das Gebiet, das heute Teile von Indonesien, Malaysia und Thailand bildet, ist zentraler Bezugspunkt seines Werkes, gut zwölf Romane und Erzählungen hat er hier angesiedelt. Dabei verbrachte er kaum mehr als einen Monat in Borneo. Als zweiter Steuermann des kleinen Dampfers Vidar unternahm er zwischen August 1887 und Januar 1888 vier Fahrten an der Ostküste. Das ist schon alles, sehr wenig, wenn man es vergleicht mit dem literarischen Rang, den er dieser Inselwelt beimessen sollte. »Ich bin Borneo leidenschaftlich zugetan«, schrieb er seiner Verwandten Marguerite Poradowska, als er Der Verdammte der Inseln, seinen zweiten Roman, begann. Aber es entstand keine Dokumentation, sondern Conrad fing vielmehr jene schwebende Existenz zwischen Halluzination und Realität ein: »Schließlich«, schrieb er an den englischen Verlagslektor W.H. Chesson, »haben Fluß und Menschen nichts Wahres an sich – im vulgären Sinn – außer ihren Namen. Jede Art von Literaturkritik, die eine reale Beschreibung von Orten und Ereignissen suchte, wäre eine Katastrophe für jenes Partikel Universum, das niemand und nichts anderes in der Welt ist als ich selbst.«
Doch Borneo scheint nicht nur Träume mobilisieren zu können, gelegentlich ermöglicht es auch deren Verwirklichung. 1839 kam der englische Abenteurer James Brooke (1803–1868) nach Sarawak, wo er half, eine Rebellion zu unterdrücken. Dafür wurde er kurz darauf mit dem Titel Erster Rajah von Sarawak geadelt. Es gelang ihm durch geschickte Politik und Einflußnahme, die untereinander verfeindeten Gruppen von islamischen Malaien und einheimischen Dayaks zu versöhnen oder zumindest in Schach zu halten sowie Piraterie und Sklaverei zu unterbinden. Conrad kannte seine Tagebücher und nutzte sie für lokales Kolorit in Almayers Wahn, Der Verdammte der Inseln, Die Rettung und Lord Jim. Er war glücklich, als er 1887 im Hafen von Singapur das einstige Schiff des Rajahs, die Rainbow, passierte. Persönlich kennengelernt hat er ihn nie, Brooke gehörte vielmehr zu den Idolen seiner Jugend. Hier in der Ferne, in der Unübersichtlichkeit, schien es einem Europäer gelungen zu sein, seine zivilisatorische Mission zu erfüllen – ohne dabei korrumpiert zu werden wie Brookes afrikanisches Gegenbild Kurtz in Herz der Finsternis. Ein anderer hatte Brooke kennengelernt und ihn in einem Werk porträtiert, das eines von Conrads Lieblingsbüchern wurde: A.R. Wallace. Sein naturgeschichtlicher Klassiker The Malay Archipelago: The Land of the Orang-Utan and the Bird of Paradise ist zugleich Wissenschaft und Reisebericht. Er widmete das Buch Charles Darwin, mit dem er bekanntlich die Entdeckung der Evolutionsgesetze teilt: überleben durch Anpassung. Zeitgleich mit Darwin hatte er seine Beobachtungen im Malaiischen Archipel gemacht und ähnliche Schlußfolgerungen gezogen. Wallace vermachte seine 20000 Schmetterlinge und Käfer, seine 3000 Vogelhäute sowie Muscheln und Pflanzen dem Britischen Museum. Auf den Aru-Inseln im Süden von Neu-Guinea gelang es ihm, den Paradiesvogel zu fangen, den kaum ein Europäer bislang gesehen hatte. Am 4. Dezember 1857, einen Tag nach Joseph Conrads Geburt, befindet er sich in Ambon, vier Wochen später in Ternate. Hier wird er ein berühmtes Papier verfassen, in dem er,...