Prolog – Es fickt sich schlecht mit eingezogenem Bauch
Er ist größer als ich. Das sind sie meistens, die Männer, mit denen ich aktuell etwas habe. «Etwas haben.» Ein toller Ausdruck; klingt auch irgendwie netter als «eine dieser Fickbeziehungen». Anständiger. Gehaltvoller.
Er ist Ende 30. Glaube ich zumindest. Ich habe nicht so ganz genau zugehört – musste ich auch nicht, denn es ist eine dieser typischen Geschichten.
Ein Club, ein Abend, ein angekratztes Ego, ein paar Gin, und plötzlich war er da. Mr. «Hey, ganz alleine hier?»
Das, was an mir bei klarem Verstand ist, verdreht schon die Augen, als er nur zum Sprechen ansetzt. Aber was soll’s.
«Hey! Ja, in der Tat bin ich allein hier, du auch, wie ich sehe!»
Wenn das mal nicht schlagfertig war, Nicole. Wahnsinn.
Ich hasse Smalltalk. Vermutlich, weil ich es einfach nicht kann. Aber diese Gespräche sind immer so vorhersehbar! Ein Austausch von Belanglosigkeiten, die einem bestimmten Schema folgen.
Also halte ich mich an meinem Glas fest und lehne mich an den Tresen der viel zu überfüllten und viel zu lauten Bar. Ich könnte mich auch setzen, aber ich sitze grundsätzlich nicht auf Barhockern. Mein Hintern ist dafür viel zu breit, und ich mache mir Gedanken darüber, wie das wohl von hinten aussieht. Bei meinem Gewicht.
Ich mache mir immer Gedanken darüber, wie ich wohl gerade aussehe.
Immer.
Jetzt stellt er sich gleich vor, denke ich. Sagt mir seinen Namen, den ich, noch während er ihn ausspricht, sofort wieder vergessen werde. Das ist eines meiner nutzlosesten Talente: Ich kann alles, was mich langweilt, vergessen, noch während ich es höre. Und ich bin schnell gelangweilt.
Er heißt «Irgendein Männername». Er wird ihn im Laufe des Abends noch zwei- bis dreimal wiederholen, bis es mir zu peinlich wird, nachzufragen.
Zwei Finger zum Gruß an den Barmann. Er schenkt Gin nach. Mit Schweppes anstatt irgendeines anständigen Tonicwater. Belangloses Tonic zu belanglosem Typen. Passt.
Gleich erzählt er mir, dass er neu ist in Hamburg oder schon ewig nicht mehr in diesem Club war. Ich werde nicken und lächeln. Das kann ich gut. Interessiert wirken und dabei freundlich gucken. Nicht, dass mein Lächeln meine Augen erreichen würde, aber das sieht man bei diesem schummrigen Licht ohnehin nicht. Ich mag schummriges Licht, das lässt mich irgendwie weichgezeichneter wirken und schmaler. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Nicht schmal genug für einen Barhocker, aber doch etwas weniger von allem.
Er arbeitet irgendwo. Es interessiert mich nicht, und als er fragt, was ich so mache, lüge ich. Irgendwas, das keine lange Erklärung braucht. Keine Nachfrage.
Er brüllt mich an. Warum er gerade hier ist und was seine Freunde so machen. Er kann nicht anders, es ist zu laut für eine Unterhaltung in normaler Lautstärke, was ihm zupasskommt, so kann er näher rücken. Also rückt er. Er trinkt Guinness. Ich mag kein Bier, aber Guinness ist schon okay. Wenigstens kein Becks.
Er studierte Informatik. Aha, sage ich. Guinness riecht im Atem übrigens auch nicht viel besser als Becks, denke ich, während er Anstalten macht, mit mir irgendwohin zu gehen, wo es ruhiger ist. Nach draußen. Eine wahnsinnig gute Idee, möchte man meinen. Allerdings meint man das auch nur, wenn man den Kiez nicht kennt. Die Reeperbahn. Oder den Hamburger Berg, der auch mitten auf dem Kiez liegt. Dieser Club hier liegt inmitten anderer Clubs; einer heißt origineller als der andere. Hip. Ein bisschen fancy. All das, was ich noch nie war und hoffentlich auch nie werde. Fancy. Ein Wort wie «Boy» oder «Body».
Der Body von dem Boy auf der anderen Straßenseite ist voll nice. Ich möchte in meinen Gin kotzen, wenn ich so etwas höre, und muss doch grinsen, als ich es denke. Der Boy neben mir ist auch nice, das muss ich ihm lassen, und so wie er guckt, werde ich schon bald herausfinden, wie sein Body aussieht. Er ist schlank, ganz im Gegensatz zu mir. Und er gibt sich Mühe. Das tut er wirklich, und bestimmt ist er auch ganz nett und sogar sehr charmant.
Die Nacht ist lau, die Straße voll und dreckig, und ich mag das irgendwie. An uns zieht eine Horde Kerle vorbei, ich glaube, es ist der 23. Junggesellenabschied, den ich heute Abend zähle. Ein Typ in einem Plüsch-Peniskostüm, der Kondome gegen Geld und «Kurze» gegen «Küsschen» tauscht. So zumindest steht es auf dem Schild, das um seinen Hals hängt.
Ich will das blöd finden. Ich will heute Abend alles blöd finden, aber es amüsiert mich irgendwie. Schlechter Humor und ich – uns verbindet eine lange Beziehung.
Ich erkaufe mir einen Kurzen, mein Begleiter ein Kondom. Subtil wie ein Vorschlaghammer, der Gute. Wenn er mir jetzt noch zuzwinkert, muss ich wieder reingehen und durchs Klofenster verschwinden. Er zwinkert nicht. Dafür holt er mir «noch einmal das da?» und zeigt auf meinen halbvollen Plastikbecher. Ich trinke nicht gern aus Plastikbechern, aber auf dem Kiez herrscht seit einiger Zeit Flaschenverbot, und so füllt man jedes Getränk um, wenn man einen Laden verlässt.
Er fragt kurz, ob er mich eben allein lassen kann. Ich nicke und lächle und sage irgendwas wie «Aber nur, wenn du auch gleich zurückkommst!», woraufhin er mit einem Strahlen in die Menschenmenge im Club eintaucht.
Die Anmerkung war nur halb scherzhaft gemeint, denn tatsächlich frage ich mich, ob er zurückkommen wird. Gar nicht mal, weil er so nett oder vielleicht sogar ein klein wenig sexy ist, das ist er ohne Zweifel, sondern vielmehr, weil es da etwas in mir gibt, das im Gegensatz zu meinem Auftreten gar nicht so selbstbewusst, tough und divenhaft ist. Und dieser Teil von mir fragt sich, warum er mich angräbt und nicht eine der anderen Frauen hier. Eine jüngere, schönere oder vor allem – natürlich – schlankere.
Ich drehe mich zur Seite und betrachte verstohlen mein Spiegelbild in der dunklen Scheibe des Clubs. Eine Hand auf den Bauch. Haltung korrigieren. Ich bilde mir ein, ein wenig schlanker auszusehen als noch heute Morgen vor dem Spiegel zu Hause, und natürlich ist mir klar, dass das Unfug ist.
Ich sehe gut aus. Das finde ich zumindest. Tatsächlich finde ich mich hübsch und an den meisten Tagen sogar attraktiv. Trotz meiner breiten Hüften. Manchmal sogar gerade wegen dieser. Ich bin eine dicke Frau. Unbestritten. Und das ist meistens okay. Heute Abend aber irgendwie nicht. Heute Abend ist nichts okay. Außerdem habe ich dicke Beine, und dieses Kleid, es trägt bestimmt auf, und Hunger habe ich auch, und Bad Hair Day, und der Typ, er steckt vermutlich im Klofenster fest, während ich mich hier zum Affen mache.
Es dauert keine fünf Minuten, dann ist er zurück, mit zwei Bechern und einem Grinsen, das breit und hell ist und «Du bist ja noch da» zu sagen scheint. Natürlich bin ich noch da. Ich warte auf den Alkohol, mit dem ich versuche, diese Mischung aus angeknackstem Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitskomplex zu ertränken, die mich heute Abend überhaupt erst hat losziehen lassen. Bisher mit mäßigem Erfolg, Gefühle sind ziemlich gute Schwimmer.
Es war eigentlich gar keine große Sache, das mit dem anderen und mir. Und am Ende war ich es, die ging, aber es fühlt sich trotzdem nicht gut an. Irgendwie war ich wohl doch verknallter, als ich es habe sein wollen.
Ich bin verletzt. Weniger von der Trennung selbst, als von dem Grund dafür.
Wir standen in seiner Wohnung, ich mit einem Glas Wein in der Hand, er mit Rum Cola. Ich sollte das mit dem Wein lassen, davon bekomme ich Wadenkrämpfe, aber es steht mir, und ich wollte hübsch, anziehend und sexy sein. Für ihn. Klar.
Wir gingen schon eine Weile miteinander. Klassisches Miteinander-Ausgehen, tatsächlich. Restaurants, Clubs, Kinos, Küsse, Händchenhalten. Ein bisschen mehr.
Kein Sex.
Nun denk bitte nicht, dass ich immer so anständig bin. Irgendwo zwischen Bienchen, Blümchen und meinem 30. Lebensjahr ging mir mein Sinn für Anstand und Moral in Sachen Sex verloren, und so warte ich selten eine Ewigkeit auf Sex, nur weil es schicklich wäre, das zu tun.
Nein, es ging von ihm aus, und da ich nur selten aufdringlich sein möchte, ließ ich ihm Zeit. Keine Ahnung, an wie vielen Abenden ich irgendwo stand und mir vorkam wie in einem verschissenen Highschool-Musical – gemeinsam zum Abschlussball, aber bloß nie weiter, denn unsere Eltern lungern zu Hause herum! Nur dass ich noch nie auf einer Highschool war und schon vor über 15 Jahren daheim ausgezogen bin.
An diesem Abend war es anders. Wir knutschten rum. Eines kam zum anderen, wir landeten im Bett, und er landete in meinem Mund. Das ist okay, ich stehe auf Oralsex, und ich stand auf ihn, also fand ich das ziemlich sexy. Er auch.
Mehr aber auch nicht.
«Weißt du …», begann er, als ich ein wenig näher rückte, «… es ist nicht so, dass ich dich nicht mögen würde …»
Autsch. Kennst du diesen Moment, wenn du dir am liebsten deine Finger durch die Ohren direkt ins Hirn bohren möchtest, weil du genau weißt, dass du auf keinen Fall hören willst, was jetzt kommt?
Ich heiße dich herzlich willkommen in meinem beschämendsten Herzschmerzmoment aller Zeiten.
«… Ich möchte nicht mit dir schlafen. Ich habe da lange drüber nachgedacht und auch überlegt, ob ich mich da irgendwie doch fügen kann. Wir verstehen uns toll, du bist smart, hübsch und meine Traumfrau, und ich bin auch total traurig, dass das so ist, wie es ist, aber …»
Ich setzte mich aufrecht hin, legte die Beine über die Bettkante, schloss kurz die Augen, bevor ich...