Lingerie und Kakerlaken (1988 - 1989)
Es war ein Abenteuer, in das ich frohen Mutes startete. Ich hatte damals noch nichts von der Welt gesehen. Mein einziger Auslandsaufenthalt war ein Jahr in Paris. Aber Frankreich würde ich eher nicht als exotisch und abenteuerlich bezeichnen. Nun jedoch trug mich eine Lufthansa-Maschine direkt in das pulsierende Herz des Feindes. 1988 war die Sowjetunion zwar im Niedergang begriffen, aber für uns Kinder des kalten Krieges immer noch das Zentrum des Bösen. Dieses Reich war verschlagen und gefährlich. KGB-Spione in jedem Hauseingang, unter jedem Torbogen. Jedes lächelnde Mädchen eine Agentin. Diese Zustände glaubte ich zu erwarten, als ich in Moskau eintraf. Wie konnte ich auch ahnen, dass die Realität noch extremer war? Bewohner der Stadt aus nicht-kommunistischen Ländern wurden in Ghettos aus hohen Plattenbauten untergebracht. So wurde die Überwachung vereinfacht und ein Kontakt zur Bevölkerung erschwert. Vor jedem Hauseingang waren Polizisten postiert, Tag und Nacht. Offiziell waren sie dort zu unserem Schutz. Aber wir alle wussten, dass jedes Verlassen des Hauses aufgezeichnet wurde. Dann setzte die weitere Überwachung ein. Wir konnten sicher sein, bei jedem Schritt unsichtbar beobachtet zu werden. Das war keine Einbildung auf Grund der Geschichten, die man uns erzählte. Von Zeit zu Zeit machte zum Beispiel der Polizist vor unserem Haus mit einem Augenzwinkern eine kurze Bemerkung. Etwa zu einem Kollegen über die Anzahl der Wodkas, die dieser am Vorabend in einer zwielichtigen Bar konsumiert hatte. Wir waren dann ziemlich perplex und überlegten, woher er das wissen konnte. Jedes kleine Vergehen gegen die zahlreichen Regeln und Verbote wurde irgendwo registriert. Brachte Jemand eine Russin mit nach Hause, tauschte man Schwarzgeld oder kaufte man antike Samoware oder Ikonen, schwebte man in Gefahr. Bekam die deutsche Seite Wind davon, wurde man mit dem nächsten Flug nach Hause geschickt. Denn etwas Verbotenes tun bedeutete, erpressbar zu sein. Die Russen hingegen wussten, dass wir bei einer Ablösung viel Geld und die Chance auf weitere Auslandseinsätze verspielen würden und erbaten sich Gefälligkeiten, wenn sie von einer Meldung der Verfehlung absahen. Sagte man bei einer solchen unbedeutenden Informationsbeschaffung erst einmal zu, steckte man ganz tief im Schlamassel. Denn dann gingen die Erpressungen erst richtig los. Der Kraken-Arm des Geheimdienstes schlang sich um den Hals und drückte zu. Man wurde in immer zwielichtigere Aktionen gedrängt. Und ehe man sich darüber bewusst wurde, war man in Fälle verwickelt, die das deutsche Strafgesetz als Landesverrat mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe ahndet.
Man belehrte uns, auch in den eigenen vier Wänden nicht über dienstliches Geschehen zu reden und überhaupt auf jedes Wort zu achten. Es war eine Tatsache, dass die uns zugewiesenen Dienstwohnungen in allen Räumen mit Abhörgeräten gespickt waren. Selbst auf der Straße sollten wir auf unsere Worte achten, da wir mit Richtmikrofonen aus der Ferne belauscht werden konnten. Dass natürlich alle Telefonate aufgezeichnet wurden, braucht hier kaum noch der Erwähnung. Selbst im Botschaftsgebäude war das gesprochene Wort nicht sicher. Für vertrauliche Gespräche, die die russische Seite auf keinen Fall mitbekommen sollte, existierte eine abhörsichere Kabine, die hermetisch verschlossen wurde. Aus diesem Raum, mit einem Tisch und einigen Stühlen, drang kein Geräusch nach außen. Auch Richtmikrofone versagten hier. Man kann nun, glaube ich, nachvollziehen, dass wir nach einiger Zeit eine regelrechte Paranoia aufbauten. Ironischer Weise war es meine Aufgabe, dieser Paranoia entgegenzuwirken.
Zu der Zeit wurde ein neues Botschaftsgebäude errichtet. Die Arbeiten wurden natürlich von russischen Handwerkern ausgeführt und wir fragten uns erst gar nicht, wie viele KGB-Angehörige unter den Arbeitern eingeschleust wurden. Ich war damals noch nicht beim Auswärtigen Amt tätig, sondern gehörte zum Bundesgrenzschutz, der heutigen Bundespolizei.
Wir landeten in Dunkelheit und Kälte. Gerade so, wie es meine naive Vorstellung vorausgesehen hatte. Zusammen mit meinen beiden mitreisenden Kollegen bahnte ich mir den Weg durch die Einreisekontrollen, bis wir schließlich unseren Abholer fanden. Die Fahrt durch die Stadt drückte meine Stimmung etwas. Alles sah irgendwie fremd und abweisend aus. Ich überlegte, was das Stadtbild in Köln, Hamburg oder München anders erscheinen ließ und plötzlich fiel es mir ein: Es gab keine Reklamen. Die bunten Poster, die uns mit lachenden Gesichtern um unser Geld betrügen sollen, fehlten. Es gab keine fluoreszierenden Buchstaben aus Neon-Röhren, die den Schnee in kräftigen Farben schillern ließen. An Bushaltestellen fehlten die leuchtenden Kästen. Ich konnte es kaum glauben, aber ich vermisste die westliche Werbung.
Ich wurde mit mehreren Kollegen in einer Wohnung untergebracht. Jeder hatte sein Zimmer. Es gab einen Aufenthaltsraum und eine Gemeinschafts-Küche. Die Wohnungsausstattung war karg, aber erträglich. Unerträglich fand ich die Kakerlaken. Sie waren überall. Das Hauptquartier befand sich in der Küche, von wo aus sie auf Erkundung in alle Zimmer liefen. Ich kaufte das teuflischste Gift, das ich für Rubel erstehen konnte und legte mehrere Sperrgürtel des weißen Todes in den Flur vor meine Zimmertür. Es diente eher meiner persönlichen Beruhigung, denn Kakerlaken sind nicht so sehr an die Horizontale gebunden wie wir. Sie konnten auch über die Decke in meinen Raum eindringen.
Wir überwachten die Bauarbeiter in Schichten. Einer der daheim Gebliebenen kochte das Essen für die zurückkehrende Schicht. Ich erinnere mich noch gut an die Vorfreude auf eine Gans, die wir einmal auf einem Markt fanden. Ein solcher Festschmaus war selten. Meist gab es, wie im folgenden Kapitel über Usbekistan noch ausführlicher erläutert, Schaschlik. Unser bester Koch, Birger, blieb daheim. Ein Kollege schob eine Doppelschicht für ihn, damit er sich voll auf die Gans konzentrieren konnte. Als wir von der Arbeit kamen, roch die ganze Wohnung nach köstlichem Braten. Wir brachten schnell noch eine Schüssel Kartoffeln auf den Tisch, dann trug Birger das goldgelbe Geflügel auf einer Platte herein. Wir schauten mit großen Augen wie Kinder auf die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Die Platte wurde wie ein Ornament in die Mitte des Tisches gestellt und von allen bewundert. Birger nahm ein Messer und eine Gabel, um das köstliche Fleisch anzuschneiden. Es knirschte knusprig als das Messer die Haut anritzte. Da lief aus dem Braten eine Kakerlake hervor, rannte zum Tischrand und verschwand. Die andächtige Stille wurde nicht unterbrochen. Wortlos legte Birger das Besteck wieder zur Seite, nahm die Platte auf und kippte den Braten in den Abfalleimer. Der kurze Moment, als die Gans aus dem Ofen geholt und in der Küche abgestellt wurde, hatte der Schabe gereicht, um in das Schlaraffenland einzudringen und uns ein weiteres Abendmahl mit Brot und knorpeldurchsetzter Wurst zu bescheren. Jeder von uns musste noch einige Male an dem Abfalleimer vorbei laufen und warf verstohlen einen wehmütigen Blick auf die Überreste der Gans, die uns mit ihrem köstlichen Duft lockte wie der Ruf der Sirenen den Odysseus. Bevor es jedoch soweit kam, dass wir mit schwarzer Krawatte und Blumen in der Hand unseren Abschied an dem Eimer zelebrierten, erbarmte sich einer von uns und trug den Abfall hinaus.
In der Nacht gehörte die Küche den Schaben. Wenn man die Tür öffnete und das Licht anschaltete, bewegte sich der ganze Raum. In alle Richtungen rannte dieses lichtscheue Getier. Sie schienen auch unzerstörbar zu sein. Manchmal musste man zwei- oder dreimal auf eine Schabe treten, bis endlich der Chitin-Panzer mit einem lauten Knacken zerbrach und sie sich nicht mehr bewegte. Mich schaudert noch der Gedanke an die Nacht, als ich mit einem Kollegen die Küche betrat und wieder einmal alles um uns herum wimmelte. Eine Kakerlake saß auf dem Rand einer der zwei Pfannen, die auf dem Herd standen. Ich wollte eigentlich den Raum schnell wieder verlassen, bevor ich den Schaben die Tür zu meinen Träumen öffnete. Doch als mein Kollege den Herd einschaltete, verfolgte ich das Experiment gebannt. Die Pfanne wurde warm und die Kakerlake setzte sich langsam in Bewegung, den Metallrand umrundend. Je mehr die Hitze stieg, desto schneller bewegte sich das Tier, immer im Kreis rennend. Wohin sollte sie auch? Das Fett in der Pfanne brutzelte schon und am Außenrand der Pfanne leckten die Gasflammen. Wir schauten ungläubig und erstaunt auf den Lauf in irrsinniger Geschwindigkeit, den das Insekt aufführte. Dann schossen unter dem Panzer zwei Flügel hervor und mit einem großen Satz sprang die Kakerlake vom heißen Rand der Pfanne, nur um in der zweiten Pfanne zischend zu verbrutzeln. Das Ganze war so eklig anzusehen, dass ich anstelle befürchteter Alpträume erst gar nicht einschlafen konnte. Bis zu diesem Tag war mir nicht einmal bewusst, dass Kakerlaken fliegen können. Vom ethischen Standpunkt war diese Aktion sicher zu verurteilen. Aber wir befanden uns in ständigem Krieg mit diesen kleinen Ungeheuern. Und im Krieg geschehen Scheußlichkeiten.
Hatte man im Mittelalter den Hexenhammer gegen Zauberinnen, so benutzte Birger den Schabenhammer. Der war aber kein Buch, sondern ein metallener, massiver Fleischklopfer. So manches Mal sauste er in der Küche auf eine vorwitzige Kakerlake herab und übertönte mit seinem Donner gnädig das Knacken des Insekten-Panzers. Mich packte oft der Ekel, wenn ich den Kühlschrank öffnen wollte. Aus der Spalte zwischen Tür und Gefrierfach ragten zwei- oder drei Fühlerpaare hervor und...