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Fama

Eine Geschichte des Gerüchts

AutorHans Joachim-Neubauer
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783882214864
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Von Odysseus bis Bin Laden: Gerüchte gab es immer, sie sind die geheimen Antriebskräfte des Weltgeschehens. »Fama« beschreibt die Funktionsweise von Gerüchten in Geschichte und Gegenwart. Gerüchte: Bereits beim Kampf um Troja mischen sie mit, und auch die Römer fürchteten die Macht des wilden Geredes. »Fama« heißt ihre Göttin des Gerüchts; als Furcht erregendes Monster rast sie durch Rom und verbreitet Entsetzen unter Sklaven, Bürgern und Herrschern. Fama schreibt Geschichte, und Hans-Joachim Neubauer bleibt ihr auf der Spur. Er entdeckt sie im antiken Athen, im Theater Shakespeares' und im Paris der Revolution, er spürt sie auf in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, in den Experimenten amerikanischer Militär-Psychologen, in Romanen, philosophischen Essays und im Internet. Fama droht überall, als Mobbing im Arbeitsleben, in der Weltpolitik als das Raunen der Masse und als fatale Waffe im Kampf um die öffentliche Meinung. Fama ist das unheimliche Echo der offiziellen Geschichte, eine Provokation für alle, die glauben, die Stimme der Vielen kontrollieren zu können.

Hans-Joachim Neubauer, geb. 1960, ist Buchautor, Journalist und Literaturwissenschaftler. Er arbeitet als Korrespondent des »Rheinischen Merkur« in Berlin. Sein Buch »Fama«, das lange vergriffene Standardwerk zum Thema, wurde in fünf Sprachen übersetzt und für diese Neuausgabe durchgesehen, erweitert und aktualisiert.

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Leseprobe

»GÖTTLICHE STIMME«, MYTHOS UND GESCHICHTE


Ein Märtyrer des Gerüchts • »Es ist ja selbst eine Gottheit« • Die Spur der Stimme • Signalpost • Feuchter als Wasser

Wer sagt, was die Leute sagen, riskiert Leib und Leben. Diese schmerzhafte Erfahrung macht im Oktober des Jahres 413 v. Chr. ein griechischer Barbier. In seinem Laden im Piräus, dem Hafen der Metropole Athen, schneidet er einem unbekannten Kunden Bart und Haar. Er ahnt nicht, dass in den nächsten Minuten die Weltgeschichte in sein Leben einbrechen wird, um ihm die tragische Hauptrolle in einem Lehrstück über Quellenkritik zuzuspielen. Denn was der Fremde aus der Ferne mitgebracht hat, wird das Leben des Friseurs verändern. Es ist bloß eine knappe, aber furchtbare Neuigkeit: Sie hat das Mittelmeer durchquert, ist von Hafen zu Hafen gesprungen. In einem Hafen kommt sie auch an ihr Ziel, als jetzt der fremde Reisende seinem Friseur erzählt, dass die athenische Flotte im Großen Hafen von Syrakus vernichtend geschlagen sei. Demosthenes und Nikias, die Athener strategoi und Oberbe fehlshaber vor Sizilien, seien ermordet, das griechische Heer gänzlich aufgerieben. Der Bote selbst, ein Sklave, sei mit seinem Herrn entkommen. Später, in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges, wird Thukydides dies alles bestätigen und von 7.000 gefangenen Griechen in den sizilianischen Steinbrüchen berichten.

Ein Märtyrer des Gerüchts


Soviel kann der Barbier nicht wissen. Ihm genügt, was er gehört hat, und rasch macht er sich auf den Weg in das sechs Kilometer entfernte Athen, um die Nachricht denen mitzuteilen, die sie angeht: dem Volk und der Obrigkeit der Polis. »Den Augenblick verließ er seine Werkstätte und lief eilends in die Stadt, dass ihm keiner käme zuvor, den Ruhm ihm entrisse, diese Nachricht in der Stadt verbreitet zu haben«, berichtet viel später Plutarch, der die Geschichte des Barbiers überliefert.1 Die bestürzten Athener versammeln sich, um der Sache auf den Grund zu gehen; schließlich handelt es sich bei dem Überbringer um den Vertreter eines nicht gerade für seine Zuverlässigkeit gerühmten Gewerbes. »Es ist gar kein Wunder, dass die ganze Zunft der Barbiere so geschwätzig ist«, räsonniert der Chronist. »Denn die ärgsten Schwätzer kommen bei ihnen zusammen und sind beständig in ihrer Gesellschaft, so dass sie sich endlich selbst auch dieses Laster angewöhnen müssen.«2 Das scheinen auch die Athener des Jahres 413 zu wissen.

»Der Barbier wurde also vorgeführt und befragt«, berichtet Plutarch weiter. »Da er aber nicht einmal seinen Ge währsmann angeben konnte, sondern sich auf eine namenlose, unbekannte Person berief, geriet die ganze Versammlung in Zorn und rief: Fort mit dem Bösewicht! auf die Folter mit ihm! das ist erlogen und erdichtet! Wer hat was davon gehört? Wer kann so etwas glauben?« Was ist Lüge, was ist Dichtung? Die Suche nach der historischen Wahrheit setzt sich fort mit den damals üblichen derben Methoden der Quellenkritik; »martyros« lautet das griechische Wort für den, der dabei war und sich erinnert, für den Zeugen: »Es wurde ein Rad gebracht und der Unglückliche darauf gespannt« und »lange Zeit gefoltert«, solange, bis andere Quellen schließlich die Nachricht des »Windbeutels« absichern, bis aus dem Gerücht Gewissheit wird, bis nämlich Augenzeugen und Boten auftreten, »die aus der Schlacht selbst entflohen waren und jene schreckliche Nachricht bestätigten. Sogleich liefen alle auseinander, jeder sein eigenes Unglück zu beweinen, und ließen den Elenden gebunden auf dem Rade liegen«, berichtet der Chronist über Undank und Quellenpflege in Athen.3

Eine deutliche Spur des Gerüchts zieht sich durch die griechische Antike. Biografien, Epen, Lieder, Dramen und andere Dokumente halten den tiefen Eindruck fest, den das Gerücht auf die Menschen der Zeit macht. Oft geht es, wenn von ihm die Rede ist, um den Krieg, und sehr oft auch um den Mythos und sein Verhältnis zur Geschichte. In einer weitgehend mündlichen Gesellschaft bergen solche Fragen naturgemäß Gefahren. Wie man sieht, besonders für unbedarfte Boten.

Plutarch erzählt seine kleine Friseurgeschichte zweimal: einmal als abschreckendes Beispiel in seiner Abhandlung über die Schwatzhaftigkeit, also mit didaktischer Absicht. Zum anderen kommt sie in seiner Biografie des Feldherrn Nikias vor, also in einem historiografischen Kontext. Aus heutiger Sicht lässt sich nicht entscheiden, ob Plutarch mit seinem Barbier eine »tatsächliche« historische Realität wiedergibt, ob er einen Mythos aufgreift oder einen erfindet. Zwischen dem Geschehen und seiner Aufzeichnung liegt etwa ein halbes Jahrtausend. Wahrscheinlich schaltet Plutarch als guter Historiograf eine Nebenfigur ein, um seine Geschichte vom Untergang des Nikias anschaulicher zu gestalten.

Der kleine Friseur fügt sich nur zu gut in das Gewebe der Erzählung. Die Figur erlaubt die Engführung eines abstrakten Vorgangs, sie konterkariert die Hauptaktion des Textes durch einen sozial tiefer gelegenen Nebenschauplatz und verdichtet das Geschehen zusätzlich dadurch, dass der Barbier stellvertretend erduldet, was die Athener erleiden: den Schmerz der schlechten Nachricht. Und was die Ethnografie des späten zwanzigsten Jahrhunderts als Entdeckung stilisiert, war für den Schriftsteller Plutarch sicher selbstverständlich, »dass nämlich das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen«4. Ob nun historische oder mythische Realität: Die Erzählung über das Schicksal des Friseurs erschließt einige für die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten in der Antike bemerkenswerte Details. Sie charakterisiert das Milieu, in dem Gerüchte entstehen und wachsen, und sie gibt Hinweise auf den gesellschaftlichen Status der informellen Rede sowie auf den Charakter der übermittelten Gerüchtebotschaft.

Das Gerücht vom Untergang der Flotte taucht zuerst an der Peripherie der Weltstadt Athen auf. Wie die Schuhmacher läden und besonders die Ateliers der Parfümeure5 gelten Friseurläden seit der Antike als Orte von Klatsch und Gerede. Ob Männer, Frauen oder Sklaven: In solchen Etablissements kann jeder am Gerücht teilhaben; wo das Öffentliche und das Private einander durchdringen, findet der logopoios, der Erfinder und Geschichtenspinner, eine ideale Bühne.6 Hier kommen sich Fremde nahe, und gerade diese von Ferne durchkreuzte und oft behagliche Nähe lädt ein zum Austausch von Geschichten und zum schmückenden Ornament. Dem Märtyrer des Gerüchts wäre einiges erspart geblieben, hätte er dies bedacht und seine Geschichte nur unter seinen Kunden verbreitet. Das Mikromilieu des Bartscherers liegt zudem in einem charakteristischen Umfeld. Häfen sind Umschlagplätze von Waren und Menschen ebenso wie von Nachrichten. Nicht nur, wer von einer Reise zurückkehrt, hat etwas zu erzählen, auch wer ein Schiff landen sieht, wer das Löschen der Ladung beobachtet und mit fremden Seeleuten redet, kann Geschichten in die Welt setzen, verbürgte, wahrscheinliche und erfundene. Jedes Schiff ist ein Kassiber.

Während sich, wie man vermuten kann, die Nachricht des unbekannten Sklaven im Piräus weiter verbreitet, läuft der Bote, den Hafen hinter sich lassend, an den Langen Mauern entlang in die Stadt. Damit wählt er den Weg, den kurz nach dem Beginn des Peloponnesischen Krieges auch die große Seuche nahm. Massen von Flüchtlingen suchten damals zwischen den als uneinnehmbar gelten den Langen Mauern Zuflucht vor den Angriffen der Spartaner. Die entsprechenden hygienischen Bedingungen sorgten dafür, dass sich, vom Hafen ausgehend, der wohl aus Pocken, Typhus und Fleckfieber bestehende »seuchenhistorische Kentaur«7 in rasender Geschwindigkeit ausbreitete: zwischen den Langen Mauern, dann aber auch in der Stadt. Ein Drittel der Einwohner Attikas, unter ihnen auch Perikles, fiel der Epidemie zum Opfer. Das Gerücht folgt also der Seuche, und auch was die Athener mit dem Hafenfriseur anstellen, als er endlich aufgeregt die Stadt erreicht, erinnert an seuchenhygienische Maßnahmen: Man isoliert die Befallenen, um das Infektionsrisiko für die Gesunden zu reduzieren.

Als Gegner der Epikuräer lehnt Plutarch das müßige Gerede ab. Deshalb auch breitet er die Geschichte des Barbiers in aller Länge aus, und genüsslich spricht er von anderen Fällen, in denen Schwätzer und Gerüchtemacher harte Strafen zu erleiden haben. Natürlich muss längst nicht jeder, der unbestätigte Nachrichten verbreitet, wie der Bartscherer vom Piräus enden, und viele entgehen auch den gerechten Folgen ihrer Tratschsucht. Aber manchen kostet sein Gerede sogar Kopf und Kragen. Der Tyrann Dionysius etwa ließ, wie Plutarch erwähnt, seinen Friseur ans Kreuz schlagen, nicht weil er zuviel wusste, sondern weil er zuviel sagte. Den Hintergrund von Plutarchs Kritik an Gerücht und Gerede aber bildet der besondere Status der informellen Rede. In Athen zumindest hat man ein feines Gespür für die Nuancen der diabole, der üblen Nachrede und Verunglimpfung, der Verleumdung und des Klatsches.

Wie geschickte Redner es verstehen, Gerüchte vor Gericht als Zeugen gegen ihre Prozessgegner zu zitieren, das erfährt im Jahre 345, fast siebzig Jahre nach dem Tag des Barbiers, der athenische Finanzpolitiker Timarchos, ein anderes Opfer des unbestätigten Geredes. Sein Widersacher, der Redner Aeschines, hängt ihm eine Affäre wegen gewerblicher Prostitution an. In der Schamgesellschaft Athens droht der geschickt instrumentalisierte Skandal dem belasteten Politiker das Genick zu brechen. Um ihre Anschuldigung zu untermauern,...

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