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E-Book

Feierabend hab ich, wenn ich tot bin

Warum wir im Burnout versinken

AutorMarkus Väth
VerlagGabal Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783862005420
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Warum Burnout ein strukturelles, kein individuelles Problem ist Burnout wird ein immer wichtigeres Phänomen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Kosten belaufen sich auf Milliardenbeträge. Bisher gilt Burnout als Problem des Einzelnen, doch der steht in Wahrheit am Ende einer Kette von Fehlentwicklungen: das inhumane Prinzip Multitasking, die Entgrenzung des Arbeitslebens, die Illusion des Zeitmanagements, schlecht ausgebildete Chefs und fragwürdige Werte. Burnout geht alle an: Führungskräfte und Unternehmenslenker, die Auswege suchen aus der 'Weiter-so-Mentalität' und nicht zuletzt den 'normalen' Arbeitnehmer. Das Buch analysiert die unternehmerischen und gesellschaftlichen Missstände und zeigt, wie wir eine menschlichere und damit letztlich produktivere Arbeitswelt schaffen können.

Markus Väth (Nürnberg), Dipl.- Psychologe, ist Inhaber der Beratungsfima Mensch & Chance, Nürnberg und tätig als Experte für Business Coaching und Changemanagement in mittelständischen Unternehmen.

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Leseprobe

2. KAPITEL


Die Burnout-Industrie


Es war heiß – jedenfalls für April. Die Sonne schien durch die Bäume vor seinem Haus. Vögel sangen. Die Natur strahlte Optimismus aus – ein Gefühl, das Konstantin Wagner im Moment so gar nicht nachvollziehen konnte.

Wagner strich erneut eine Telefonnummer auf seinem Zettel durch. »Schon wieder eine Nullnummer«, seufzte er innerlich. Dies war schon der vierte Therapeut in seiner Stadt, den er wegen eines Erstgesprächs angerufen hatte. Und wieder hatte er eine Absage erhalten. Dass es so schwierig werden würde, seinen Burnout therapeutisch anzugehen, hatte er nicht gedacht. Eine gewisse Hoffnungslosigkeit ergriff von ihm Besitz.

Nicht genug damit, dass er nun seit vier Wochen krankgeschrieben war und er bei seinem Chef auf der Abschussliste stand. Das wusste er von Werner. Und jetzt fand sich auch partout kein Therapeut, der für ihn Zeit hatte. Alle hatten sie ihn vertröstet – ehrlich bedauernd, aber in der Sache unerbittlich. Vor drei, vier Monaten sei da gar nichts zu machen, so der einhellige Tenor. Alle seien »voll bis Oberkante Unterlippe«. Konstantin Wagner fragte sich, wie das Ganze laufen würde, wenn er selbstmordgefährdet wäre. Wenn man sozusagen schon mit dem Handy in der Hand auf der Brücke steht und noch einmal einen Versuch startet. Da bräuchte man schon mehr als »La Paloma« in der Warteschleife.

Dabei war es schon schwierig gewesen, diese sechs Therapeuten aufzutun. Sein Hausarzt hatte ihm einen empfohlen, die anderen hatte er sich selbst zusammengesucht: aus den Gelben Seiten und aus Empfehlungen von Internet-Foren. Mit mildem Entsetzen hatte er festgestellt, dass man als Betroffener gar nicht so leicht an einheitliche Listen von qualifizierten Burnout-Therapeuten kam. Da war viel Eigeninitiative und Recherche gefragt – eine Arbeit, die sich Konstantin Wagner in seinem Zustand gern erspart hätte. Er fuhr sich mit der Hand müde über die Augen.

»Was soll man schon machen?«, dachte er. »Du musst mit den Karten spielen, die du kriegst.« Das hatte er immer getan und das Beste daraus gemacht. Er setzte sich an den Küchentisch, griff zum Telefon und wählte die nächste Nummer.

Fast jeder, der ab und zu eine Zeitung aufschlägt oder den Fernseher einschaltet, hat inzwischen von Burnout gehört, kennt jemanden, der darunter leidet oder ist selbst Burnout-Opfer. Der Begriff »Burn-out« wurde 1974 vom deutschstämmigen Psychoanalytiker Herbert Freudenberger geprägt, zuerst in den USA publiziert und hat sich über die Zeit in unseren allgemeinen Sprachgebrauch gefräst wie Sonne durch ein Brennglas. Manchmal muss man der angloamerikanischen Welt einfach dankbar sein für ihre Sprachkreationen, die Dinge auf den Punkt bringen, jedoch nur schwer oder gar nicht ins Deutsche übersetzbar sind. »Sophisticated« oder »Sabbatical« gehören auch dazu.

Beim Thema »Burnout« sprechen wir also nicht von balinesischen Kochrezepten auf Chili-Ingwer-Basis, die sich nur einem kleinen Kreis internationaler Spitzenköche erschließen. Im Gegensatz zu balinesischem Essen ist Burnout in aller Munde. Aber was ist Burnout genau? In wie vielen gestressten Köpfen steckt er? Wie groß ist eigentlich das Burnout-Problem in Deutschland? Und wie reagiert die Gesundheitsindustrie darauf?

Eschers Treppe

Kennen Sie das Werk Treppauf und Treppab des niederländischen Künstlers M. C. Escher? Es ist das Bild einer Treppe, deren Stufen sich scheinbar rundherum immer höher schrauben. Dennoch landet das Auge des Betrachters immer wieder bei der untersten Treppenstufe. Eine optische Täuschung, die sogar dann bestehen bleibt, wenn das Gehirn um den Täuschungseffekt weiß. Die Wahrnehmung folgt eben manchmal nicht den Gesetzen der Logik – auch wenn der Vulkanier Spock im Raumschiff Enterprise stets dafür gekämpft hat.

Ein ähnliches Paradox finden wir beim Burnout. Der Begriff »Burnout« ist längst Allgemeingut, während die Wissenschaft seit über 30 Jahren bei der Eingrenzung, Diagnose und den Begründungsmodellen von Burnout keine nennenswerten Fortschritte gemacht hat. Das ist auf den ersten Blick überraschend, denn Burn-out findet sich quasi überall: in der Tagespresse, in Ratgebern und Selbsthilfeliteratur, als Diskussionsthema auf Personalmessen und in TV-Formaten. Nicht zu vergessen die abendlichen Gespräche unter Freunden, bei denen man beklagt, man fühle sich so ausgebrannt, müde und lustlos, dahinter stecke bestimmt ein Burnout.

Wenn man den Begriff »Burnout« bei Google eingibt, erhält man etwa 59 Millionen Fundstellen. Begrenzt man die Suche auf deutschsprachige Seiten, bleiben immerhin noch knapp 6,5 Millionen. Obwohl der Begriff seit über 30 Jahren populärwissenschaftliche Karriere gemacht hat, ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig, was Burnout eigentlich ist: eine echte Störung im klinischen Sinn? Eine Unterform der Depression? Eine Modediagnose für gestresste Großstädter, die ihrem sinnentleerten Scheitern wenigstens den Abgang des Heroischen gönnen wollen?

Die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, was Burnout eigentlich ist.

Fest steht, dass vor dem Phänomen des modernen Burnouts bereits an vergleichbaren Erschöpfungszuständen geforscht wurde. Der amerikanische Neurologe George Miller Beard veröffentlichte 1869 in New York einen Aufsatz zu einem Krankheitsbild, das er »Neurasthenie« nannte, eine »nervöse Überreizung«, die vor allem geistig anspruchsvolle Berufe und die Oberschicht betraf und die erhebliche Ähnlichkeiten mit heutigen Burnout-Symptomen hatte: Kraftlosigkeit, Appetitmangel, Schlafstörungen, Kopf- und Gliederschmerzen etc. Bis zu Beards Tod im Jahr 1883 legte die Neurasthenie als medizinische Diagnose eine erstaunliche Karriere hin.

Nachdem Beard das Entstehen der Neurasthenie mit der beginnenden Industrialisierung inklusive Presse, Telegrafentechnik und der aufkeimenden Frauenbewegung in Zusammenhang gebracht hatte, galt es in bestimmten Kreisen fast als schick, an Neurasthenie zu leiden. Zeigte man doch dadurch, dass man sich bewusst an Industrialisierung und Modernisierung beteiligte (sonst würde man ja nicht darunter leiden). Und nichts ist für eine aufstrebende Mittelschicht elektrisierender, als zur gesellschaftlichen Avantgarde zu gehören. Daher zähle ich Klaus Wowereits Spruch über Berlin, das »arm, aber sexy« sei, zu den kleineren, aber politisch genialen Werbekampagnen der letzten Jahre. Eine ähnliche Bewegung war die Psychoanalyse-Welle im New York der 1980er-Jahre, während der jeder, der etwas in der New Yorker Gesellschaft auf sich hielt, einen Analytiker für seinen gestressten Dauerzustand sein Eigen nennen musste. Hier war die Visitenkarte des Psychiaters, die man bei Partys aus dem Täschchen zog und weiterempfahl, Ausdruck des eigenen Stresspegels und zugleich Zurschaustellung der Aufopferungsbereitschaft als Dienst an der Gesellschaft.

Während nun die Psychologieforschung der letzten 100 Jahre insgesamt auf vielen Gebieten Erfolge und eine durchaus lebendige Geschichte zu verzeichnen hat, kümmern die wissenschaftlichen Ergebnisse zu Burnout weiter vor sich hin – trotz des Vorläuferkonzepts Neurasthenie und eines jahrzehntelangen, medialen Begriffsgebrauchs bis zur Abnutzung.

In der psychiatrisch-klinischen Forschung drückt sich das durch ein – in der Fachwelt beachtetes, von der Öffentlichkeit unbemerktes – Missverhältnis aus: Während in der für Europa gültigen International Classification of Diseases ICD-10, dem Standardwerk für die Einteilung psychischer Störungen, die Neurasthenie in der Störungsklasse F48.0 immer noch mehr oder weniger prominent vertreten ist, fristet Burnout als Zusatzkategorie Z73.0 »Erschöpfungssyndrom (Burnout-Syndrom)« im Kapitel 21 (»Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen«) ein Schattendasein.1 Burnout ist für die klinische Forschung eine sogenannte Ausschlussdiagnose: Sie kommt dann zur Anwendung, wenn man andere Krankheitsbilder wie Depression oder Persönlichkeitsstörungen für eine Diagnose ausgeschlossen hat und einfach nichts anderes passt. Wirklich trennscharfe Kriterien, die einem Psychologen oder Hausarzt innerhalb eines Katalogs zeigen könnten, diese und jene Symptome bedeuteten eindeutig Burnout, gibt es nicht. So bleibt es dem gesunden Menschenverstand des einzelnen Laien, der Presse und der Daumenpeilung des Betriebsarztes überlassen, ob es sich um Burnout handelt oder nicht.

Burnout wird meist diagnostiziert, wenn nichts anderes passt.

Die Burnout-Forscher Andreas Hillert und Michael Marwitz nennen diesen Zustand ungeschminkt eine »Katastrophe«. Sie nähern sich dem Thema »Burnout« empirisch – mit ernüchternden Ergebnissen. Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Landschaft müssen sie zugeben, dass bislang...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
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