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Glaskugel Ernährungswissenschaft
Sie kennen sicher die gängigsten Regeln zur gesunden Ernährung: Obst und Gemüse sind gesund – davon soll man viel, am besten fünfmal am Tag, essen. Zucker macht dick, krank und süchtig. Fast Food auch. Ballaststoffe schützen vor Krebs. Vollkornbrot ist besser als Brot aus Weißmehl (denn da sind nur diese bösen leeren Kalorien drin). Limo und Cola sollten streng limitiert konsumiert werden, denn die machen nur dick, sonst nichts. Und natürlich: Eine vegetarische ist gesünder als eine fleischreiche Ernährung. Sicher haben Sie einige der genannten Ernährungs(nase)weisheiten erkannt. Wissen Sie auch, was sie alle – und jede weitere Regel und Erkenntnis zur »gesunden« Ernährung – gemeinsam haben? Allesamt sind sie frei erfunden. Klingt hart, ist aber so.
Beobachtungsstudien – gesunde Ernährung
Warum ist das so? Ernährungswissenschaft unterliegt aufgrund ihrer schwachen Studiengrundlage enormen Erkenntnisbeschränkungen – und so kann dieser Forschungszweig keine Beweise liefern, sondern ausschließlich Vermutungen, Hypothesen und Spekulationen. Denn das wissenschaftliche Fundament »moderner« Essforschung sind Beobachtungsstudien. Diese epidemiologischen Untersuchungen liefern jedoch nur Korrelationen (statistische Zusammenhänge), aber niemals Kausalitäten (Ursache-Wirkungs-Belege). Sowohl alle Regeln zur gesunden Ernährung als auch die Phalanx diverser Gesund-Essen-Ratschläge, die tagtäglich durch die Medien geistern, basieren auf Beobachtungsstudien und den daraus extrahierten wachsweichen Korrelationen.
Das Wissen, was es mit diesen Studien auf sich hat, erleichtert das Verständnis des Kapitels »Gesundheitsmärchen LowCarb« (siehe auch Infokasten »Interventionsstudien/Beobachtungsstudien«).
RCTs – Arzneikost
In Einzelfällen werden in der Ernährungsforschung auch randomisierte kontrollierte Studien (randomised controlled trials, RCT) durchgeführt. Diese Studien sind der Goldstandard und können – wenn sie gut konzipiert sind und richtig durchgeführt und ausgewertet werden – kausale Zusammenhänge zu Ursache und Wirkung liefern. Zu RCTs greift man im Ernährungsbereich dann, wenn bei kranken Menschen zwei unterschiedliche Ernährungsformen auf ihre »Wirksamkeit« untersucht werden sollen. Beispielsweise werden Antworten gesucht auf Fragen wie »Leben die Menschen länger, haben sie weniger Schlaganfälle und Herzinfarkte oder treten weniger Krebsfälle auf?«. »Harte Endpunkte« nennt man das. Diese Studien sind Mangelware und, wenn vorliegend, nur von schwacher Aussagekraft, denn ihre Durchführung ist stets auf nur wenige Ernährungsfälle limitiert. Elementare Kenntnisse, was es mit diesen Studien auf sich hat, sind eine gute Grundlage zum schnellen Verständnis des Kapitels »LowCarb als Arzneikost?«.
Interventionsstudien = Kausalitäten und Beweise
Mit Interventionsstudien werden in der Regel neue Behandlungen auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit überprüft. Vier wesentliche Charakteristika garantieren eine hohe Aussagekraft dieser Studienart:
Kontrollgruppe, Placebo, Verblindung und Randomisierung.
Eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT), die all diese vier Kriterien vollumfänglich erfüllt, liefert die besten und damit validesten (verlässlichsten) Ergebnisse zur Wirksamkeit von Therapien.
Kontrollgruppe und Placebo
Bei klinischen Interventionsstudien erhält die Kontrollgruppe eine andere Therapie als die Interventionsgruppe – das ist die Gruppe mit der neuen Therapie, deren Wirksamkeit überprüft wird. Die Kontrollgruppe ist essenziell, um die tatsächliche Wirksamkeit der »Intervention« (also der neuen Therapie) zu bewerten. Die Probanden der Kontrollgruppe können auch ein Placebo, ein wirkungsfreies Scheinmedikament, erhalten. Eine richtig gute Studie wird dreiarmig durchgeführt: Intervention, Kontrollgruppe, Placebogruppe.
Für eine Studie in Bereich Ernährung würde dies bedeuten: Vegetarier (Intervention), Fleischesser (Kontrollgruppe), Fleischplaceboesser (Placeboesser) sind die drei Arme der Studie.
Verblindung
Wird eine Interventionsstudie mit Kontrollgruppen »doppelblind« durchgeführt, dann bedeutet das, weder der behandelnde Arzt noch der Patient hat Kenntnis darüber, welches Studienmedikament die Teilnehmer erhalten. Beide Seiten wissen also nicht, wer im zum Studienarm der Interventions- und wer zum Arm der Kontrollgruppe gehört. Die Verblindung sorgt dafür, dass keine Wünsche, Hoffnungen oder Erwartungen in die neue Therapie (Intervention) die Ergebnisse beeinflussen.
Relevanz der Verblindung für die oben genannte dreiarmige Ernährungsstudie: Wie soll man ein Nahrungsmittel oder gar einen ganzen Ernährungsstils »verblinden«? Schwer machbar, oder? Essen sieht, riecht und schmeckt man nun mal.
Randomisierung
Darunter versteht man die zufällige Verteilung der Studienteilnehmer in die verschiedenen Gruppen (Interventions-, Kontroll-, Placebogruppe). Die einzelnen Studiengruppen zu randomisieren ist absolut essenziell, um eine Vergleichbarkeit der Studiengruppen zu gewährleisten und Verzerrungen und Scheinbeziehungen zu minimieren – denn die Randomisierung sorgt dafür, dass bekannte und unbekannte Störfaktoren (»Confounder«) möglichst gleichmäßig auf die Behandlungs-/Interventions- und die Kontrollgruppe verteilt sind. Nur diese Zufallsverteilung gewährleistet, dass die Teilnehmer in allen Gruppen ähnliche Eigenschaften haben und die Ausgangssituation in den beiden Gruppen möglichst vergleichbar ist.
Relevanz der Randomisierung für die oben genannte dreiarmige Ernährungsstudie: Wie würde wohl ein Vegetarier reagieren, der für zehn Jahre in die Kontrollgruppe (Fleischesser) randomisiert wird? Und ein Steak-Aficionado, der Teilnehmer der Intervention (Vegetarisch) werden soll. Die Placeboprobanden fragen wir besser erst gar nicht …
Fazit: RCTs von höchster wissenschaftlicher Qualität sind zur Klärung der Gretchenfrage »Was ist gesunde Ernährung?« nicht durchführbar!
Beobachtungsstudien = Korrelationen und Hypothesen
Mit Beobachtungsstudien lassen sich Zusammenhänge erkennen, die dann in einer Interventionsstudie (klinische Studie) auf ihre tatsächliche Beziehung überprüft werden müssen: Liegt nur eine Korrelation vor oder gar eine echte Kausalität?
Bei Beobachtungsstudien gibt es keine gezielte »Intervention«, also keine Verabreichung einer Therapie. Die Forscher beobachten lediglich, dokumentieren und verknüpfen abschließend statistische Zusammenhänge, und das über mehr oder wenige lange Zeiträume von Monaten bis Jahrzehnten.
Vor Durchführung einer Beobachtungsstudie wird festgelegt, welche Behandlung oder Ernährungsform in Zusammenhang mit welchem Ereignis (Krankheit, Tod) beobachtet werden soll. Mehrere Studienarten kommen dafür in Betracht. Die gängigsten sind:
Prospektive / Retrospektive Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien
Fall-Kontroll-Studie
Das ist eine retrospektive Beobachtungsstudie. Retrospektiv bedeutet, dass die Forscher bereits vorliegende Daten auswerten und Zusammenhänge neu verknüpfen. Im Bereich Ernährung schaut man beispielsweise in medizinischen Unterlagen nach, was Menschen gegessen und getrunken haben, die an Krebs oder Herzerkrankungen leiden. Eine Ursache-Wirkungs-Beziehung lässt sich daraus nicht ableiten.
Kohortenstudie
Fundament der Ökotrophologie stellen prospektive Beobachtungsstudien dar, bei denen eine Gruppe von Menschen (Kohorte) auf bestimmte Lebensweisen oder Therapien beobachtet werden. Prospektiv bedeutet »in die Zukunft«. In einer prospektiven Kohortenstudie wird die Teilnehmergruppe demnach über mehrere Jahre fortlaufend beobachtet. Eine Ursache-Wirkungs-Beziehung lässt sich auch damit nicht belegen.
Fazit: Beobachtungsstudien liefern statt Beweisen nur Hypothesen. Diese Studien sind daher nicht geeignet, um aus ihren Daten präventive oder therapeutische Empfehlungen abzuleiten.
Vergleichsstudien – Diätwirksamkeit
Mischformen aus Beobachtungsstudien und RCTs kommen oftmals zum Einsatz, wenn Erkenntnisse zur unterschiedlichen Effizienz verschiedener Diäten zur Gewichtsreduktion gewonnen werden sollen. Mal werden die Diätler bzw. die erhobenen Daten einfach nur beobachtet, mal werden sie nach den Kriterien der RCTs (siehe Infokasten »Interventionsstudien/Beobachtungsstudien«) in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Die Ergebnisse solcher Studien sind Grundlage der Daten im Kapitel »Abnehmlüge LowCarb«.
Fundamentale Lücken im Fundament des Wissens
Beobachtungsstudien bilden das Fundament aller Ernährungserkenntnisse. Da Funktionäre und Gesundheitsapostel diese Studien massiv überbewerten (müssen), damit sie ihr vermeintlich valides Wissen unters Volk bringen können, schauen wir uns diese Studienform einmal näher an. Es folgt ein sehr vereinfachtes Beispiel, das gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Zum einen erfahren Sie, wie Beobachtungsstudien funktionieren und...