1 Klassifikation und Deskription der Störungsbilder – ein Überblick
Man kennt eine sehr große Anzahl verschiedener Schmerzerkrankungen. Hier sollen die am häufigsten vorkommenden kurz aus einer für psychologische Psychotherapeuten nützlichen Perspektive dargestellt werden. Zahlreiche sog. psychosomatische Syndrome können bei Bedarf in den Standardwerken von Fischer, Peuker und Haug (2011), Kretz und Schäffer (2008) oder Egle, Hoffmann, Lehmann und Nix (2003) nachgelesen werden.
1.1 Rheumatische Schmerzsyndrome
Klassifikation: Rheumatische Erkrankungen sind ebenso vielgestaltig wie häufig vorkommend. In der Literatur schwanken die Zahlen zwischen 100 und 460 verschiedenen Krankheitseinheiten. Ihre typischen Symptome sind Schmerzen in den Gelenken und Muskeln, steife Knie, Rückenschmerzen, geschwollene und rote Gelenke. Die Erkrankungen können also Bindegewebe, Bänder, Sehnen, Gelenke, Knochen bzw. Muskeln betreffen. Die Vielfalt der Erkrankungen wird seit 1985 als «Neue Nomenklatur der rheumatischen Prozesse» in vier große Gruppen unterteilt, nämlich
- Entzündliche Gelenk- und Wirbelsäulenprozesse, z.B. chronische Polyarthritis, Spondylitis ankylosans
- Extraartikuläre Erkrankungen, z.B. Fibromyalgie, Generalisierte Fibrositis
- Degenerative Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen, z.B. Arthrosen, Spondylosen
- Stoffwechselbedingte Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen, z.B. Gicht
Epidemiologie: Etwa 4 Prozent der Weltbevölkerung, d.h. mindestens 2,61 Millionen Menschen, leiden an einer dieser Erkrankungen, deren gemeinsames Symptom der Schmerz ist. Allein in Deutschland ist etwa jede dritte Person davon betroffen, also mehr als 20 Millionen Menschen. Im Rheumabericht der Bundesregierung (2010) wird geschätzt, dass etwa ein Drittel aller Frührenten, ein Fünftel der Krankenhaustage und ein hoher Prozentsatz aller Arztbesuche durch rheumatische Erkrankungen begründet sind. Diesbezüglich ist eine chronische Unterversorgung festzustellen. Das durchschnittliche Vorkommen in der allgemeinärztlichen Praxis beträgt etwa 12,5 Prozent. Damit werden Kosten für die medizinische Versorgung fällig, die pro Jahr bei ca. 4 Milliarden Euro liegen. Die Lebenserwartung der davon Betroffenen verkürzt sich etwa um sieben Jahre.
Nachfolgend sollen die vier großen Krankheitsgruppen insoweit beschrieben werden, als sie für Hypnotherapeuten von Bedeutung sind. Die Ausführungen stützen sich auf Sammeldarstellungen von Zenz und Jurna (2001), Flöter (1998), Basler, Kröner-Herwig, Rehfisch und Seemann (1999), Dohrenbusch (2002), Krebs (2003), Egle, Hoffmann, Lehmann und Nix (2003) sowie Fischer, Peuker und Haug (2011).
1.1.1 Entzündliche rheumatische Erkrankungen – Beispiel: Chronische Polyarthritis (ICD-10-Nr.: M05 – M14)
Die chronische Polyarthritis ist eine Repräsentantin für entzündliche rheumatische Gelenkerkrankungen. Bei ihr (syn. rheumatische Arthritis; Abk. cP, RA) handelt es sich um eine entzündliche Bindegewebserkrankung, die meistens mehrere Gelenke paarig befällt, aber auch Bindegewebe der Augen, innere Organe oder Blutgefäße können davon betroffen sein.
Epidemiologie: Die rheumatoide Arthritis (cP) ist die häufigste Erkrankung im rheumatischen Formenkreis. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland etwa 400000 Erwachsene an cP erkrankt sind oder es im Laufe ihres Lebens werden. Gemäß Mitteilungen des Robert-Koch-Institutes (2010) beginnt die Erkrankung im 5. bis 8. Lebensjahrzehnt. Jüngere Frauen haben im Vergleich zu Männern vergleichbaren Alters ein vierfach höheres Erkrankungsrisiko. Von einer genetischen Disposition ist auszugehen. Tabakkonsum ist ein hochpotenter Risikofaktor. Das Risiko erhöht sich bei diesen Personen um das Sechzehnfache.
Krankheitsbild und Krankheitsverlauf: Die Erkrankung kann schleichend, aber auch in Schüben verlaufen, ist progredient und führt zu Veränderungen aller Gelenke (vgl. Abb. 1.1). Die Entzündungsvorgänge sind Folge typischer Autoimmunprozesse. Konkrete Auslösebedingungen der Erkrankung sind bis heute noch nicht hinreichend bekannt. Progrediente Bewegungseinschränkungen der Patienten sind eine zwangsläufige Folge, die wiederum zu Muskelatrophien führen.
Während eine gerade aufgetretene cP bei etwa 20 Prozent der Patienten wieder vollständig verschwinden kann, muss bei einer mehr als zwölf Monate persistierenden Symptomatik mit einem chronischen Verlauf gerechnet werden. In etwa 15 Prozent dieser Fälle ist ein unaufhaltsam progredienter, gar bösartiger Krankheitsverlauf zu erwarten.
Man unterscheidet drei Krankheits- bzw. Chronifizierungsphasen. In der Prodromalphase sind rasche Ermüdbarkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Kraftlosigkeit, Parästhesien, Durchblutungsstörungen einzelner Finger, Gelenkschmerzen und erhöhte Körpertemperatur charakteristisch. Schmerz kann als Ruhe-, Bewegungs- und Dauerschmerz auftreten. Immer aber treten die Krankheitszeichen symmetrisch auf. Die Symptome deuten zunächst auf eine Allgemeinerkrankung hin. In der zweiten Phase, die Monate bis Jahre nach der ersten Phase einsetzen kann, kommt es zu schmerzhaften Schwellungen der großen und kleinen Gelenke, zu Morgensteifigkeit und bläulichen Verfärbungen an den kleinen Gelenken. Die Gelenkschwellungen sind weich und fluktuierend. Der Allgemeinzustand verschlechtert sich, ein typischer Händedruckschmerz ist feststellbar; ein Rheumafaktor ist serologisch nachweisbar. In der Halswirbelsäule strahlen die Schmerzen vorwiegend nach okzipital; Funktionseinschränkungen, verbunden mit Parästhesien, Schwindel, Sehstörungen und Ohrensausen können die Folge sein. In der dritten Krankheitsphase verstärken sich die genannten Symptome weiter. Schmerzhafte Schwellungen an den Gelenken beider Körperseiten werden ebenso berichtet wie Kiefergelenkschmerzen. Bewegungseinschränkungen, sozialer Rückzug, Angst vor Schmerzattacken und dysphorische Verstimmungen sind regelhaft feststellbar. Nicht immer sind die genannten Symptome gemeinsam und gleichzeitig zu beobachten. Der Übergang von einer in die andere Phase kann langsam und schleichend sein, aber ebenso auch schlagartig und in Schüben erfolgen.
Die genannten Erlebens- und Verhaltensbesonderheiten sind in zahlreichen Studien verifiziert worden. Schmerz hat die Funktion eines Stressors, welcher Angst erzeugt. Die Schmerz-Angst-Spirale ist ein Charakteristikum der cP, wie Lerman (1987) bereits festgestellt hat. Anderson et al. (1986) erwähnen zusätzlich zur Reduktion sozialer Beziehungen Angst, Depression, motorische Funktionsbeeinträchtigung und sexuelle Probleme, Schlafstörungen und Complianceprobleme. Wir haben 24 Frauen mit cP und 36 gesunden Frauen das Freiburger Persönlichkeitsinventar zur Beantwortung vorgelegt (vgl. Scholz, 1994) und die in Abbildung 1.2 dargestellten Besonderheiten im Erleben und Verhalten finden können.
Die Probanden waren hinsichtlich Alter, Geschlecht und zahlreicher anderer psychosozialer Merkmale gut miteinander vergleichbar. Gegenüber Gesunden sind cP-Patienten durch geringere soziale Orientierung, Erregbarkeit, Offenheit und Extraversion, hingegen durch größere Gehemmtheit, Aggressivität, körperliche Beschwerden, Gesundheitssorgen und Emotionalität gekennzeichnet.
Pathogenese: Unter einer somatischen Perspektive werden genetische, autoimmunologische und infektiöse Bedingungen diskutiert. Was die genetische Determination betrifft, so findet man zwar bei 9 von 10 Patienten das Allel HLA-DR422. Und auch Zwillingsuntersuchungen ergeben eine Konkordanzrate von ca. 30 Prozent bei monozygoten Zwillingen. Allerdings ist die Penetranz genetischer Dispositionen nicht hoch, sodass Jungnitsch (2003) zu der Auffassung gelangt, bei genetischen Einflüssen handle es sich um eine Prädisposition.
Bei 70 bis 80 Prozent aller cP-Patienten können laborchemisch Rheumafaktoren nachgewiesen werden, welche auf autoimmunologische Prozesse schließen lassen. Anhand von wenigstens 6 verschiedenen Immunparametern lassen sich entzündlich-rheumatische Erkrankungen nachweisen. Diese Parameter charakterisieren die Krankheitsaktivität, denn ihr Vorhandensein steht für Autoimmunprozesse, nämlich für Antikörper gegen verschiedene Zellbestandteile, Zelltypen oder Stoffwechselprozesse.
Bei cP-Patienten können weit überzufällig häufig spezifische Antigene gegen Zellen nachgewiesen werden, die mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert worden sind. Das lässt auf Infektionsvorgänge schließen.
Psychische Einflüsse haben die Funktion von fördernden Bedingungen (sind also keine Ursache). Konkret: Der eigentliche Kausalnexus wird rheumatologisch derzeit noch nicht ausreichend verstanden. Hierbei ist eine genetische Prädisposition für cP eine entscheidende fördernde Bedingung. Fördernde Bedingungen können aber auch chronische familiäre und/oder berufliche Konflikte sein. Man vergegenwärtige sich, dass bei einem subklinisch vorhandenen Krankheitsbild die Wahrscheinlichkeit eines akuten Erkrankungsstadiums steigt, wenn diese Person beispielsweise sich in einer Trennungs- bzw. Scheidungsphase befindet oder den Tod eines nahen Angehörigen zu beklagen hat. M.a.W.: Die Ursache der Erkrankung – das ist jene Bedingung, die cP unmittelbar und direkt hervorbringt – ist derzeit nicht bekannt. Die Koinzidenz der o.g. somatischen Faktoren und Veränderungen in der...