Advent
Wer feiert?
Katholische und evangelische Christen.
Was wird gefeiert?
Die vorbereitende Ankunft Christi.
Vier Meter Luftlinie von mir entfernt ist er tatsächlich. Und vor allem leibhaftig: der Weihnachtsmann …
Da hängt er. Er trägt einen seiner traditionellen roten Lederstringtangas und ist fast schon absurd muskulös. Jede Vene zeichnet sich auf seinem Körper ab. Mit mehreren Litern Babyöl eingeschmiert, hängt er triefend kopfüber an einer Poledancestange und zeigt den Menschen seinen knackigen Weihnachtsmannhintern. Und natürlich hat er einen langen Bart – nur nicht im Gesicht.
Ich bin auf dem Weihnachtsmarkt «Santa Pauli» auf Hamburgs berühmt-berüchtigter Vergnügungsmeile, der Reeperbahn. Das Zelt, in dem der Weihnachtsmann seinen traditionellen Weihnachtsstrip performt, ist gerammelt voll. Genau wie die meisten Besucher hier. Postbeamte, Krankenschwestern, Soziologiestudierende und andere Interessen- und Milieugruppen versammeln sich zu dieser sehr eigensinnigen Melange aus Ballermann, Oktoberfest und dabei doch irgendwie weihnachtlicher Seligkeit in einem Festzelt, das in diesem Moment ein bisschen wie ein Tempel wirkt, in dem eine heilige Messe stattfindet. Das Pfeifen und Pfandbechereinsammeln gehört zur heiligen Handlung dazu. Und selbstverständlich wundert sich niemand der Anwesenden über dieses Szenario, denn: Es ist Advent.
Nach der beeindruckenden Vorführung lasse ich den Weihnachtsmann in seinem Zelt zurück und flaniere über den Weihnachtsmarkt, auf dem es all die adventlichen Dinge zu kaufen gibt, die man noch aus seiner Kindheit kennt. Klassiker wie nackte Weihnachtsfrauen mit riesigen Brüsten, die mechanisch abwechselnd bedeckt und enthüllt werden, traditionelle Lebkuchendildos, Schokobananen (beides zähle ich nur zufällig nacheinander auf), Keramiken von Weihnachtszombies und dem altbewährten Festschmaus Weihnachtsnachos.
Wer jetzt denkt, dass es auf der Reeperbahn selbstverständlich ganz eigene Adventsbräuche gibt, hat nur bedingt recht. Die Hamburger Innenstadt ist auf einer relativ kleinen Fläche mit ziemlich vielen sogenannten «Hauptkirchen» ausgestattet. Man mag also meinen, dass es in der repräsentativen City traditioneller zuginge. In eine dieser Hauptkirchen, St. Petri, um genau zu sein, verirre ich mich, weil auch hier eine große Adventsfeier stattfindet: Die Hamburger Feuerwehr feiert die Weihnachtszeit. Traditionell in einer proppenvollen und mit unendlich vielen Kerzen geschmückten Kirche, mit Schottenröcken und Dudelsäcken, auf denen Weihnachtslieder in, sagen wir, besonderer Schönheit gespielt werden. Auch interessant. Die Adventszeit ist also eine ganz besondere Zeit, in der der Phantasie, wie man sie feiern möchte, fast keine Grenzen gesetzt sind.
Etwas weniger drastisch sind wahrscheinlich die Weihnachtsmarktbesuche, die jeder von uns kennt. Die, auf denen man mit den Kollegen aus dem Büro aufläuft, um dieses Mal wirklich nur einen Glühwein zu trinken, in diesem Jahr auch «bitte, echt jetzt» ohne Schuss und nach dem man dann auf jeden Fall nach Hause muss, weil man noch so wahnsinnig viel Weihnachtsstress hat. Nur um sich dann sechs Becher später sagen zu hören, dass jetzt dringend noch der Apfelpunsch mit Stroh-Rum getestet werden müsse und man doch lieber den «Winzer-Glühwein» (was das eigentlich sein soll …?) hätte nehmen sollen, weil der morgige Sensationskater jetzt schon im Kopf sturmklingelt. Solche Weihnachtsmärkte, auf denen man dann – Glühweinrausch sei Dank – die besonders gute Idee hat, für die Schwiegermutter einen unglaublich teuren, muntgepöteten Batikschal zu kaufen («Der ist total weich und super gewebt!») und ein sehr teures Stück krümeliger, dafür aber handgeschöpfter Seife. Kennen wir alle.
Die Adventszeit ist eine Zeit der Vorbereitung. Und das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner all der bunten und kuriosen Arten, auf die der Advent heute begangen wird. Denn mit dem Advent beginnt das Kirchenjahr. Das ist insofern interessant, weil das Kirchenjahr da beginnt, wo das Kalenderjahr fast am Ende ist. Spannend ist, dass Anfang und Ende, nämlich nach der jeweiligen Kalenderart, sich hier überschneiden. Denn während die Adventszeit kirchlich gesprochen die Vorbereitungszeit auf die Ankunft Jesu Geburt an Weihnachten ist, beinhaltet sie, als Zielgerade des Kalenderjahres, beides: Rückblick und Ausblick. Man schaut noch einmal zurück auf das ganze Jahr und hat dieses völlig irrationale Gefühl, man müsse dies und jenes unbedingt «noch vor Weihnachten» fertig machen und abwickeln, weil … ja, weil man das eben so macht. Und natürlich lässt man auf den Weihnachtsmarktorgien im Dunst der Glühweinkessel das Jahr noch mal Revue passieren, nur um festzustellen, dass es dieses Mal nun wirklich noch viel schneller vergangen ist, man mehr Sport hätte machen müssen und weniger Zeit mit Quatsch, ganz egal welcher Art, hätte verschwenden müssen. Advent als Zeit des Rückblicks. Aber eben auch: Advent als Zeit des Ausblicks. Nicht nur, dass sich – befeuert durch den Rückblick – die ersten Vorsätze in Kopf und Herz formen, die man dann Silvester ausspricht und drei Tage lang einhält. In der Adventszeit bereiten wir uns alle auf Weihnachten vor. Ganz egal, ob nun als Christen oder nicht, und auch ganz gleich, wie man Weihnachten feiert und versteht.
In dieser kleinen Beobachtung liegt vielleicht noch eine Besonderheit, die eine Bedeutungsverschiebung deutlich macht: Oft sprechen wir gar nicht von der «Adventszeit», sondern viel eher von der «Vorweihnachtszeit», die für viele Menschen eigentlich genau so «zu Weihnachten» gehört. Weihnachten dehnt sich von den ursprünglichen drei Tagen auf die gesamte «Vorweihnachtszeit» aus, in der durch all die klassischen Weihnachtsmotive, die sich kulturell durchgesetzt haben, vor allem die eigene Nostalgie befeuert wird. Advent, Vorweihnachtszeit und dann natürlich Weihnachten selbst sind vor allem mit Sehnsucht verknüpft. Nach dem unbestimmten «Gefühl von früher», nach einer Form von Kontakt zum eigenen Glauben, nach Ruhe, nach Licht, nach … wonach auch immer. Aber diese Sehnsucht bringt beide Auffassungen von Advent, also der «klassischen» aus dem Kirchenjahr und der «neuzeitlichen» aus dem Kalenderjahr, wieder zusammen: In der Adventszeit bereitet man sich – sehnsuchtsvoll – vor. Kirchlich gesprochen auf die Geburt Christi, kulturell und zivilreligiös auf Jahresende und -anfang und auf die Feiertage.
Der Name Advent kommt von dem lateinischen Wort «adventus», was einfach erstmal nur «Ankunft» bedeutet. Ursprünglich hieß die lange Form «Adventus Domini», also «Die Ankunft des Herrn», aber im Laufe der Zeit hat sich die kürzere Variante im Volksmund durchgesetzt. Die Christen verstehen diese Zeit als die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, das Fest der Geburt Christi.
Das Kirchenjahr beginnt für Katholiken und Evangelische gleichermaßen mit dem ersten Adventssonntag. Vier Adventssonntage gibt es, und wer sich jetzt denkt, «Das weiß ich doch alles!», könnte bei einem Blick auf den im letzten Moment gekauften Adventskalender stutzig werden. Denn der 1. Dezember, an dem die meisten von uns sich über den Adventskalender hermachen, ist natürlich gar nicht unbedingt der erste Advent. Das Datum dazu wechselt von Jahr zu Jahr und liegt zwischen dem 27. November und 3. Dezember und ist immer der vierte Sonntag vor dem Weihnachtstag, also dem 25. Dezember. Im Umkehrschluss heißt das, dass die Adventszeit, wenn sie einem hin und wieder ganz besonders lang vorkommt, tatsächlich auch besonders lang sein kann. Wenn der 24. Dezember erst auf den Samstag nach dem vierten Adventssonntag fällt, brennen die vier Kerzen auf dem Adventskranz von Sonntag bis Samstag. Länger geht’s also nicht.
Der Adventskranz ist neben dem Adventskalender vielleicht das am häufigsten gebrauchte Symbol dieser Zeit. Fast jeder hat einen zu Hause, und natürlich hat auch jeder eine Meinung, wann man wie viele Kerzen anzünden soll, darf, muss oder kann. Der Adventskranz gehört für die meisten von uns also zum festen Adventszubehör. Dabei gibt es ihn noch gar nicht so lange. Und «erfunden» hat ihn ein Hamburger Theologe. Johann Hinrich Wichern, so der Name, war der Begründer dessen, was man «Diakonie» nennt, also dem «Dienst am Nächsten». Wichern selbst lebte in Hamburg in einem alten Bauernhaus, dem sogenannten «Rauhen Haus», und nahm in diesem sehr einfachen, aber großen Haus immer wieder obdachlose Kinder auf, mit denen er gemeinsam bei Kerzenlicht sang. In der Adventszeit fragten ihm die Kinder – in ebendiesen atmosphärisch besonderen Stunden – immer ein Loch in den Bauch, wann denn nun endlich Weihnachten sei. Und weil Wichern irgendwann das Fragen satthatte, nahm er kurzerhand ein altes großes Wagenrad aus Holz und steckte 19 kleine Kerzen und vier große Kerzen darauf. Dabei standen die kleinen Kerzen für die Wochentage, die großen für die vier Adventssonntage. Jeden Tag durfte eine weitere Kerze angezündet werden, sodass jedes Kind sofort sehen konnte, wie lange es noch bis Weihnachten war. Einige Zeit später wurde das Wagenrad aus Holz noch mit Tannengrün umwickelt – denn schon in der germanischen Kultur stellte man sich grüne Pflanzen in die Hütten, um böse Geister der Dunkelheit abzuwehren –, und so wurden daraus die Adventskränze, die wir auch heute noch benutzen und die erst seit gut 100 Jahren in den meisten Haushalten stehen. Übrigens: zuerst bei den...