1. Familien nach der Familienkonferenz
Als die New York Times die ›Familienkonferenz‹ eine »nationale Bewegung« nannte, war meine erste Reaktion ein gewisses Unbehagen. Als ich genauer darüber nachdachte, hielt ich es schon für möglich, dass die ›Familienkonferenz‹ einiges in Bewegung gesetzt hatte. Ich weiß, dass in 15 Jahren 250000 Eltern an ›Familienkonferenz‹-Kursen teilgenommen haben. Als ich mich an die Niederschrift dieses Buches machte, sind mehr als eine Million Exemplare des ersten Buches Familienkonferenz verkauft worden. Beinahe 8000 Fachleute aus jedem Staat der USA (und aus vielen anderen Ländern) haben an Trainingsveranstaltungen teilgenommen, um als qualifizierte Kursleiter in ihren Heimatorten wirken zu können. Allein dieser quantitative Gesichtspunkt lässt es sicherlich gerechtfertigt erscheinen, von einer Art Bewegung zu sprechen. Doch die Vorstellung an sich, eine »Bewegung« ausgelöst zu haben, verschafft mir keine besondere Befriedigung. Weit wichtiger ist die Frage, ob mein erstes Buch und der Kurs konstruktive Bedeutung für das Familienleben gewonnen haben. An einem Kurs teilnehmen heißt nicht unbedingt, dass man auch etwas lernt, ganz zu schweigen von irgendwelchen Verhaltensänderungen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass man zur Schule geht, unbedingt bedeuten muss, dass man dort auch eine vernünftige Ausbildung erhält.
Sind Eltern, die an den Kursen teilgenommen haben, bessere Mütter und Väter geworden? Und wenn, in welchem Maße? Was machen sie anders? Wie wirkt sich das auf ihre Kinder aus? Hat die ›Familienkonferenz‹ die Eltern-Kind-Beziehung verbessert? Gehen Eltern, wenn sie über die Verfahren und Techniken der ›Familienkonferenz‹ verfügen, geschickter mit ihrem Nachwuchs um? Vermag die ›Familienkonferenz‹ Eltern von einigen ihrer Schwierigkeiten zu befreien? Ziehen Eltern, die durch diese Erfahrung gegangen sind, Kinder groß, die eine größere Bereitschaft zu Verantwortung und Kooperation zeigen? Können Eltern in einem Kurs, den sie acht Wochen lang an einem Abend pro Woche besuchen, lernen, effektiver mit den unvermeidlichen Eltern-Kind-Konflikten und Wertkollisionen fertigzuwerden? Solche Fragen sollte man stellen – und beantworten –, wenn man sich ein Urteil bilden will. Wir müssen uns also überlegen, wie die ›Familienkonferenz‹ sich auf das Familienleben auswirkt, und nicht, wie weit und wie schnell sie sich als »Bewegung« ausgebreitet hat. Wo könnte man diese Fragen besser beantwortet bekommen als in Familien, deren Väter und Mütter an Familienkonferenzen teilgenommen haben? In diesem Buch berichten Kursabsolventen, welche Erfahrungen sie beim Versuch machten, die in den Kursen erworbenen Fertigkeiten zu Hause anzuwenden. Dabei hören wir nicht nur von Erfolgen, sondern auch von Schwierigkeiten und Problemen. Wir werden Familien begegnen, die u. a. bekennen:
»Wir sind nicht immer mit den Techniken der ›Familienkonferenz‹ so zurechtgekommen, wie es eigentlich hätte der Fall sein müssen, besonders wenn es um unsere ältere Tochter ging.«
»Die Praxis in alltäglichen Situationen war weit schwieriger, als es den Anschein bei der Lektüre des Buches hatte.«
»Bei unserm Jüngsten war es, als redete man gegen eine Wand.«
»Wenn ich die Technik der ›Familienkonferenz‹ in der richtigen Weise verwende, funktioniert sie. Aber wenn Jimmy wirklich aufgeregt ist, sende ich nicht immer die angemessenen Botschaften.«
»Ich habe immer noch einige Vorbehalte gegenüber der ›Familienkonferenz‹. Sie wissen schon: ›Wird sie wirklich funktionieren? Lade ich meinem Sohn nicht zu viel Verantwortung auf? Vielleicht sollte ich ihn stärker führen.‹«
Der Leser wird jedoch auch in Familien hineinsehen, die deutlich zeigen, wie effektiv die Techniken der ›Familienkonferenz‹ eingesetzt werden können. Dabei kommt es häufig zu spektakulären Erfolgen:
»Sie hat unserem Familienleben eine neue Wende gegeben.«
»Unsere Probleme sind nicht mehr der Rede wert.«
»Nun erst fühle ich mich so, wie mich meine Kinder schon immer eingeschätzt haben: als vertrauenswürdige und verständnisvolle Person. Sie brauchen keine großen Geheimnisse mehr vor mir zu haben … Das geht, weil wir einander vertrauen.«
»Die ›Familienkonferenz‹ rettete unsere Ehe.«
»Lee und ich haben jetzt eine Tochter, die die meiste Zeit ihre Eltern liebt, die die meiste Zeit ihren Bruder liebt und die vor allem die meiste Zeit über sich selbst liebt. Nur manchmal noch zeigt sie zu wenig Rückgrat. Ich möchte aber nicht wissen, was wäre, wenn ich auch weiterhin der für alles verantwortliche, allwissende und allmächtige Vater geblieben wäre.«
Der Leser soll von den Erlebnissen all dieser Eltern hören – von den Erlebnissen derer, die Probleme hatten, und von den Erlebnissen derer, die von bemerkenswerten Erfolgen zu berichten wissen. Ich denke, er wird dann ganz bestimmt wertvolle Erkenntnisse über seine Elternrolle gewinnen. Außerdem bin ich, als ich die Niederschrift unserer auf Tonband aufgezeichneten Interviews mit Kursabsolventen näher betrachtete, zu der Überzeugung gelangt, dass ich in vielen Fällen erklären kann, warum manche Eltern Schwierigkeiten mit den Methoden der ›Familienkonferenz‹ haben. Ich habe deshalb überall in diesem Buch meine eigenen Auffassungen angefügt, um zu erklären, warum die Dinge in so mancher Situation schiefliefen. Damit möchte ich dem Leser helfen, einige der Fallen zu vermeiden, in die die Eltern tappten, wenn sie versuchten, die Techniken der ›Familienkonferenz‹ im Ernstfall anzuwenden – das heißt zu Hause mit wirklichen Kindern. Häufig fragt man mich: »Doktor Gordon, haben Sie irgendwelche Vorstellungen oder Konzepte verändert, seit Sie die Familienkonferenz geschrieben haben?« Die Eltern wollen es häufig noch sehr viel genauer wissen wie z.B.:
»Sind Sie immer noch der Meinung, dass Eltern ohne Macht und Autorität auskommen sollten?«
»Beharren Sie noch immer auf dem Standpunkt, man solle es den Kindern überlassen, die Lösungen für ihre Probleme zu finden?«
»Würden Sie heute zugeben, dass Eltern ihre Kinder doch für bestimmte Verhaltensweisen strafen sollten, die nun auf gar keinen Fall mehr zu akzeptieren sind?«
»Sind Sie immer noch dagegen, dass Eltern loben oder belohnen?«
In solchen Fragen spiegelt sich ein legitimes Interesse. Man möchte wissen, ob mein ursprüngliches Modell der ›Familienkonferenz‹ sich in der doch recht langen Praxis bewährt hat. Ich werde auf diese und viele andere ähnliche Fragen im Folgenden antworten. Vorab will ich jedoch bekennen, dass das ›Familienkonferenz‹-Modell sich im Laufe der Jahre ständig gewandelt hat. Der schöpferischen Mitarbeit unserer Kursleiter ist es zu verdanken, dass die Unterrichtsmethoden grundlegend verbessert werden konnten. In regelmäßigen Zeitabständen stellte ich fest (oder rief mir ins Gedächtnis), dass das ursprüngliche theoretische Modell der ›Familienkonferenz‹ Lücken aufwies. Wichtige Ergänzungen haben zu einem vertieften Verständnis der dynamischen Eltern-Kind-Beziehung geführt. Auch als wir das umfangreiche Datenmaterial der Interviews und Fragebogen analysierten, auf das sich dieses Buch stützt, ergaben sich neue Vorstellungen und Verbesserungen.
Der Leser, der mit den Grundsätzen und Techniken der ›Familienkonferenz‹ bereits vertraut ist, wird Verbesserungen und Ergänzungen wie die folgenden begrüßen:
- Wir wissen jetzt, dass die Techniken der ›Familienkonferenz‹ auch bei sehr kleinen Kindern – Säuglingen und Kleinkindern – mit Erfolg angewendet werden können, lange bevor ihre Sprachentwicklung einsetzt. Eine Mutter berichtet, wie es ihr mithilfe der Technik des aktiven Zuhörens gelang, ihr heftig strampelndes und schreiendes Baby beim Trockenlegen zu beruhigen!
- Eltern brauchen nicht mehr so ängstlich bemüht zu sein, im Gespräch mit ihren Kindern Kommunikationshindernisse zu vermeiden. In vielen Gesprächssituationen mit Kindern ist eine allzu sorgfältige Kontrolle überflüssig. Eltern können in ihrer Wachsamkeit nachlassen und sogar zu Warnungen, Befehlen, Lösungen, Interpretationen, Fragen und Predigten Zuflucht nehmen. Entscheidend ist, dass sie wissen, wann diese Reaktionen keinen Schaden anrichten.
- Wir wissen jetzt besser, warum Kinder durch Fragen geängstigt oder gehemmt werden können.
- Wir haben neue Richtlinien für Eltern entwickelt, die ihren Kindern dadurch auf die Nerven gehen, dass sie das Zuhören übertreiben – die Rolle der »Eltern als Ratgeber«.
- Wir haben neue Richtlinien für Eltern entwickelt, die helfen sollen, wenn Kinder Bitten um Hilfe oder Rücksichtnahme nicht zur Kenntnis nehmen.
- Wir haben einige neue Anwendungsarten für Ich-Botschaften hinzugefügt – ein Verfahren, mit dessen Hilfe Eltern Kindern ihre Bedürfnisse genau mitteilen können. Dadurch lassen sich zukünftige Konflikte vermeiden.
- Wir haben entdeckt, dass nachsichtige (tolerante) Eltern und strenge (autoritäre) Eltern sich sehr ähneln – sie sind sozusagen aus demselben Holz geschnitzt. Sie unterscheiden sich beileibe nicht so sehr, wie wir angenommen haben. Beide bedienen sich der »Sprache der Macht«.
Das Modell der ›Familienkonferenz‹ ist also keineswegs unverändert geblieben. Deshalb sollen in diesem Buch auch nicht die Techniken und Verfahren wieder aufgewärmt werden, die ich im ersten Buch beschrieben habe. Leser, die das Buch bereits kennen, werden im vorliegenden Buch...