Mit dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) erfolgte im Jahr 2012 letztendlich die gesetzliche Verankerung der Frühen Hilfen. Dieses Hilfesystem soll jedoch nicht als neue Hilfesäule bestehen, sondern vielmehr in die bestehenden Strukturen der verschiedenen Hilfesysteme, insbesondere der Gesundheitshilfe und Kinder- und Jugendhilfe integriert und verstetigt werden. In diesem Sinne werden durch das BKiSchG die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe um frühzeitig ansetzende Angebote erweitert. (vgl. Meysen 2012, S. 53)
Im 13. Kinder- und Jugendbericht wurden die Frühen Hilfen in Anlehnung an Schone (2008, S. 57–60) in das Leistungssystem der Kinder- und Jugendhilfe eingeordnet. Frühe Hilfen greifen demnach zwischen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie (§16 SGB VIII) und den Hilfen zur Erziehung (§27 ff SGB VIII) (vgl. BMFSFJ 2009, S. 188). Dieser Systematik folgend werden Unterstützungsangebote im Sinne Früher Hilfen dann als notwendig angesehen, sofern in der betroffenen Familie bereits Risikofaktoren, wenn auch nur im geringen Ausmaß, erkennbar sind. Die erste Schwelle "Frühe Hilfen/ Frühwarnsysteme" markiert den Zeitpunkt, bei dessen Übergang die Gefährdung zunimmt und ein erzieherischer Bedarf erforderlich wird. (vgl. BMFSFJ 2009, S. 189)
Abb. 1 Einordnung Früher Hilfen (Eigene Darstellung in Anlehnung an Schone nach dem 13. Jugendhilfebericht {BMFSFJ 2009, S. 188})
Nach Ansicht des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen sind Formen Früher Hilfen an den Schnittstellen von Kinder- und Jugendhilfe, Frühförderung, Gesundheitswesen (medizinische Vorsorge und Gesundheitsförderung) und Schwangerschaftsberatung anzusiedeln (Sann und Schäfers 2008, S. 106).
Abb. 2 Was sind Frühe Hilfen? (Eigene Darstellung in Anlehnung an Sann (2008, S. 106)
Jeder dieser Bereiche bietet unterschiedliche Formen Früher Hilfen für spezifische Zielgruppen an. Je nach Konzept können die Angebote auch gemeinsam von mehreren Hilfesystemen entwickelt und geleistet werden (vgl. Buschhorn 2012, S. 17).
In diesem Kapitel werden die Frühen Hilfen als Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe dargestellt. Zunächst wird die Entwicklung der Frühen Hilfen in Deutschland vorgestellt und eine Begriffsbestimmung aus verschiedenen Perspektiven vorgenommen. Abschließend wird die Aufgabe des Kinderschutzes durch Frühe Hilfen erläutert.
Die Entwicklung der Frühen Hilfen in Deutschland steht im engen Zusammenhang mit der zentralen Aufgabenstellung der Kinder- und Jugendhilfe, den Kinderschutz und die Abwehr von Kindeswohlgefährdung zu gewährleisten.
Seit 2005 bestimmten immer wieder tragische Berichte von Kindeswohlgefährdung die Medien. Jessica (2005 in Hamburg), Kevin (2006 in Bremen) und Lea-Sophie (2007 in Schwerin) sind wohl die bekanntesten tödlich verlaufenen Fälle von Kindesvernachlässigung bzw. -misshandlung in Deutschland. Das wachsende öffentliche Interesse und die immer lauter gewordenen Vorwürfe gegenüber der Kinder- und Jugendhilfe, explizit gegenüber dem Jugendamt erforderten ein offensiveres Tätigwerden der Politik in Sachen Kinderschutz. (vgl. hierzu Hammer 2010, S. 16; Wazlawik 2011, S. 15)
In den Fachkreisen der Kinder- und Jugendhilfe gab jedoch schon vor der zunehmenden "medialen Inszenierung" (Wolff 2006, S. 46-2) von Kindeswohlgefährdung Diskussionen, Initiativen und Gesetzesvorhaben zur Verbesserung des Kinderschutzes. Bereits zum 1. Oktober 2005 trat das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) in Kraft. Mit der Einführung von § 8a SGB VIII[4] wurde der staatliche Schutzauftrag im Sinne einer Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung gesetzlich verankert und konkretisiert. Weitere Änderungen betrafen die Neuordnung der Maßnahmen bei Krisenintervention (§ 42 SGB VIII), die stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls beim Sozialdatenschutz (§§ 61 ff. SGB VIII) und der Tätigkeitsausschluss von einschlägig vorbestraften Personen in der Kinder- und Jugendhilfe (§ 72a SGB VIII). (vgl. Jordan 2007, S. 7)
Nahezu zeitgleich mit dem KICK verabschiedeten die Fraktionen der 16. Legislaturperiode CDU, CSU und SPD am 11. November 2005 den Koalitionsvertrag und vereinbarten die Initiierung des Projekts "Frühe Förderung für gefährdete Kinder – Prävention durch Frühförderung“. Die erklärten Ziele waren die Verbesserung des Kinderschutzes durch Aufbau von Frühwarnsystemen und den Frühen Hilfen, eine Verzahnung gesundheitsbezogener Leistungen und Jugendhilfeleistungen sowie zivilgesellschaftlichem Engagements, eine Verstärkung des Schutzauftrages des Staates und eine Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern. Für die Umsetzung des Projekts sollten in den darauf folgenden fünf Jahren (2006-2010) 10 Millionen Euro bereit gestellt werden. (vgl. Koalitionsvertrag 2005, S. 98)
Im August 2006 veranlasste das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) das Aktionsprogramm "Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und Soziale Frühwarnsysteme". In dessen Folge wurden bundesweit zahlreiche Modellprojekte zu Frühen Hilfen gefördert und entsprechend dem Koalitionsvertrages ein "Servicebüro" (Koalitionsvertrag 2005, S. 99) auf Bundesebene gegründet.
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) nahm im März 2007 als zentraler institutioneller Ort des Systems Frühe Hilfen seine Arbeit auf. Die Aufgaben innerhalb der ersten Förderphase (bis 2010) waren entsprechend den Inhalten des Aktionsprogramms zunächst drei Säulen, die im weiteren Verlauf erweitert wurden. Dies war zum einen, die Schaffung einer Wissensplattform, mit dem Ziel Forschung im Bereich der Frühen Hilfen voranzutreiben und die Ergebnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Die zweite Aufgabe war die aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, um die Aufgaben und Ergebnisse des NZFH transparent zu gestalten und für Frühe Hilfen zu werben. Der wechselseitige Transfer von Erfahrungen und Erkenntnissen aus Forschung und Praxis war die dritte Säule. Ziel war es, die erfolgreichen Ansätze der Modellprojekte dauerhaft in die Regelversorgung zu implementieren (vgl. Sann und Schäfers 2008, S. 115–119).
Im Juni 2008 wurde das NZFH durch den gemeinsamen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz und der Bundeskanzlerin ferner beauftragt, problematische Kinderschutzverläufe zu analysieren und die Weiterentwicklung einer Fehlerkultur im Kinderschutz in Deutschland zu unterstützen. Das NZFH bearbeitet diesen Auftrag zum einen durch das Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt "Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz" und zum anderen durch den Aufbau einer Plattform für den Erfahrungsaustausch zu problematisch verlaufenden Kinderschutzfällen.
Mit dem Start der zweiten Förderphase Anfang 2011 erweiterte sich das Aufgabenspektrum des NZFH erneut: Zum einen um den Bereich der Qualifizierung auf der Fachebene mit dem Ziel, professionsübergreifend Kompetenzen durch Fort- und Weiterbildungen zu stärken und interdisziplinäres Lernen zu ermöglichen. Zum anderen wurde der Bereich der Kooperation aufgenommen. Das Ziel ist es, durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaft, Fachpraxis, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, die Kompetenzen der verschiedenen Gebiete zu nutzen.
Das übergeordnete Ziel des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen ist laut Homepage des Zentrums (www.fruehehilfen.de), "Kinder durch eine möglichst wirksame Vernetzung von Hilfen des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe früher und besser vor Gefährdungen zu schützen."[5] Diese Zielsetzung spiegelt sich auch in der doppelten Trägerstruktur des NZFH wieder: die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die als nachgeordnete Behörde des Bundesgesundheitsministeriums im Sinne ihres Auftrags der Förderung der Kinder- und Jugendgesundheit zur Aufklärung gesundheitlicher Fragestellungen beiträgt und das Deutsche Jugendinstitut (DJI), das als Forschungsinstitut der Kinder- und Jugendhilfe seine Ergebnisse der entwicklungsorientierten Praxisforschung einbringt.
Der erste Regierungsentwurf für ein neues Bundeskinderschutzgesetz wurde bereits im Januar 2009 vorgelegt. Dieser wurde jedoch vom Bundestag nicht verabschiedet, da in den Fachkreisen gegenüber dem "rein interventionistischen Ansatz und der Verkürzung der sozialpädagogischen Fachlichkeit auf Wenn-Dann-Mechanismen ohne Einzelfallprüfung" (Meysen 2012, S. 30) Kritik laut wurde. Mit der Bundestagswahl im Herbst 2009 unterlag das Gesetz der Diskontinuität[6] und der Gesetzesentwurf wurde hinfällig.
Die Regierungsfraktionen der 17. Legislaturperiode CDU, CSU und FDP kündigten im Oktober 2009 in ihrem Koalitionsvertrag einen zweiten Anlauf zu einem...