Einleitung
Woran denken Sie bei dem Wort Familie? Wenn ich meinen Ausbildungs? und Seminarteilnehmern diese Frage stelle, bekomme ich meist sehr widersprüchliche Antworten: Neben Liebe und Geborgenheit werden oft Konflikte und Unverstandenheit in einem Atemzug genannt.
Ist nicht für die meisten von uns die Familie mit widersprüchlichen Gefühlen behaftet? Wir haben neben schönen Erinnerungen auch so manche verletzende Erfahrung gemacht, an der wir heute noch zu tragen haben. Schade, dass man sich seine Familie nicht aussuchen oder selbst »backen« kann.
Familien standen zu allen Zeiten vor vielen Herausforderungen. Heute sind es die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern, der Stress in Beruf und Schule. Oft fehlt Zeit für die Kinder. Wie wird in der Familie mit Krisensituationen umgegangen, mit einem Krankheitsfall oder einer Trennung, mit Geldnot und so weiter?
Hilfen und Unterstützung, wie sie früher in der Großfamilie selbstverständlich waren, gibt es heute kaum noch – wobei hier auch immer eine Gegenleistung gefordert war. Patchworkfamilien, die »durchorganisierte« Familie, Familien mit Migrationshintergrund oder Familien, in denen einfach nur der Stress regiert, prägen heute das Bild der Familie.
Die Bindungsforschung zeigt, dass die Familie mehr als nur eine Haus? oder Wohngemeinschaft ist, sondern eine psychosoziale Prägeanstalt. Dort wird die Basis der Stressverarbeitung im Leben, die Grundhaltung zu uns selbst und zu anderen Menschen, der Umgang mit Problemen und Krisen geprägt. Später, in der selbst gegründeten Familie, bringen die Menschen vieles von dem ein, was sie in ihrer Herkunftsfamilie erlebt haben.
Damit beschäftigt sich die Familientherapie, die sich nicht nur als Therapie mit Familien, sondern auch mit Paaren und mit Einzelpersonen versteht. Denn viele Probleme, die Einzelpersonen haben, stehen in enger Beziehung zu ihren Herkunfts? und Gegenwartsfamilien. Die Familientherapie versucht solchen Wechselwirkungen auf den Grund zu gehen und geeignete Lösungen dafür zu entwickeln.
Alle großen Therapieschulen (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Systemische Therapie) haben ihre eigenen Schwerpunkte gesetzt. Was sie eint, ist der Gedanke, dass viele seelische Störungen nicht einfach aus dem Individuum heraus entstehen, sondern immer im Zusammenhang mit den Kommunikations? und Verhaltensmustern in der Familie gesehen werden müssen.
Eine Familientherapie kann helfen, die individuellen Überzeugungen, die Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen und überhaupt die Beziehungsdynamik so zu verändern, dass die Probleme und Konflikte des einzelnen Familienmitglieds, des Paares, der Familie oder eines anderen Beziehungssystems (zum Beispiel Arbeitsteam) aufgelöst beziehungsweise gemildert werden.
Anlass für eine Familientherapie können neben familiären Krisen und Konfliktsituationen auch allgemeine Lebensprobleme (Einsamkeit, Kontaktschwierigkeiten oder berufliche Probleme) und Verhaltensprobleme bei Kindern sein. Familientherapie kann mit Einzelnen, mit Paaren oder auch als Gruppentherapie durchgeführt werden. An einer Sitzung muss nicht die ganze Familie teilnehmen, wie häufig angenommen wird. Hilfreiche Veränderungen können auch dann stattfinden, wenn nur ein oder wenige Mitglieder des Beziehungssystems in einer Sitzung anwesend sind.
Als systemischer (Familien?)Therapeut beziehe ich auch in Einzeltherapien und Coachings die Familien meiner Klienten ein. Ich möchte sogar behaupten: Jede gute und wirksame Therapie ist immer zugleich Beziehungstherapie.
Die Grundthese des Buches ist: Die Familie ist kein Schicksal, sondern Beziehungs? und Entwicklungsraum, den wir alle brauchen, um ein zufriedenes und erfolgreiches Leben führen zu können. Das bedeutet manchmal, sich aus den »Umarmungen« oder »Umklammerungen« der Familie lösen zu müssen, um danach als freier Mensch mit Liebe und Achtung wieder auf sie zugehen zu können. Oder um ein Wort der Dichterin Marie von Ebner?Eschenbach zu gebrauchen: »Ganz aufgehen in der Familie heißt ganz untergehen«. Auf den Irrungen und Wirrungen dieses Weges möchte ich Sie begleiten und Möglichkeiten aufzeigen, dieses Ziel für sich selbst, zusammen mit Ihrem Partner und mit Ihren Kindern zu erreichen.
Über dieses Buch
In diesem Buch möchte ich Sie dazu motivieren, über Ihre Herkunftsfamilie (Vater, Mutter, Geschwister) und Ihre Gegenwartsfamilie, über Ihre Partnerschaft mit oder ohne Kinder, einmal gründlich nachzudenken. Wie meine Seminarteilnehmer werden Sie sich im Rückblick an manches schöne Ereignis in Dankbarkeit erinnern wie auch an so manche Verletzung. Diese widersprüchlichen Gefühle sind etwas völlig Normales – ja, sogar ein Zeichen von psychischer Gesundheit …
Ich möchte Ihnen aber auch zeigen, dass es sich lohnt, sich mit Fragen, Ansätzen und Methoden der Familientherapie und ?beratung, wie ich sie in diesem Buch beschreibe, auseinanderzusetzen und vielleicht an einer solchen teilzunehmen, auch wenn es keine akute Krise gibt.
In diesem Buch versuche ich, eine Antwort auf folgende Fragen zu geben:
Welche Gefahren, psychisch krank zu werden, lauern heutzutage in der Familie?
Welche Kräfte, Energien, geistigen Horizonte und besondere Fähigkeiten
hat mir meine Familie mitgegeben?
Was kann ich tun, um Verhaltensstörungen bei meinen Kindern zu vermeiden?
Wie kann ich mit dem Erbe meiner Ahnen/Vorfahren umgehen?
Wie kann ich mein Familienleben reicher und zufriedener gestalten?
Wie kann ich mit Konflikten mit Partner und Kindern besser umgehen?
Dieses Buch soll Ihnen auf kurzweilige Art die Methoden und Vorzüge einer Familientherapie/?beratung näherbringen, sodass Sie nach der Lektüre wissen, wie Sie und Ihre Familie davon profitieren können, was Sie bei der Auswahl eines Therapeuten beachten sollten, was Sie tun können, damit sich Ihr Familienleben harmonischer gestaltet und wie Sie in Zukunft die Rahmenbedingungen gestalten können, in denen sich Ihre Kinder optimal entwickeln können.
Konventionen in diesem Buch
Um Ihnen die Lektüre zu erleichtern, und damit Sie den größtmöglichen Nutzen daraus ziehen können, halte ich mich an folgende Konventionen:
Sie werden in dem Buch immer wieder einmal zu einer Übung beziehungsweise einem Experiment eingeladen, die beziehungsweise das Sie mit Ihrem Partner, anderen Familienmitgliedern oder allein durchführen können. Sie profitieren mehr von diesem Buch, wenn Sie den Einladungen folgen.
Alle Fallschilderungen in dem Buch stammen aus meiner Tätigkeit als systemischer (Familien?)Therapeut – sie sind also nicht erfunden. Natürlich sind die Namen anonymisiert.
Ich habe wegen der besseren Lesbarkeit darauf verzichtet, jeweils von dem »Therapeuten« und der »Therapeutin«, von dem »Klienten« und der »Klientin«, dem »Partner«, der »Partnerin« oder von dem »Leser« und der »Leserin« zu sprechen, also nach Geschlecht zu unterscheiden, wohl wissend, dass sich hinter den Bezeichnungen stets kompetente Männer und Frauen verbergen.
Was Sie nicht unbedingt lesen müssen
Um Ihren Lesefluss nicht zu unterbrechen, habe ich Passagen und Textstellen, die Sie nicht unbedingt lesen müssen, um dem Inhalt zu folgen, kenntlich gemacht.
Grau hinterlegte Kästen enthalten interessante Erklärungen und Hintergrundinformationen ...