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E-Book

Der Strom des Bewusstseins

Über Kreativität und Gehirn

AutorOliver Sacks
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644040915
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Hat ein Regenwurm Empfindungen? Wie viele Nervenzellen hat eine Qualle, und wozu dienen sie ihr? Was kann man aus der Beobachtung von Menschen lernen, die an Migräne leiden? Und was passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns falsch erinnern? Diese und viele andere Fragen behandelt Oliver Sacks in seinem neuen Buch. Der New Yorker Neurologe ist durch seine Fallgeschichten weltberühmt geworden. Voller Empathie und mit großer Fachkenntnis hat er immer wieder Menschen porträtiert, deren Leben durch eine schwere Krankheit oder Behinderung geprägt wurde - und hat seinen Lesern gezeigt, welche Chancen die Abweichungen vom sogenannten Normalen bieten und welche positiven Besonderheiten die betroffenen Menschen auszeichnen. Als er im Sommer 2015 starb, war gerade seine Autobiographie «On the Move» erschienen - und wurde weltweit zum Bestseller. Fast bis zum letzten Tag hat er noch an einem Band mit neuen Studien und Fallgeschichten gearbeitet, die von den kreativen Potentialen des menschlichen Gehirns zeugen. Wie entsteht Bewusstsein? Wie funktionieren Gedächtnis und Erinnerung? Dieser Band, den Oliver Sacks' engste Mitarbeiter nun druckfertig gemacht haben, liest sich wie eine Art Vermächtnis des großartigen Autors und Menschenkenners.

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

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Leseprobe

Kapitel eins Darwin und der Sinn der Blumen


Wer kennt die Geschichte nicht: Der zweiundzwanzigjährige Charles Darwin heuert auf der Beagle an und fährt bis ans Ende der Welt; Darwin in Patagonien; Darwin in den argentinischen Pampas (wo es ihm gelingt, seinem Pferd ein Lasso um die Beine zu werfen); Darwin in Südamerika, wo er die Knochen riesenhafter ausgestorbener Tiere sammelt; Darwin in Australien, wo er – immer noch religiös – beim Anblick eines Kängurus staunt («Gewiss müssen hier zwei verschiedene Schöpfer am Werk gewesen sein»). Und, natürlich, Darwin auf dem Galápagos-Archipel, wo er feststellt, dass die Finken auf jeder Insel anders aussehen; und wo er eine bahnbrechende Idee hat, eine neue Vorstellung von der Evolution der Lebewesen, die ein Vierteljahrhundert später zur Veröffentlichung der Entstehung der Arten führen sollte.

Mit der Veröffentlichung der Entstehung im November 1859 erreicht die Geschichte ihren Höhepunkt – und wird noch mit einer Art elegischem Nachspiel versehen: dem Bild eines ältlichen und kränkelnden Darwin, der in den gut zwanzig Jahren, die ihm verbleiben, ziemlich plan- und ziellos im Garten seines Anwesens Down House herumwerkelt; vielleicht noch ein oder zwei Bücher schreibt, obwohl sein Hauptwerk längst vollendet ist.

Nichts könnte falscher sein. Darwin blieb äußerst empfänglich für Kritik wie für Belege, die seine Theorie der natürlichen Selektion untermauerten. Das veranlasste ihn, nicht weniger als fünf Ausgaben der Entstehung herauszubringen. Gewiss hätte er sich nach 1859 in seinen Garten und zu seinen Gewächshäusern zurückziehen können (rund um Down House gab es weitläufige Ländereien und fünf Gewächshäuser), doch für ihn wurden sie zu einem kriegerischen Arsenal, das ihm dazu diente, die Kritiker draußen mit immer neuen Beweisen zu beschießen – Beschreibungen ungewöhnlicher Strukturen und Verhaltensweisen von Pflanzen, die sich nur schwer auf einen einzelnen Schöpfungsakt oder auf Design zurückführen ließen – eine Fülle von Belegen für Evolution und natürliche Selektion, die weit überwältigender war als alles, was er in der Entstehung vorgelegt hatte.

Seltsamerweise schenken selbst Darwin-Forscher seinem botanischen Werk relativ wenig Aufmerksamkeit, obwohl es sechs Bücher und gut siebzig Artikel umfasst. So schrieb Duane Isely 1994 in seinem Buch One Hundred and One Botanists, dass zwar

mehr Bücher über Darwin geschrieben wurden als über irgendeinen anderen Biologen, der jemals gelebt hat … Aber er wird nur selten als Botaniker dargestellt … Die Tatsache, dass er einige Bücher über seine Pflanzenforschung geschrieben hat, findet zwar recht oft beiläufige Erwähnung in der Darwin-Literatur, aber doch meist so mit dem Unterton: «Selbst ein großer Mann muss hin und wieder spielen.»

Darwin hatte immer eine besondere Vorliebe und große Bewunderung für Blumen. («Ich hatte immer Freude daran, die Pflanzen in der Rangordnung organisierter Wesen höher zu stufen»). Er wuchs in einer botanischen Familie auf – sein Großvater Erasmus Darwin hatte The Botanic Garden, ein umfangreiches zweibändiges Werk, verfasst, und Darwin selbst wuchs in einem Haus auf, dessen weitläufige Gärten nicht nur mit Blumen gefüllt waren, sondern auch mit verschiedenen Spielarten von Apfelbäumen, die für erhöhte Widerstandskraft gezüchtet worden waren. Die einzigen Vorlesungen, die Darwin als Student in Cambridge regelmäßig besuchte, waren die des Botanikers J.S. Henslow, und es war Henslow, der die außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Studenten erkannte und ihn für eine Stellung auf der Beagle empfahl.

Diesem Henslow schrieb Darwin sehr eingehende Briefe voller Beobachtungen über die Fauna, Flora und Geologie der Orte, die er besuchte. (Als die Briefe gedruckt und in Umlauf gebracht wurden, machten sie ihren Verfasser in wissenschaftlichen Kreisen berühmt, noch bevor er mit der Beagle nach England zurückgekehrt war.) Für Henslow stellte Darwin auf den Galápagos eine sorgfältige Sammlung aller blühenden Pflanzen zusammen und merkte an, dass verschiedene Inseln des Archipels häufig verschiedene Arten derselben Gattung aufwiesen. Das wurde für ihn ein entscheidender Beweis, als er über die Rolle geographischer Divergenz für den Ursprung neuer Arten nachdachte.

2008 wies David Kohn in einem brillanten Essay darauf hin, dass die weit über zweihundert Pflanzenexemplare, die Darwin auf den Galápagos sammelte, «die einflussreichste naturhistorische Einzelsammlung lebender Organismen der gesamten Wissenschaftsgeschichte ist … Sie sollte sich auch als Darwins bestdokumentiertes Beispiel für die Evolution der Arten auf den Inseln erweisen.»

(Dagegen waren die Vögel, die Darwin sammelte, nicht immer korrekt bestimmt oder der richtigen Herkunftsinsel zugeordnet. Erst als Darwin nach England zurückgekehrt war, wurden diese Exemplare – ergänzt durch die Proben, die seine Schiffskameraden gesammelt hatten – von dem Ornithologen John Gould geordnet und systematisiert.)

Darwin freundete sich mit zwei Botanikern an, Joseph Dalton Hooker in Kew Gardens und Asa Gray in Harvard. Hooker war in den 1840er Jahren sein Vertrauter geworden – der einzige Mensch, dem er die ersten Entwürfe seines Werks über die Evolution zeigte –, während Asa Gray erst in den 1850er Jahren zum inneren Kreis hinzukam. Beiden konnte Darwin mit steigendem Enthusiasmus von «unserer Theorie» berichten.

Zwar bezeichnete sich Darwin gern als Geologe (er schrieb drei geologische Bücher, in denen er die während der Beagle-Reise gesammelten Beobachtungen verarbeitete, und entwickelte eine verblüffend originäre Theorie über die Entstehung von Korallenatollen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts experimentell bestätigt wurde), doch betonte er stets, er sei kein Botaniker. Ein Grund dafür war der Umstand, dass die Botanik (obwohl sie Anfang des 18. Jahrhunderts einen vielversprechenden Anfang mit Stephen Hales’ Vegetable Staticks hatte, einem Buch voll faszinierender Experimente über Pflanzenphysiologie) eine fast gänzlich deskriptive und taxonomische Disziplin blieb: Pflanzen wurden bestimmt, klassifiziert und mit Namen versehen, aber nicht erforscht. Darwin war vor allem ein Forscher, der sich für das «Wie» und «Warum» der Morphologie und des Verhaltens von Pflanzen interessierte, nicht für das «Was».

Für Darwin war die Botanik nicht nur eine Nebenbeschäftigung oder Liebhaberei wie für so viele Menschen in viktorianischer Zeit; das Studium der Pflanzen war für ihn immer auf einen theoretischen Zweck ausgerichtet, und dieser Zweck betraf Evolution und natürliche Selektion. Es war, so schrieb sein Sohn Francis, «als sei er mit theoretischer Energie aufgeladen, die immer auf dem Sprung war, sich beim geringsten Anlass in jeden sich bietenden Kanal zu entladen, sodass kein Faktum, und mochte es noch so klein sein, davor sicher war, einen Strom von Theorie freizusetzen».

Im 18. Jahrhundert hatte der schwedische Naturforscher Carl von Linné nachgewiesen, dass Blumen Geschlechtsorgane haben (Stempel und Staubblätter), und seine Klassifikation an ihnen ausgerichtet. Aber man nahm fast allgemein an, dass sich Blütenpflanzen durch Selbstbefruchtung fortpflanzen – warum sonst enthielt jede Blüte sowohl männliche wie weibliche Organe? Linné trieb so manchen Spaß mit der Idee; so stellte er eine Blüte mit neun Staubgefäßen und einem Stempel als Schlafgemach dar, in dem ein junges Mädchen von neun Liebhabern umgeben war. Einen ähnlichen Einfall hatte Darwins Großvater im zweiten Band von The Botanic Garden, der den Titel The Loves of the Plants trägt. In solcher Atmosphäre wuchs der kleine Darwin auf.

Doch binnen ein oder zwei Jahren nach seiner Rückkehr von der Beagle sah Darwin sich aus theoretischen Gründen genötigt, das Konzept der Selbstbefruchtung in Frage zu stellen. 1837 schrieb er in sein Notizbuch: «Unterliegen Pflanzen, die sowohl männliche als auch weibliche Organe haben, nicht dennoch den Einflüssen anderer Pflanzen?» Wenn sich Pflanzen tatsächlich evolutionär entwickelt haben sollten, so überlegte er, sei die Fremdbefruchtung unbedingt erforderlich – ansonsten könnte es niemals irgendwelche Veränderungen geben, und die Welt müsste sich mit einer einzigen, sich selbst reproduzierenden Pflanze zufriedengeben, statt über die außerordentliche Fülle von unterschiedlichen Arten zu verfügen, von denen wir umgeben sind. Anfang der 1840er Jahre begann Darwin, seine Theorie zu überprüfen, indem er eine Vielzahl von Blüten sezierte (unter anderem Rhododendren und Azaleen). Dabei wies er nach, dass viele Blüten über morphologische Mechanismen zur Verhinderung oder Minimierung der Selbstbestäubung verfügten.

Doch erst nach der Veröffentlichung von der Entstehung der Arten im Jahr 1859 konnte sich Darwin ganz den Pflanzen widmen. Während er in seinen frühen Werken in erster Linie Beobachter und Sammler war, gewann er seine neuen Erkenntnisse jetzt durch Experimente.

Wie andere Naturforscher hatte er beobachtet, dass Primelblüten in zwei verschiedenen Formen vorkommen: eine «Nadel»-Form mit langem Griffel – der weibliche Teil der Blüte – und eine «Knäuel»-Form mit kurzem Griffel. Man meinte, diese Unterschiede hätten keine besondere Bedeutung. Doch Darwin war anderer Meinung, und als er Primelsträuße untersuchte, die ihm seine...

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