Einführung
von Dr. Jason Fung
Ich wuchs in Toronto auf und studierte zunächst Biochemie und später Medizin an der University of Toronto, wo ich auch meine Facharztweiterbildung in Innerer Medizin absolvierte.
Nach der Weiterbildung studierte ich Nephrologie an der University of California in Los Angeles, am Cedars-Sinai Medical Center und am West Los Angeles VA Medical Center (damals VA Wadsworth). Jeder Teilbereich der Inneren Medizin zieht bestimmte Persönlichkeiten an; die Nephrologie gilt als »Fachgebiet für Denker«. Nierenerkrankungen gehen mit komplexen Problemen im Flüssigkeitssowie Elektrolythaushalt einher und genau solche Knobeleien liegen mir. 2001 kehrte ich als Nephrologe nach Toronto zurück.
Typ-2-Diabetes ist die Hauptursache für Nierenerkrankungen und ich habe viele Hundert Patienten. Die meisten leiden auch an Fettleibigkeit. Anfang der 2010er-Jahre brachten mich meine Schwäche für Knobeleien sowie meine berufliche Konzentration auf Typ-2-Diabetes und Adipositas dazu, mich auf die Ernährung zu spezialisieren.
Wie kam ich nun von der konventionellen Medizin zur Verordnung intensiver Ernährungsstrategien, darunter das Fasten? Kaum zu glauben, aber die Ernährung wird an der medizinischen Hochschule nicht besonders ausführlich behandelt. Die meisten Fakultäten gestehen der Ernährungslehre nur ein Mindestmaß im Stundenplan zu. In meinem ersten Studienjahr gab es nur eine Handvoll Vorlesungen und während des restlichen Studiums, des Praxissemesters und der Facharztweiterbildung praktisch gar keine Lehrveranstaltungen zu diesem Thema. In den neun Jahren meiner formalen medizinischen Ausbildung hatte ich etwa vier Stunden Vorlesungen zum Thema Ernährung.
Deshalb hatte ich bis Mitte der 2000er-Jahre auch nicht mehr als ein flüchtiges Interesse daran entwickelt. Zu jener Zeit war die kohlenhydratarme Atkins-Diät in aller Munde. Auch einige Mitglieder meiner Familie probierten sie aus und waren begeistert von den Ergebnissen. Wie die meisten konventionell ausgebildeten Ärzte glaubte ich jedoch, ihre Arterien würden später den Preis dafür zahlen müssen. Und wie Tausende anderer Ärzte war ich überzeugt davon, dass kohlenhydratarme Diäten reine Modeerscheinungen waren und die fettarme Ernährung sich schließlich als die beste erweisen würde.
Dann tauchten immer mehr Studien zur Low-Carb-Ernährung in der angesehensten medizinischen Fachzeitschrift, dem New England Journal of Medicine, auf. In wissenschaftlichen Studien wurde die Atkins-Diät mit der fettarmen Ernährung verglichen, welche die meisten Experten empfahlen. Die Studien kamen alle zu derselben verblüffenden Schlussfolgerung: Die Low-Carb-Ernährung führte deutlich besser zu Gewichtsverlust als die fettarme Ernährung. Noch verblüffender war die Tatsache, dass sich alle wichtigen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Cholesterin-, Blutzuckerwerte und Blutdruck unter der Low-Carb-Diät ebenfalls deutlich verbesserten. Es war ein Rätsel, eine echte Kopfnuss. Hier begann meine Reise.
Was verursacht eigentlich Fettleibigkeit?
Die Studien bewiesen, dass der Low-Carb-Ansatz funktionierte. Doch er erschien mir unlogisch, weil ich noch in dem konventionellen »CICO«-Ansatz (calories in, calories out) verhaftet war – der Vorstellung, dass Gewichtsverlust nur möglich ist, wenn man weniger Kalorien aufnimmt, als man verbraucht. Diäten nach der Atkins-Methode beschränkten nicht immer die Kalorienaufnahme, doch man nahm trotzdem ab. Irgendetwas passte da nicht zusammen.
Eine Möglichkeit war, dass die neuen Studien unrecht hatten. Das war jedoch unwahrscheinlich, da mehrere Studien zu demselben Ergebnis kamen. Außerdem bestätigten sie die Erfahrungen Tausender Patienten, die von Gewichtsverlust mit der Atkins-Diät berichteten.
Wenn man die Studien akzeptierte, musste der CICO-Ansatz also falsch sein. So sehr ich mich auch dagegen wehrte, die CICO-Hypothese war nicht zu retten. Aber was war dann richtig? Was führte zur Gewichtszunahme? Was war die Ätiologie – die Grundursache – für Fettleibigkeit?
Wir Ärzte denken fast nie darüber nach, weil wir die Antwort vermeintlich schon kennen: Wir glauben, dass die übermäßige Kalorienzufuhr Fettleibigkeit verursacht. Und wenn das Problem die übermäßige Kalorienaufnahme ist, heißt die Lösung natürlich, weniger Kalorien aufzunehmen und durch mehr Aktivität mehr zu verbrennen. Es gibt nur ein Problem: Der Ansatz »weniger essen, mehr Bewegung« wurde in den letzten 50 Jahren bis zum Umfallen praktiziert und er funktioniert nicht. Praktisch gesehen, ist es gar nicht wichtig, warum er nicht funktioniert (auch wenn in Kapitel 5 näher darauf eingegangen wird). Das Fazit lautet, dass wir es alle versucht haben und es nicht funktioniert.
Die Grundursache für Fettleibigkeit ist nämlich ein Ungleichgewicht im Hormonhaushalt und nicht im Energiehaushalt. Insulin ist ein Fettspeicherhormon. Wenn wir essen, steigt der Insulinspiegel, damit der Körper einen Teil der Nahrungsenergie für den späteren Einsatz als Fett speichert. Das ist ein natürlicher und lebenswichtiger Vorgang, der Menschen seit Jahrtausenden dabei hilft, Hungerzeiten zu überleben. Ein dauerhaft stark erhöhter Insulinspiegel führt jedoch unausweichlich zu Fettleibigkeit. Wenn man das verstanden hat, drängt sich die Lösung von selbst auf: Wenn zu viel Insulin zu Fettleibigkeit führt, muss es reduziert werden. Die ketogene Diät (wenig Kohlenhydrate, mäßig viel Protein und viel Fett) wie auch das Intervallfasten eignen sich ausgezeichnet, um einen erhöhten Insulinspiegel zu senken.
Insulin und Typ-2-Diabetes
Bei meiner Arbeit mit Typ-2-Diabetikern wurde mir jedoch klar, dass es Unstimmigkeiten in der Behandlung von Typ-2-Diabetes und Fettleibigkeit gab, obwohl die beiden Probleme eng miteinander verknüpft sind. Die Reduzierung von Insulin kann Fettleibigkeit bekämpfen, aber Ärzte wie ich verschrieben Insulin als Allheilmittel gegen Diabetes, sowohl von Typ 1 als auch von Typ 2. Natürlich senkt Insulin den Blutzucker, aber ebenso zuverlässig führt es zur Gewichtszunahme. Die Antwort war einfach: Wir behandelten Typ-2-Diabetes falsch.
Typ-1-Diabetes ist eine vollkommen andere Erkrankung als Typ 2. Bei Typ 1 zerstört das körpereigene Immunsystem die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse. Der niedrige Insulinspiegel führt dann zu erhöhten Blutzuckerwerten. Hier ist es sinnvoll, das Problem mit zusätzlichem Insulin zu behandeln, und diese Methode funktioniert auch wunderbar.
Bei Typ-2-Diabetes jedoch ist der Insulinspiegel erhöht. Die Blutzuckerwerte sind nicht hoch, weil der Körper kein Insulin herstellen kann, sondern weil er resistent gegen Insulin geworden ist – er lässt nicht zu, dass es seine Aufgabe erfüllt. Indem wir gegen Typ-2-Diabetes noch mehr Insulin verschrieben, behandelten wir nicht die Ursache des hohen Blutzuckerspiegels, nämlich die Insulinresistenz. Deshalb verschlimmerte sich Typ-2-Diabetes oft im Laufe der Zeit und die Patienten brauchten immer höhere Insulindosen.
Aber die eigentliche Frage war: Woher kam die Insulinresistenz? Schließlich konnten wir die Grunderkrankung nicht behandeln, wenn wir nicht wussten, was sie hervorrief. Tatsächlich verursacht Insulin die Insulinresistenz. Auf diese Weise reagiert der Körper auf übermäßige Mengen von Substanzen. Wenn man ständig zu viel Alkohol trinkt, entwickelt der Körper bis zu einem gewissen Punkt eine Resistenz dagegen – wir Ärzte nennen das meist »Toleranz«. Konsumiert man Suchtstoffe wie Heroin oder verschreibungspflichtige Schlafmittel wie Benzodiazepine, entwickelt der Körper auch dagegen eine Resistenz. Dasselbe gilt für Insulin.
Zu viel Insulin führt also zu Fettleibigkeit und Insulinresistenz, die als Typ-2-Diabetes bekannt ist.
Mit diesem Verständnis wurde das Problem der ärztlichen Behandlung von Typ-2-Diabetes plötzlich deutlich: Wir verschrieben Insulin, um ihn zu behandeln, obwohl zu viel Insulin das Problem erst verursacht hatte. Instinktiv wussten die meisten Patienten, dass es falsch war, was wir Ärzte taten. Ich hörte oft: »Herr Doktor, Sie sagen doch immer, Abnehmen ist das Wichtigste bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes. Trotzdem verschreiben Sie mir Insulin, von dem ich stark zunehme. Wie kann das gut für mich sein?« Darauf hatte ich nie eine gute Antwort gehabt, und nun wusste ich, warum: Sie hatten recht, es war nicht gut für sie. Wenn die Patienten Insulin bekamen, nahmen sie zu, dadurch wurde ihr Typ-2-Diabetes schlimmer, sie brauchten mehr Insulin und nahmen immer weiter zu. Es war ein klassischer Teufelskreis.
Wir Ärzte hatten Typ-2-Diabetes, der mit der richtigen Behandlung heilbar ist, falsch therapiert. Genau wie Fettleibigkeit wird Typ-2-Diabetes von zu viel Insulin verursacht. Die Behandlung muss also den Insulinspiegel senken, nicht erhöhen. Wir machten somit alles nur noch schlimmer und bekämpften Feuer mit Benzin.
Ich musste meinen adipösen und Typ-2-Diabetes-Patienten dabei helfen, den Insulinspiegel zu senken. Aber wie ging man das an? Es gibt dafür keine Medikamente. Bestimmte Operationen...