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Flaubert

Durchkreuzte Moderne

AutorBarbara Vinken
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783104002644
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eine neue Deutung von Flaubert als Wegbereiter der Moderne Flaubert gilt als »Vater« und Erneuerer der modernen Literatur. Wie man das allerdings neu verstehen muss, zeigt Barbara Vinken in ihrer brillanten Studie. Als Bezugspunkt dienen ihr zum einen Flauberts Triebschicksal, das ihn zu jemandem werden lässt, der schreibt anstatt zu lieben, zum anderen die Bibel, deren »frohe Botschaft« er im Namen des Kreuzes durchkreuzt. Damit bilden Psychoanalyse und Bibelverständnis den Rahmen, in dem Flauberts Weg in die Moderne eine aufregende und frische Deutung erfährt.

Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Universität München. 1989 in Konstanz und 1991 in Yale promoviert, habilitierte sie sich 1996 in Jena und folgte im Wechsel mit Gastprofessuren an der New York University, der EHESS Paris und der Humboldt-Universität in Berlin Rufen auf die romanistischen Lehrstühle in Hamburg und Zürich.

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Flaubert, Begründer einer anderen Moderne? Die Zentralität Flauberts für die Moderne war Sartre ein Dorn im Auge. Seine Vorstellung von Moderne hatte mit dem, was er bei Flaubert las, nichts zu tun. Was Flaubert – sein Leben, sein Werk – am schmerzlichsten vermissen ließ, war das, was Sartre als Transzendenz bezeichnet: ein ständiges Selbstüberschreiten auf einen Selbstentwurf hin, den er dem modernen Menschen aufgegeben fand und für ihn als Erfüllung der Moderne entwarf. Flaubert hingegen war passiv, ganz und gar ohne aktiven Antrieb. Als pathetischer Charakter litt er und drückte das Erlittene nicht einmal aus. Sartre verbrachte zehn Jahre damit, Flaubert als typischen Irrweg, als eine neurotische Fehlentwicklung der Moderne aus dem Weg zu räumen, eine verfehlte Erscheinung, die keinesfalls nur individueller Art war, sondern als Kollektivneurose große Teile des Bürgertums betraf – daher Flauberts Erfolg, daher aber auch das notwendige Ende dieser Klasse, die nach Sartres Kriterien nicht fit für den Weg in die Moderne war. [3]Flaubert musste zu Ende analysiert werden, um dem neuen Menschen sartrescher Prägung, dem endlich modernen, auf Selbstüberschreitung bedachten Menschen Platz zu machen.

Von diesem passivischen Zug Flauberts, dem Erleiden, dem Pathos seines Charakters ausgehend, werde ich ein anderes Bild der Moderne zeichnen, für die Flaubert in der Tat eine wichtige Rolle spielt. [4]Flauberts Triebschicksal gewinnt an Brisanz, weil sein Werk dieses Schicksal in eine antichristlich-christliche Bewegung einschreibt, die man die Tradition der reinen Liebe genannt hat und deren Urszene die Entäußerung Christi am Kreuz ist. Darin geht es nicht um die Behauptung oder Überschreitung eines Selbst, sondern um einen Prozess, in dem die Entäußerung des Eigenen erlitten wird. Flaubert artikulierte sein Triebschicksal, das Freud wenig später durchgehend im Bezug auf antike Mythen zur Darstellung brachte, in einer antik vorinformierten, an der antiken Zeitenwende situierten und in ihr reflektierten christlichen Matrix.

Flauberts Werk spielt, so können wir heute, nach Freud, sagen, auch auf einer anderen Szene, der Szene des Unbewussten. Diese Szene wird durch die immer selbe Dynamik von Ödipus- und Kastrationskomplex bestimmt. Der Komplex trägt den Namen des Ödipus der griechischen Tragödie, weil dieser die beiden Tabus, die Kultur begründen, durchbrochen hat: Er hat tatsächlich seinen Vater ermordet und mit der Mutter geschlafen. In ihm tritt das heimliche Begehren ans Licht, das alle Kultur bannen muss.

In dieser tragischen Genealogie sind für Flauberts Werk von den ersten Versuchen an Vatermord, Brudermord und Inzest bestimmend. In dem frühen Werk Quidquid volueris bringt ein Affenmensch seinen »Bruder« um, vergewaltigt die Frau seines Ziehvaters, seine »Mutter« – und am Ende der späten Trois contes begegnet uns dieselbe Konstellation in der Figur des Heiligen Julian, der seine Eltern erdolcht; die Erdolchung der Mutter ist eine offensichtlich travestierte Penetration. Beiden Szenen am Anfang und am Ende der Karriere Flauberts haftet etwas von der Gewalt an, die der kleine Junge bei Freud in der Urszene dem Liebesakt zuschreibt, den er als Akt der Verstümmelung der Mutter, wenn nicht gar als Akt der zerstörerischen Tötung sieht: Die Mutter wird durch den Vater kastriert und durchbohrt.

Den Ausweg aus dem Ödipuskomplex, dem Wunsch, den Vater zu töten, um die Mutter inzestuös genießen zu können, erreicht der Junge durch die Kastrationsdrohung. Der Ödipuskomplex leitet die infantile Theorie der Differenz der Geschlechter als kastriert/phallisch ein und trifft den Jungen als Angst, das Organ seiner Lust zu verlieren. In jedem Fall geht er aus dieser Phase nicht unversehrt hervor, denn die Anerkennung der Differenz der Geschlechter besiegelt den Verlust des Einsseins mit der Mutter. Das Schicksal der Mutter kann ihn auch ereilen, wenn er auf seiner Aggression gegen den Vater beharrt, die Bedingung für den Genuss der Mutter ist. Also muss die Mutter als Objekt des Begehrens aufgegeben werden, um später einmal durch andere Liebesobjekte ersetzt werden zu können. Die Beziehung zum Vater wird entsexualisiert und zum Über-Ich idealisiert. So wird der Weg zu Identifikation und Sublimationen bereitet.

Flaubert mobilisiert sämtliche theologischen und historischen Quellen, um immer wieder den Ödipuskomplex zu erzählen: Inzest und Vatermord. Darin gründet seine außergewöhnliche Faszination vom Nero des Tacitus. In der französischen Geschichte findet dieses notorische Szenario die einprägsamste Variante in Diane de Poitiers, einer der Favoritinnen von François I., die der Thronnachfolger Henri II. dem Vater ausspannt und der er sein Leben lang verfallen bleibt, obwohl, so lesen wir in der Princesse de Clèves der Madame de Lafayette, sie weder schön noch jung war. »Quoiqu’elle n’eût plus de jeunesse ni de beauté, elle le gouvernait avec un empire si absolu que l’on peut dire qu’elle était maîtresse de sa personne et de l'Etat.« [5]Weil sie nicht mehr jung ist, und als Geliebte des Vaters seine Mutter hätte sein können, ist Heinrich II. ihr, die über ihn verfügt und nicht ansteht, ihn auch souverän zu betrügen, verfallen. In Flauberts Werk treffen wir sie im Schloss von Fontainebleau als »Diane infernale«, die das Begehren Frédérics übers Grab hinaus auf sich zieht. Ihre Ahnin ist die Hérodias, der wir in den Trois contes begegnen, auch sie eine Jägerin.

Das Begehren des Ödipus wird erzählt. Und sofort sanktioniert. Flaubert oszilliert zwischen Begehren und Sanktion. Er verharrt in der Dynamik des Limbo zwischen Ödipus- und Kastrationskomplex. Die flaubertsche, um das Register des Inzests erweiterte Vision der civitas terrena des Augustinus liest sich wie eine Variante des Ödipuskomplexes. Auch für Flaubert führt der Kastrationskomplex – Inzesttabu und Etablierung einer Generationenfolge, die nicht mehr von Mord zwischen Brüdern, Vätern und Söhnen bestimmt ist – nicht zum Untergang des Ödipuskomplexes. Inzest und Brudermord regieren die Geschichte, die sich als hiesige Geschichte seit Augustinus’ Darstellung erstreckt.

Die Strafe folgt auf dem Fuße, als Todes- oder Kastrationsbedrohung, aber auch als Entsagung, als Selbstentäußerung und Selbsthingabe. Begehren heißt kastriert werden und/oder sterben. Alle, die glauben, um diesen Preis herumzukommen und phallisch prunken, gibt Flaubert der Lächerlichkeit preis. Die Oszillation von Begehren und Kastration nimmt sadomasochistische Züge an, die in unterschiedlichen Varianten vorkommen: Tod nach dem Inzest in Quidquid volueris, metaphorische Kastration in Hérodias, Selbstauslöschung nach verschobenem Inzest in St. Julien, das bis zum Erbrechen gehende Mitleiden des Autors mit der zu Tode leidenden Emma Bovary, wie auch die Aggression gegen sie, die sich darin zeigt, dass für Flaubert letzten Endes alle Lust, und a fortiori alle weibliche Lust, zum Tode ist. Die Verschränkung von Sadismus und Masochismus tritt unübertroffen in der Passion des Mâtho in Salammbô zutage, die er und die Leser – ganz anders als bei de Sade, wo mit den Leidenden kein Mitleid erweckt wird – bis zu einem fast unerträglichen Grad mit erleiden müssen. Die extremen Seiten des flaubertschen Werkes – sein in extremem Pathos einfühlsames Mitleid und sein unglaublicher Sadismus – wären so ein Gefangensein in der Urszene: Mitleid mit der Mutter als Kastrierter, Identifikation mit dem Vater als Kastrierendem, Schuld ob dieser Identifikation, Selbstbestrafung für die Lust mit der Mutter. Der oft krude Pennälerwitz, den Flauberts Briefwechsel an den Tag legt, wäre Abwehr dieses unerträglichen Hin- und Hergerissenwerdens. Doch das ist nicht alles, was man von der Psychoanalyse für die gleichzeitig mit ihr entwickelte Kunst Flauberts lernen kann.

Die Beharrungskraft des Kastrationskomplexes wird durch die Erkenntnis des Erwachsenen von der sexuellen Differenz nicht gebrochen. Gab es bei Freud noch die Vorstellung, dass die unter dem Primat des Phallus stehenden kindlichen Sexualtheorien der Opposition kastriert/phallisch durch die der Biologie entsprechende Erkenntnis der beiden Geschlechter in Penis und Vagina überwunden werden könne, so bleibt für den Freud-Leser Lacan das Verhältnis der Geschlechter von den kindlichen, unter dem Primat des Phallus entstandenen unbewussten Sexualtheorien weiter bestimmt. Phallus und Kastration bleiben unhintergehbar, wie sie es in Flauberts Schreiben geblieben sind.

Bei Freud ist insbesondere der Fetischismus das Beispiel dafür, dass auch die erwachsene Sexualität von den kindlichen Sexualtheorien unbewusst geprägt bleibt. Für den Fetischisten ist der Ersatz des mütterlichen Phallus – also das, was der Junge gesehen hat, bevor er den horrenden Mangel realisiert, notorischerweise Schuhe, Wäsche oder Pelz für die Schamhaare – zur sexuellen Lust notwendig. Zum Selbstschutz, aus Angst, verleugnet er die Kastration der Mutter, die bedeutet, dass auch er kastriert werden könnte. Er vermeidet die Trennung von der Mutter, indem er an ihrer phallischen Vollkommenheit festhält. Denn so bleibt er in der gespaltenen Position, die Differenz der Geschlechter – die die Möglichkeit seiner Kastration birgt – anzuerkennen und gleichzeitig zu verleugnen. Octave Mannoni hat das auf die unnachahmliche Formel »Je sais bien [dass die Frauen keinen Penis haben], mais quand même [aber trotzdem kann ich es nicht glauben]«. [6]Der Fetischismus »bewahrt«, wie Freud so schön sagt, den Jungen...

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