Gewährt aber der Aufenthalt im Hotel weder Ausblick noch Ausweg, so schafft er eine grundlose Distanz zum Alltag, die höchstens ästhetisch ausgenutzt werden mag (…). Der untätig Umhersitzenden bemächtigt sich ein interesseloses Wohlgefallen an der sich selbst erzeugenden Welt, deren Zweckmäßigkeit man empfindet, ohne die Vorstellung eines Zweckes mit ihr zu verbinden.
(Siegfried Kracauer) 1
Einer der beständigsten, weil dramaturgisch und inszenatorisch ergiebigsten Schauplätze in Spielfilmen ist von Beginn an die Welt des Hotels. Ein Universum, das aufgrund seiner räumlich wie sozial hoch verdichteten Abgeschlossenheit, Pluralität und Internationalität wie geschaffen scheint für das weltumspannende Medium Kino. Wollte man eine Liste aller bisherigen Filme mit dem Hauptschauplatz Hotel und seiner Abkömmlinge wie Motels und Boarding Houses erstellen, so käme man schnell auf mehrere hundert. Dazu gesellten sich noch einmal Filme, in denen Hotels eher Nebenschauplätze sind und trotzdem im Hintergrund eine tragende Rolle spielen.2
Unabhängig von ihrer Erscheinung (Grand Hotel, Pension, Landhotel) und Lokalität (Stadt, Land, Berge, Meer) ist die architektonische Struktur eines Hotels die Grundlage für eine beinahe standardisierte Basis-Choreografie des filmischen Hotelgeschehens mit den Elementen Fassade mit Leuchtreklame und Namenszug, Eingangsportal, Foyer, Rezeption, Bar, Salon, Speisesaal/Restaurant, Küche, Aufzug, Flure, Zimmer, Toiletten usw.
Die Hotelhalle, auch Lobby oder Lounge, mit dem Empfangstresen als Schnittpunkt aller Raumbeziehungen spielt in der Regel die »Hauptrolle« im Reigen menschlicher Hotel-Aktivitäten, wobei sich die räumlichen Schwerpunkte mit den Polen Zimmer und Halle auch verschieben können, je nachdem, aus welcher Perspektive ein Film erzählt wird. Wie Siegfried Kracauer anlässlich einer Kritik zum deutschen Stummfilm GRAND HOTEL …! (1927, Johannes Guter) treffend formuliert hat, gibt ein großes Hotel »durch sein stets wechselndes Publikum Gelegenheit zu allen möglichen Improvisationen (…), die dem Film gemäß sind«.3 Und das mit Dimensionen, wie es etwa ein Zwischentitel aus der Feder des Drehbuchautors Béla Balázs quasi existenzialphilosophisch dem Zuschauer mit auf den Weg gibt, als ein Konzentrat menschlichen Verhaltens mit der barocken Figur des sich immerfort drehenden Lebensrads:
[11|12]»Ein Hotel – Wieviel Lebenswege kreuzen sich hier! Wieviel Schicksale durchqueren sich hier. Wieviel Geheimnisse wohnen hier Tür an Tür. Lachen und Weinen, Ernst und Narrheit verschmelzen zu einem Chor. Und kurze Begegnung fremder Menschen wirbelt Schicksale durcheinander im tollen Maskenball des Lebens.«
Es war der »Hotel-Experte« Kracauer, der schon früh auf den besonderen Lebens- und Realitätsbezug sowie die soziologisch-philosophischen Dimensionen der wirklichen Hotels wie der Hotelfilme bzw. -romane hingewiesen hat – etwa in dem Essay »Hotelhalle« aus dem »philosophischen Traktat« »Der Detektiv-Roman« (1922–25) – und u.a. die naheliegende Frage stellte nach dem Verhältnis der künstlichen Studiowelt in den Filmen zum realen Geschehen in den großen Hotels. Jenen »Stätten, an denen die oberen Tausend mit den Vertretern der unteren Millionen notgedrungen zusammenstoßen«,4 so der Kritiker in einer Rezension des 1930 erschienenen »Reportage-Romans« »Hotel Amerika« (Berlin: Neuer Deutscher Verlag 1930) von Maria Leitner. Der Detektiv- und Kriminalroman war für den Hotelfilm anfänglich die wichtigste literarische Quelle, weil sich just an diesem Ort Diebstähle, Betrügereien, Erpressungen und Morde besonders häuften.
Aus heutiger Sicht stellt sich erneut die Frage, warum das Hotel überhaupt zu einem derart beliebten Schauplatz insbesondere im deutschen und amerikanischen Film der 1920er und 1930er Jahre avancieren konnte. Der Architekturhistoriker Donald Albrecht hat darauf in seinem Buch »Designing Dreams. Modern Architecture in the Movies« eine plausible Antwort gegeben. Es sei der scheinbar gegensätzlichen Geschlossenheit und Vielfalt des Orts geschuldet und seiner Modellhaftigkeit für sozialen Aufstieg; ein großstädtischer Ort, an den sich Aufstiegsfantasien hefteten und wo Träume wahr wurden: »Hotels waren Orte, wo die verschiedenen Klassen miteinander in Berührung kamen, und Filme machten daraus Geschichten. Natürlich kann man aufsteigen – schien die Botschaft zu lauten. Es bedurfte nur einiger Ambitionen und einer Portion Cleverness und Wachheit, um aus den Gelegenheiten, die solche Orte boten, Vorteile zu ziehen. (…) In diesen Filmhotels, die oft die Namen der führenden Häuser in den Metropolen trugen, war ein breites gesellschaftliches Spektrum versammelt. Eine einfache Idee; nämlich: Personen mit unterschiedlichem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund begegnen einander zufällig im Foyer, wurde zum Grundrezept unzähliger Filme aus dieser Zeit.«5
Hotel-Architekturen
Die Frage nach dem Realitätsbezug der Hotelfilme schließt natürlich die Skizzierung der architektonischen Entwicklung des Hotelbaus selbst mit ein. Der aus dem Lateinischen (hospitale) bzw. insbesondere aus dem Französischen (hôtel) abgeleitete Begriff des Hotels kennzeichnete immer schon eine Mischung [12|13]aus Herberge und Gasthaus für Gäste, Pilger und Reisende, wobei im Zuge der Annäherung von bürgerlicher und adeliger Lebenswelt ab dem Ende des 18. Jahrhunderts die Beherbergungsbetriebe immer höheren Ansprüchen genügen mussten. Der Luxus von Adelspalästen und königlichen Schlössern wurde so nach und nach auch auf die Bauaufgabe Hotel übertragen, wobei hier zusätzliche Anforderungen wie hohe räumliche Funktionalität und technische Modernität zum Tragen kamen. Ein Wandel übrigens, der sich im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bei den Kauf- und Warenhäusern in ähnlicher Weise vollzog.6
Etwa von 1870 bis 1920 und mit einem regelrechten Boom zwischen 1900 und 1914 entwickelte sich innerhalb des Hotelbaus ein spezieller Gebäudetypus, das Palast- oder Grand Hotel, das dem Repräsentationsbedürfnis einer exklusiven und vermögenden Klientel Rechnung trug, »die sich ausschließlich an aristokratischen Lebensformen orientierte. Das Hotel – Exponent dieses Anspruchs – präsentierte sich als Palast, als glänzende Kulisse zur gesellschaftlichen Selbstdarstellung.«7 Es ist insbesondere dieser Typus des Grand Hotels als Inbegriff des »Bürgertraums vom Adelsschloss«,8 der in den Hotelfilmen als Referenzobjekt immer wieder auftaucht und aufgrund der zeitlichen Parallelität die innere Affinität von Kino und Hotel vor Augen führt. Beide sind ganz besondere Orte für künstliche Träume, die sich bisweilen auch als Albträume herausstellen können.
Ein weiterer Beleg für diese Nähe ist die Tatsache, dass in vielen Palast-Hotels bereits vor dem Ersten Weltkrieg Kinovorführungen fester Bestandteil waren. Man kann sogar vermuten, dass die Attraktivität des gerade entstehenden, eher proletarischen Kinos auch für bürgerliche Schichten in dem Moment begann, als der Bau von luxuriösen Palast-Hotels seinen Höhepunkt überschritten hatte und man gewissermaßen auf der Suche war nach einer neuen, wenn auch nur virtuellen Heimat. Und so überlebte paradoxerweise die untergehende aristokratisch-großbürgerliche Welt nach dem Ersten Weltkrieg gleichsam im Film der 1920er Jahre und darüber hinaus; und das nicht nur in den expliziten Hotelfilmen. Die Entstehung großer Lichtspieltheater und Kinopaläste kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg muss daher gleichfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden, so als hätten die Kinobauten die Fackel der damaligen architektonischen Avantgarde zwischen Historismus, Jugendstil und Moderne von den Grand Hotels und Warenhäusern übernommen.
Interessanterweise hat sich bis heute eine gewisse Zweiteilung der Hotelfilme entlang der Linien des fiktionalen und dokumentarischen Films gehalten. Während die Spielfilme immer wieder neu die in der Regel nostalgisch-vorgestellte, oft längst untergegangene luxuriöse Welt von Grand Hotels entfalten, zeigen die Dokumentarfilme über die großen Hotels der Welt ein Leben, wie es auch sein kann: nüchtern-alltäglich, geschäftsmäßig-unspektakulär, abstoßend-überfüllt, oder auch bloß abgehoben-teuer, luxuriös und abgeschottet für die Schönen und Reichen dieser Welt.9
[13|14]Während in den frühen Hotelfilmen von 1919 bis 1945 das Hotel als gesellschaftlicher Mikrokosmos unterschiedlichster Begegnungen in Szene gesetzt wird, inklusive diverser Aufstiegsfantasien der Gäste wie des Personals, entwickelt sich der soziale Schauplatz Hotel nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker auch zu einem Ort historischer Vergewisserung, individueller Erinnerung, der psychisch-existenziellen Konfrontation, sexueller Leidenschaften, der Angst und des Horrors. Signifikant für diese Veränderung ist das Zurücktreten der Hotelhalle als Schnittstelle halböffentlicher Begegnungen zugunsten einzelner Hotelzimmer mit ihren intim-privaten Rückzugsmöglichkeiten.
Der kleine Traum vom großen Glück
Trotz einiger vorhergehender Filme wie beispielsweise DAS GRAND HOTEL BABYLON (1919, E. A. Dupont), HOTEL ATLANTIC (1920, Siegfried Dessauer) oder DER DÄMON DES »GRAND HOTEL MAJESTIC«...