1. Survival-Training
Henning Schauenburg
Falldarstellung
Frau P., eine 22-jährige Studentin, schien in höchster Not, als sie zum ersten Mal in die psychotherapeutische Ambulanz kam und ihre Situation schilderte. Trotz der Dramatik in ihrer Stimme fiel es allerdings leicht, ihr zuzuhören und Kontakt aufzunehmen. Mit ihrem strahlenden Lächeln wirkte sie warmherzig und sympathisch, und es war unübersehbar, dass sie im Gespräch aktiv darum bemüht war, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Weder Schweigen noch Andeutungen von Vorwürfen, sei es gegenüber dem Therapeuten, sei es gegenüber abwesenden Dritten, sollten aufkommen.
«Man hat mir vor ein paar Monaten während einer Party irgendwelche Drogen ins Getränk gemischt. Ich war völlig außer mir und kann mich an einige Tage danach, in denen ich in der Klinik war, kaum erinnern. Seitdem bin ich sehr nervös und habe zwei Prüfungen im Rahmen des Grundstudiums nicht bestanden bzw. abgebrochen, weil ich es vor Angst nicht mehr ausgehalten habe. Auch die noch ausstehenden Prüfungen, traue ich mir jetzt nicht mehr zu, weil ich fürchte, mitten in der mündlichen Befragung ins Stottern zu kommen und nicht mehr weiter zu wissen bzw. einen völligen Block zu bekommen.»
Auch im Alltag kreisten ihre Gedanken überwiegend um die anstehenden Prüfungen. Schon diese brachten sie ins Schwitzen, und sie hatte tatsächlich mehrfach anstehende Termine abgesagt und sich immer weiter aus der Uni zurückgezogen.
Prüfungsangst ist an sich ein häufiges und eindeutiges Symptom. In unserem Fall blieb jedoch die initiale Situation einige Zeit unklar und damit die Diagnose offen. Die genaue Befragung ergab, dass die Patientin erstmals während einer Party unter etwas Alkohol von plötzlicher Todesangst überfallen worden war. Diese war einerseits mit visuellem Derealisationserleben (die Menschen im Raum wirkten wie durch Nebel), andererseits mit fraglichen Erinnerungslücken einhergegangen. Sie konnte sich diesen Zustand nur durch eine toxische Einwirkung von außen erklären. Aus psychiatrischer Sicht gab es aber keine Hinweise auf eine Drogenintoxikation. Auch die im Anschluss über mehrere Tage geschilderte Benommenheit war zunächst nur schwer einzuordnen. Eine stationäre Beobachtung hatte keine Befunde ergeben, so dass eine Art dissoziativer Dämmerzustand angenommen werden muss. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die Benommenheit wie auch die unklare Amnesie Folge einer hohen Benzodiazepin-Medikation durch die behandelnden Ärzte war.
Frau P. schildert sich als eine ursprünglich sehr lebensfrohe und kontaktfreudige Frau. Probleme in der Schule hatte es nicht gegeben, ihr Abitur bestand sie ohne Schwierigkeiten. Ängstlichkeit kannte sie kaum, wohl aber hatte sie vom 16. bis zum 18. Lebensjahr eine milde bulimische Symptomatik bei Normalgewichtigkeit, die sie jedoch ohne fremde Hilfe vor dem Abitur aufgeben konnte.
Das zweite diagnostische Gespräch begann sehr aufschlussreich. Die Patientin berichtete, nach dem Erstinterview mehrere Stunden bitterlich geweint und sich gefragt zu haben, ob sie etwas Unrechtes über ihren Vater gesagt hätte. Erst noch später, im fünften Gespräch kommt die völlig verdrängte auslösende Situation der phobischen Symptomatik dann ans Licht. Das erwähnte Fest hatte am Vorabend einer Prüfung stattgefunden und die Patientin hatte am selben Tag beschlossen, diese nicht anzutreten. Sie wollte sich aber auf «krummen Wegen» eine Bescheinigung besorgen, die sie ihrem Vater zum Leistungsnachweis vorlegen könnte.
Angaben zur Biografie
Frau P. ist die einzige Tochter eines leitenden Angestellten und seiner Frau. Vier Brüder, zwei, vier, sieben und zehn Jahre älter, sind alle beruflich erfolgreich (Rechtsanwälte, promovierter Chemiker, Manager). Voller Bitterkeit erzählt sie, wie sie in der intellektuellen Familienatmosphäre immer ein bisschen als das hübsche kleine Dummchen behandelt worden sei, das nicht mitreden könne. Gleichzeitig erlebt sie aber ihren Vater als einen Menschen, bei dem alleine Leistung zählt. Eine Mischung aus Faszination und hilfloser Wut gegenüber «starken Männern» wird dabei deutlich. Sie erinnert sich an einen Ferienjob, währenddessen sie in einem Landhotel Manager mitbetreute, die dort ohne ihre Frauen hingekommen waren, um ein «neues Verhältnis zur Natur» zu bekommen. Sie träumt seitdem davon, später Survival-Trainings für solche Manager zu organisieren: «Das sind faszinierende Arschlöcher.»
Die Mutter, die nach einer Lehre nie gearbeitet hat, wird von der Patientin als hilfloses «Hausmütterchen» mit Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den als überlegen erlebten Kindern dargestellt. Schließlich kommt der Patientin die Erinnerung, dass in ihrem fünften Lebensjahr der Vater die Familie wegen einer Geliebten für mehrere Monate verlassen hatte. Als die Mutter in ihrer Verzweiflung (sie drohte mit fünf Kindern alleine dazustehen) dem Mann die Tochter entgegenhält, die er doch nicht verlassen könne, erinnert sich die Patientin, wie der Vater gleichgültig reagierte und «mich an sich runterrutschen lässt». Der Patientin fallen dabei die aktuellen Ohnmachtsgefühle in Prüfungssituationen ein.
Im Verlaufe einer nur insgesamt zehn Stunden währenden Kurztherapie gelang es der Patientin rasch, ihre untergründige Rebellion gegen die väterliche Autorität zu verstehen. Gleichzeitig erlebte sie die Sehnsucht nach seiner Nähe, die wiederum wegen ihres verführerischen Charakters bedrohlich war. Sie versuchte, sich vom «männlichen Leistungsklima» der Familie zu distanzieren und dachte laut über berufliche Alternativen nach.
Den ausstehenden Prüfungen konnte sie mit zunehmend mehr Gelassenheit entgegensehen und bestand sie schließlich ohne Schwierigkeiten. Eine Weiterführung der Therapie wünschte die Patientin nicht, da sie ihr sonstiges Leben sowie ihre Partnerbeziehung als zufriedenstellend und glücklich erlebte.
Diskussion
Bei dem dargestellten Fall handelt es sich, trotz der etwas unklaren Umstände zum Zeitpunkt des Symptombeginns, aufgrund der typisch auslösenden Situation und des weiteren Verlaufs um eine isolierte Phobie, in diesem Fall eine Examensangst (F40.2; vgl. Tab. 1).
Tabelle 1: Zusammenfassende Darstellung der diagnostischen Kriterien der einfachen (spezifischen) Phobie
Differenzialdiagnose
Prüfungsangst bzw. Lampenfieber sind ubiquitäre Phänomene. Dennoch gibt es immer wieder Fälle, bei denen sich in typischer Weise die übliche Nervosität zu einem gravierenden Störungsbild steigert, dessen fatalste Folge das Vermeiden weiterer Prüfungen und damit die Gefährdung der beruflichen Lebensplanung ist. Ob derartige Ängste die Kriterien einer psychiatrischen Diagnose gemäß der ICD-10 erfüllen, hängt im Wesentlichen vom Ausmaß dieser Vermeidung des phobischen Stimulus ab. Dabei kann das Ausmaß der Vermeidung als Gradmesser der Schwere angesehen werden.
Differenzialdiagnostisch ist in unserem Falle wegen des überfallartigen Charakters der initialen Symptomatik auch an eine Panikstörung zu denken. Die Ängste haben sich aber in der Folge um eine eindeutige Situation (mündliche Prüfung) organisiert. Außerdem wirft der Verlauf der Gespräche, der schließlich die Begleitumstände des Angstanfalls aufdeckt, ein Licht darauf, dass in diesem Fall die Angabe, es gäbe keinen äußeren Anlass für die aufgetretene Angst, nicht ausreicht. Aus psychoanalytischer Sicht erscheint es im Übrigen qua definitionem naheliegend, dass die auslösende Situation einer neurotischen Symptomatik mittels verschiedenster Abwehrmechanismen (hier z. B. Verdrängung) «vernebelt» wird.
Bei der Prüfungsangst muss, mehr als bei den verbreiteten Tier-, Höhen-, Brücken- oder Klaustrophobien, auch die Verbindung zur sozialen Phobie beachtet werden. Patienten mit dieser Störung haben häufig ausgeprägte Examensängste.
Unsere Patientin schildert sich jedoch als einen offenen und kontaktfreudigen Menschen. Allerdings ist zu vermuten, dass sie einige konflikthafte und angstbesetzte Erlebensbereiche zunächst verschweigt. Eine spätere Erweiterung der Diagnose ist deshalb – wie bei neurotischen Erkrankungen häufig – nicht auszuschließen.
Die anamnestisch geschilderte Essproblematik, die dissoziativ anmutenden Derealisationserlebnisse nach dem ersten Angstanfall sowie das Auftreten der Patientin weisen auf eine Akzentuierung hysterischer Persönlichkeitsanteile hin, ohne dass die deskriptiv formulierten Kriterien der dissoziativen Störung (F44) oder der histrionischen Persönlichkeitsstörung (F60.4) erfüllt sind. Differenzialdiagnostisch ist zusätzlich ein Vergiftungswahn zu diskutieren, der sich auf den Eindruck der Patientin bezieht, dass ihr bei einer Party Drogen ins Getränk gemischt worden seien. Da es sich hierbei jedoch um ein isoliertes Symptom handelt und keine weiteren psychotischen Symptome vorliegen, muss dieser Aspekt nicht weiter verfolgt werden.
Ätiologie und Verlaufscharakteristika
Im Fallbericht zur generalisierten Angststörung werden die verschiedenen Grundängste des Menschen dargestellt (z. B. Scham-, Straf-, Kastrationsangst) und insbesondere die Trennungsangst als Grundbedingung vieler phobischer Entwicklungen betont (vgl. Kap. 25: «Hinaus ins feindliche Leben»). Unser hier geschildertes Beispiel ermöglicht uns die Betrachtung einer weiteren Ebene der Unterscheidung. Wie kommt es, dass manche Menschen, von Angst überwältigt, völlig unfähig werden, ein eigenständiges Leben zu führen, während andere nur isolierte Phobien entwickeln, die zwar oft schwerwiegend sind, aber insgesamt...