Trauma und Belastungsreaktionen – viele Puzzleteile ergeben ein Bild
Jeder von Ihnen hat sicherlich schon das Wort „Trauma“ gehört. Doch was genau verbirgt sich dahinter? Ist es das, was wir im Alltag damit verbinden? – Dieses Wort wird so oft verwendet, dass man schon fast von einem inflationären Gebrauch sprechen könnte. „Im Urlaub ist alles schiefgegangen. Der Flug wurde verschoben, wir mussten 15 Stunden auf den Anschlussflug warten. Jetzt bin ich total traumatisiert von der Airline XY.“ Viele Menschen bezeichnen Dinge, die sie als schlimm erleben, als traumatisch, um zu verdeutlichen, dass ein Ereignis für sie besonders ärgerlich, traurig oder nervig war. Das jedoch hat mit dem Begriff des Traumas in Medizin oder Psychologie nichts zu tun.
Lassen Sie uns genau ansehen, welche einzelnen Puzzleteile zusammen ein besser verstehbares Bild von einem Trauma ergeben. Dazu gehören sowohl die medizinischen als auch die psychologischen Hintergründe. Ergänzt wird das Puzzle durch die Auswirkungen, die ein Trauma haben kann, und die sogenannte Resilienz, die „Krisenfestigkeit“, die Menschen in schwierigen Situationen schützt.
Traumata in Medizin und Psychologie
Ursprünglich stammt das Wort Trauma aus dem Griechischen und bedeutet Wunde oder auch Verletzung. Das passt sehr gut zur medizinischen Verwendung des Begriffes Trauma: Medizinisch gesehen ist ein Trauma die Verletzung lebenden Gewebes, entstanden durch Einwirkung von außen. Das kann ein Schlag sein, der zum Beispiel auf ein Bein trifft und einen Knochenbruch verursacht, eine Verbrennung oder auch eine Verätzung durch die Einwirkung von Chemikalien. Neben der direkten Verletzung bezeichnet Trauma auch die Auswirkungen in der Folge, wie etwa einen Blutverlust.5
Würden Sie auf dem Wochenmarkt eine Umfrage machen und die Menschen dort fragen, was sie unter einem Trauma verstehen, bekämen Sie vermutlich Antworten wie diese: Ein Trauma ist ein schlimmes Ereignis wie Krieg, Folter, ein Überfall oder eine Vergewaltigung. – Aber ist das wirklich so? Ist die Ursache eines Traumas in solchen Ereignissen zu suchen? Nicht unbedingt. Für manche Menschen ist der Krieg der Auslöser eines Traumas, für andere nicht. Für manche Menschen ist ein Skiunfall traumatisch, für andere nicht.
Was genau macht denn nun ein Trauma aus, wenn es nicht nur am Ereignis selbst hängt? Im Lehrbuch zu Psychiatrie und Psychotherapie findet sich folgende Erklärung: „Unter einem Trauma wird ein Ereignis verstanden, das von jedem Menschen als extrem belastend oder katastrophal erlebt werden würde. Der Betreffende erfährt eine oder mehrere Situationen, in denen er lebensbedrohlichen Ereignissen oder Handlungen ausgesetzt war, durch die er körperlich schwer verletzt wurde oder die seine psychische Integrität bedrohten. Ebenso wird darunter das Miterleben der genannten Situationen als Zeuge verstanden, wenn primär andere Personen davon betroffen sind. Als Beispiel für traumatische Situationen werden … Naturereignisse, von Menschen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwere Unfälle oder die Beobachtung eines gewaltsamen Todes anderer und das Erleben von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderer Verbrechen genannt.“6
Wie kann es dann sein, dass manche Menschen nicht traumatisiert sind, obwohl sie ähnlich schlimme Erlebnisse überstanden haben?
Um zu verstehen, wann ein Ereignis für den einzelnen Menschen tatsächlich zu einem Trauma wird, ist es hilfreich, verschiedene Puzzleteile getrennt voneinander zu betrachten.
Die Ereignisse, auf die sich der Begriff Trauma bezieht, haben wir bereits genannt. In ihrer Mehrzahl sind dies äußerlich vorliegende Umstände. Doch was genau passiert im Körper?
Auch wenn wir Menschen schon lang in Dörfern und Städten leben und über viele technische Errungenschaften verfügen, die unser Leben leichter machen, ist unser Gehirn doch nach wie vor auf Überleben programmiert. Das bedeutet, dass ein Teil von uns stets damit beschäftigt ist, die Umgebung zu beobachten und die im Gehirn ankommenden Reize zu beurteilen: Droht möglicherweise von irgendwo Gefahr? Im Alltag ist uns das nicht bewusst, es sei denn, unser Gehirn greift blitzschnell ein und schaltet instinktiv auf Flucht oder Angriff um.
Vor ein paar Jahren war ich abends mit dem Auto auf einer Landstraße unterwegs. Plötzlich registrierte ich ein entgegenkommendes Fahrzeug, das viel zu weit auf meiner Fahrbahnseite auf mich zukam. Der letzte Gedanke, bevor es gekracht hat, war: „Was tut der auf meiner Straßenseite?“ Im nächsten Moment hörte ich bereits das Splittern von Glas. Wir waren ungebremst frontal zusammengestoßen. Ich hatte großes Glück, dass ich mit relativ harmlosen Verletzungen aus diesem Unfall herausgekommen bin. Sowohl die Polizei als auch die Rettungsmannschaft sprachen von einer ganzen Busladung an Schutzengeln, die mein Überleben ermöglichten. Unter anderem hatte ich instinktiv das Lenkrad nach rechts gerissen, wodurch der Aufprall zumindest etwas gemindert wurde. – Hatte ich das bewusst entschieden? Nein, das wäre in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Mein Gehirn hat die Situation sehr schnell und richtig eingeschätzt: Lebensgefahr! Und ohne dass ich darüber nachdachte, hat mein Körper reagiert: Weg hier! In diesem Fall setzte ich das durch den Versuch um, nach rechts auszuweichen.
Unser Großhirn, mit dem wir denken, ist eine feine Sache und leider in bedrohlichen Situationen viel zu langsam. Bis wir uns entschieden haben, was jetzt die beste Möglichkeit wäre, ist der Moment schon vorüber. Diese instinktive Reaktion verdanken wir der Tatsache, dass auch der Mensch ursprünglich ein Beutetier war, und in Gefahrensituationen hat der überlebt, der am schnellsten weggelaufen ist oder angegriffen hat.
Im Gehirn passiert dabei Folgendes: Ein ankommender Reiz – das kann etwas sein, was wir sehen, hören oder auch fühlen – wird danach beurteilt, ob er eine Gefahr darstellt oder nicht. In dem Moment, in dem die Amygdala – ein bestimmter Bereich des Gehirns, auch Mandelkern genannt – den Reiz als Gefahr erkennt, setzt sie eine Kaskade von vegetativen Reaktionen in Gang. Der Körper bereitet sich in Bruchteilen von Sekunden darauf vor, zu fliehen oder anzugreifen:
- Herzschlag und Blutdruck steigen: der Körper wird besser mit Sauerstoff und Energie versorgt
- die Muskelspannung erhöht sich
- Zucker wird als Energiereserve ausgeschüttet, um Flucht oder Angriff zu ermöglichen
- Endorphine vermindern das Schmerzempfinden.
Jetzt ist der Körper bereit für Flucht oder Angriff. Wir alle haben schon erlebt, dass dieses wunderbare Notfallsystem uns in schwierigen Situationen vor größerem Schaden bewahrt hat, weil wir vor einer Gefahr ausgewichen sind oder uns gerade noch fangen konnten, bevor wir vom Fahrrad gestürzt wären. Dabei ist dies ein vergleichsweise harmloses Beispiel, das jedoch helfen kann zu verstehen, wie aus einem schlimmen Erlebnis ein Trauma mit Folgen wird.7
Der Körper ist auf Flucht oder Angriff programmiert und wenn ein Mensch in eine für ihn sehr bedrohliche Situation gerät und dieses Programm nutzen kann, verarbeitet er das Erlebnis eher nicht als Trauma.
Wenn jedoch das Gehirn erkennen muss, dass weder Flucht noch Angriff möglich ist, entsteht ein tiefes Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Das ist sozusagen der Baustein, der hinzukommt, wenn ein Trauma entsteht und der Betroffene länger unter den Folgen leidet. Es entwickelt sich ein Zustand, der „Freeze“ genannt wird. Die Ereignisse sind so schlimm, dass der Körper nur noch mit Erstarrung reagieren kann. Das Gehirn erkennt, dass der Mensch sich nicht durch Flucht oder Angriff in Sicherheit bringen kann. Die Amygdala arbeitet auf Hochtouren. Sie feuert permanent und sorgt dafür, dass das Ereignis nur in Fragmenten gespeichert wird. Das ist ein Notfallprogramm des Körpers, um das Überleben zu sichern. Da es für den Organismus nicht möglich ist, sich aus der gefährlichen Situation zu entfernen, nutzt er die Möglichkeit der inneren Distanzierung. Es ist wie ein geistiges Wegtreten oder das Neutralisieren akuter Todesangst, das durch das Ausschütten körpereigener Opiate ermöglicht wird.
Normalerweise nehmen wir die Ereignisse zusammenhängend wahr und speichern sie auf folgende Weise im Hippocampus, dem „Archiv“ unseres Gedächtnisses, ab:
- biografisch: Ich kann mich erinnern, dass ein bestimmtes Ereignis passiert ist.
- episodisch: Ich kann mich an Anfang, Mitte und Ende erinnern, ohne den Ablauf durcheinander zu bringen.
- narrativ: Ich kann über das reden, was passiert ist.
In einem Freeze-Zustand fließt so viel Noradrenalin durch den Körper, dass es die integrative Wahrnehmung blockiert und die Erinnerungen in Fragmenten abgespeichert werden. Das führt dazu, dass sich der Betroffene nur noch in Einzelstücken erinnern und er diese nicht so ohne weiteres zusammensetzen kann. Es sind Fragmente, einzelne Sequenzen, Bilder oder Körperwahrnehmungen. Stellen Sie sich vor, das Ereignis wird so abgespeichert, als wäre ein Foto zerrissen worden. Man weiß, dass da was war, doch es sind alles einzelne Papierfetzen, ein zusammenhängendes Bild fehlt. Das erklärt, warum ein Trauma oft nicht einfach so erzählt werden kann.8
Damit also wirklich ein Trauma entsteht, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen: Ein sehr belastendes Ereignis wird vom Gehirn als Gefahr eingestuft,...