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Faszien-Jogging –
Faszienstretching
Zum Faszien-Jogging gehört das Faszienstretching und umgekehrt, beide Methoden stellen eine Einheit dar:
- Beim Faszien-Jogging wird das hohe Leistungspotenzial der Sehnen und Faszien bei der Bewegung unmittelbar zur Antriebsförderung abgerufen und damit die Überwindung der Schwerkraft nachhaltig erleichtert.
- Das Faszienstretching ist Prävention und Therapie zugleich für ein Gewebe, das von seiner Grundversorgung am Ende der Sauerstoffleitung liegt und sich somit schwertut, im Zustand der Verletzung bzw. Erkrankung, reparative Erneuerungsprozesse von sich aus in Gang zu bringen.
In beiden Fällen steht das Bindegewebe im Zentrum, das bisher in der Medizin wie im Sport ein Schattendasein geführt hat – vollkommen zu Unrecht. Zum einen kann von den Faszien ein enormer Leistungsschub bei der Bewegung ausgehen, wenn man als »Kickstarter« den Gegenschwung nutzt, der der Muskulatur gleichwertig an die Seite gestellt werden kann. Zum anderen spielen sich die krankhaften Veränderungen, die Verletzungen einbezogen, in diesem sauerstoffverarmten (bradytrophen) Gewebe ab, denn die bisherige Chirurgie am Stütz- und Bewegungsapparat war stets eine Sehnen-Faszien-Chirurgie, niemals eine Muskelchirurgie.
Das betont statische Stretching der letzten Jahre war ein Dehnungsprogramm ohne Bewegung, eine Gelenköffnung jenseits der Muskelspindeln, die auf jeden Muskelimpuls mit einer Kontraktion reagieren; also hat man die Bewegung gleich ganz gestrichen. Die neuen Ultraschallgeräte haben aber gezeigt, dass wir mit diesem statischen Stretching unsere Aufgabe nicht gelöst haben, denn die Faszien, die auf diese Längenerweiterung so dringend angewiesen sind, wurden durch das bewegungslose Stretching nicht erreicht.
Faszienstretching ist somit ein regelrechter Kameraschwenk in Medizin und Sport, weil nur dynamische Bewegungsimpulse imstande sind, auf das relativ hohe Erregungspotenzial des Golgie-Sehnenorgans Einfluss zu nehmen.
Dynamisches Faszienstretching hat somit das eine Ziel, durch bestimmte Bewegungsimpulse während des Stretchings das hohe Erregungspotenzial der Sehnenspindel zu erreichen, um hierdurch einen weiteren Entspannungsimpuls mit in die Dehnung einbringen zu können.
Das ist der entscheidende Grund, dass ich in diesem Buch nicht nur das Faszien-Jogging vorstelle, sondern gleichzeitig auf die exzellente Wirkung des Faszienstretchings eingehe, damit Sie in Zukunft zweifach gerüstet sind:
- Einmal für eine ergänzende Leistungssteigerung bei der Bewegung.
- Zum anderen im Verletzungs- und Erkrankungsfall, um sofort die richtigen Maßnahmen ergreifen zu können, damit Sie sich bald wieder Ihrer Bewegung und Ihrer vollen Gesundheit erfreuen können oder es erst gar nicht zur Verletzung kommen kann.
Unsere Bewegung im Schwerkraftfeld der Erde ist ein herausforderndes Unterfangen. Wir ringen nach Luft und die Bewegung kostet uns viel Mühe und Schweiß, was sich bei der Überwindung von Hindernissen wie Berge und Treppen noch um ein Vielfaches steigert. Die Muskeln in den Beinen werden schwer, schmerzhafte Verspannungen lassen oft jeden Schritt zur Qual werden, vor allem, wenn der notwendige Energiebedarf bei hoher Belastung nicht mehr ausreichend gedeckt ist. Jeder von uns kennt es aus eigener Erfahrung: Es ist kein erfreulicher Zustand, wenn der Körper, keuchend nach Luft schnappend, abrupt seinen Dienst einstellt. Man fühlt sich wie ein Fisch an Land.
Das ist die Folge harter Muskelarbeit bei der Bewegung am Limit: Viel Sauerstoff wird verbraucht, kann aber von den Körperreserven nur schwer kompensiert werden. Zum einen ist der Muskelmotor schlicht überfordert, zum anderen ist in dieser Gangart das unerschöpfliche Potenzial der Sehnen und Faszien vernachlässigt worden. Das ist das Alltagsbild auf unseren Straßen, die einseitige Bewegung ohne Gegenschwung, vorfußbetont auf Absatzschuhen, monotoner Muskelstress, der häufig in nächtlichen Wadenkrämpfen endet. Bei diesem Bewegungsverhalten nutzen wir nur fünfzig Prozent unserer möglichen Antriebsenergie, das gewaltige Potenzial der Sehnen und Faszien bleibt ungenutzt auf der Strecke. Diese absatzbetonte Gangart ist mühsam, sie verbraucht Kraft, viel Kraft sogar, sodass viele von uns von vornherein ganz auf diese Art der Fortbewegung verzichten und lieber gleich auf technische Antriebshilfen umsteigen, jederzeit zu beobachten an einem Lift in einem Hochhaus oder Hotel, wo in den Treppenhäusern stets gähnende Leere herrscht.
In Deutschland laufen die Falschen
Jetzt werden Sie vielleicht als Gegenargument die großen Volksläufe ins Feld führen. Durchaus richtig, aber es laufen die Falschen, wie in einer aktuellen Studie der Sporthochschule Köln nachgewiesen werden konnte. Abends nach der Arbeit im windigen, nassen Stadtpark sind vorwiegend Laufprofis unterwegs, mehr oder weniger gesunde und junge Menschen, die sich auf ihren nächsten Wettbewerb vorbereiten. Die eigentlich Betroffenen bleiben lieber zu Hause, das sind die Menschen mit Übergewicht und Typ-II-Diabetes, Hypertoniker oder Menschen mit Fettstoffwechselstörungen. Von dieser Gruppe laufen im Durchschnitt nur zehn Prozent.
Alarmstufe 1: Bewegungsnotstand in Deutschland
Das erste Gesundheitsgebot in Deutschland: Laufen ist in, weil es leicht geht, Freude macht und Glückshormone freisetzt! Das kann das neue Faszien-Jogging leisten, getragen von der belebenden Schubkraft, die ergänzend zur Muskulatur von den Faszien geliefert wird!
Wie konnte es nur passieren, dass die moderne Leistungsgesellschaft in diesen fehlerhaften Kreislauf geriet, der unsere allseitig ausgerichtete Bewegungsanlage zwischen Richt- und Gegenschwung auf eine derart monotone Frontorientierung reduzierte, sodass die Gegenwart durch die vorherrschende Beschleunigung nur noch im Zeitraffereffekt verschwommen wahrgenommen werden konnte? Mehrere Gründe sind zu nennen:
- Der Fortschrittsglaube an die Technik machte aus dem Lauf- ein Sitzwesen, Motorkraft ersetzte Muskelkraft, der Mensch büßte damit seinen Bewegungssinn ein.
- Arme und Hände hatten ab sofort Motor und Maschine zu dienen, in dieser Monotonie war der energiefördernde Gegenschwung nicht mehr vorgesehenen, speziell Schulter- und Hüftgelenke erstarrten in permanenter Fronteinstellung, in der die Hände nur noch als verlängerte Hebel technischer Geräte zu funktionieren hatten.
- In seinem Hang nach Höherem rüstete der Mensch gleichzeitig von der flachen Sandale leichtfertig auf den höheren Absatzschuh um, der aus Sicht der Biomechanik eine Fehlkonstruktion ist. Damit wurde den Faszien allgemein und der Achillessehne im Besonderen ihr unterstützender Bewegungseinsatz genommen. Aus dem bipolar eingestellten Rück- und Vorfußgeher in seinem Wechselspiel zwischen Synergisten und Antagonisten wurde der absatzbetonte Vorfußgeher, der monoton im Unterschenkelbereich auf den Antrieb der Wadenmuskeln als Synergisten angewiesen war.
Abb. 1 | Frontbetontes, monotones Absatzgehen, bei dem der Muskel deutlich seine Länge ändert, während die Sehnen-Faszien sich kaum verändern. Anders das Fasziengehen mit Gegenschwung und Vibration im Fersenbereich, hier kontrahiert sich der Muskel fast nur isometrisch, die faszialen Elemente dagegen verlängern sich deutlich (modifiziert nach Kawakami et al. 2002).
Durch den Verlust des energiefördernden Gegenschwungs über den Einsatz der Antagonisten waren plötzlich die Muskeln in ihrer Bewegungsarbeit völlig auf sich allein gestellt, sodass der Mensch bei jedem Schritt nur fünfzig Prozent seines Leistungspotenzials abrufen konnte. Die gleichstarken Kraftreserven der Faszien verschwanden ungenutzt im Zustand der Tatenlosigkeit. In der menschlichen Entwicklung spielt aber das natur-richtige Verhalten in der Bewegung eine entscheidende Rolle, denn auf dem Tanzboden der Evolution wird unser Weiterkommen zum einen von der eingeschlagenen Richtung, zum anderen vom Wechselschritt unterschiedlicher Rhythmen bestimmt, in diesem Falle vom Wechselspiel zwischen Synergisten und Antagonisten. Ein weiteres Erfolgskonzept der Evolution ist die Wiederholung einer Schrittfolge, bis alle Verbesserungsmöglichkeiten restlos ausgeschöpft sind, wie es die Bionik (Wissenschaft aus Biologie und Technik) beweist. Das könnte im Umkehrschluss bedeuten, dass der Mensch aufpassen muss, dass er durch die permanente Unterfunktion seiner Füße sich auf diese Gehhilfe bald nicht mehr verlassen kann, wie das inzwischen bei vielen Zeitgenossen der Fall ist. In der Natur wird nur das gefördert, was auch genutzt und gebraucht wird.
Der Wechselschritt zwischen Richt- und Gegenschwung auf dem Laufparcours der Evolution ist essentiell für unser Leben in Bewegung, ein natürlicher Rhythmus, der sowohl auf Muskel- als auch auf Faszieneinsatz ausgerichtet ist.
Dieses Wunderwerk der Schöpfung liegt in unseren Füßen verborgen, sollte aber nachhaltig genutzt werden, zum einen durch Muskeleinsatz, zum anderen aber gleichwertig unterstützt durch das gewaltige Antriebspotenzial der Faszien, eine geniale Spiralfederkonstruktion, die bereits den Aufbau des vorderen Quer- sowie des hinteren Längsgewölbes des Fußes bestimmt. Allein der Keilbildung der Fußwurzelknochen ist es zu verdanken, dass bei jedem Schritt durch den Aufbau dieses Gewölbes Vibrationskräfte in Erscheinung treten, die die Frontalbeschleunigung stützen, nachhaltig getragen von elastischen Bändern, Sehnen und einer großflächigen Plantaraponeurose, die wie eine schwingende Trampolinmatte ihren...