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Facts and figures: Die flüchtlingspolitische Praxis
Die gesetzlichen Grundlagen der schweizerischen Flüchtlingspolitik und die Weisungen des EJPD sind seit dem Bericht von Carl Ludwig aus dem Jahr 1957 bekannt.1 Auch die UEK hat sich in ihrem Flüchtlingsbericht mit diesen Grundlagen auseinandergesetzt.2 Dies zeigt, dass es sich lohnt, den Kontext von zwei zentralen behördlichen Entscheidungen unter der Voraussetzung einer größeren zeitlichen Distanz und anhand zwischenzeitlich zugänglich gemachter Quellen noch einmal auszuloten: die Definition der Flüchtlingseigenschaft der verfolgten Juden und Jüdinnen und das Zustandekommen der Weisung vom 13. August 1942, die einer gegen jüdische Flüchtlinge gerichteten Grenzsperre gleichkam und in abgeschwächter Form die Vorgabe für die flüchtlingspolitische Praxis in den nachfolgenden Jahren bildete. Dieses Ausloten erfolgt an erster Stelle in diesem Kapitel.
Da die Weisungen des EJPD bzw. der Polizeiabteilung unterschiedlich ausgelegt wurden, ist es wichtig, das Verfahren der Aufnahme und Wegweisung von Flüchtlingen in den verschiedenen Grenzabschnitten zu rekonstruieren. Es geht dabei um die Entwicklung des Verfahrens in den ersten Kriegsjahren, um die Arbeitsteilung und die Zusammenarbeit zwischen den zivilen und militärischen Stellen, kurz: um die Praktiken in den verschiedenen Grenzabschnitten. Ihre Darstellung erfolgt an zweiter Stelle in diesem Kapitel.
Um die Aufnahme- und Wegweisungszahlen richtig interpretieren zu können, ist es zentral, die Aktenüberlieferung der Polizeiabteilung, diejenige der ihr im Verfahren vorgelagerten Stellen sowie diejenige der Eidgenössischen Fremdenpolizei (EFP) zu kennen. Sie wird an dritter Stelle dargestellt. Die Statistik zu den Aufnahmen und Wegweisungen folgt dann an vierter Stelle.
Eine Zwischenbilanz fasst die Fakten und Zahlen zusammen und beleuchtet kurz die Bedeutung dieser Grundlagen und »Resultate« der Flüchtlingspolitik für die nachfolgenden Kapitel.
Kompetenzen und Weisungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements
Die Schweiz kannte Ende des 19. Jahrhunderts eine Tradition des Asyls insbesondere für konfessionell und politisch Verfolgte, aber kein eigenes Asylgesetz, das den Flüchtenden ein persönliches Asylrecht zugestanden hätte. Dies eröffnete den Behörden einen weiten Spielraum in der Ausgestaltung der Praxis. Zwar regelte der Verfassungsartikel 69ter in einer negativen Formulierung die Asylgewährung, indem der Bundesrat letztinstanzlich über die Verweigerung des Asyls entscheiden konnte. Das Asyl galt aber nicht als individuell zu prüfender Rechtsanspruch eines Schutzsuchenden, sondern als Recht der Schweiz, einem Verfolgten auch gegen den Einwand eines anderen Staates Schutz zu gewähren:
»Auch wo die Eigenschaft des politischen Flüchtlings wirklich vorhanden ist, gibt sie keinen Rechtsanspruch auf eine Bewilligung (Asyl). Sie steht rechtlich andern Fürgründen der Zulassung gleich, dagegen geniesst der politische Flüchtling eine Ausnahmestellung im Verfahren, da er Gemäß Artikel 21 des Gesetzes [über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931] bei jedem ihm eine Bewilligung verweigernden Entscheid den Bundesrat anrufen kann.«3
Die Weisungen des EJPD zum Bundesgesetz (BG) über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer machen demnach klar, dass das Asyl in erster Linie Bestandteil der souveränen und neutralen Staatsmaxime der Schweiz war. Es wurde nicht als »ehernes Gesetz« betrachtet, sondern aus außen- aber auch aus innenpolitischen Gründen immer wieder den unterschiedlichen Situationen angepasst. Eine besondere Herausforderung stellten dabei die 1930er und 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts dar.
Die Definition der Flüchtlingseigenschaft
Die entscheidende begriffliche Voraussetzung für die Flüchtlingspolitik in den 1930er und 1940er Jahren war die Unterscheidung von politischen und nichtpolitischen Flüchtlingen. Sie erlaubte es den behördlichen Entscheidungsträgern, Schutzsuchende als nichtpolitische Flüchtlinge abzuweisen. Die Unterscheidung geht auf Bundesanwalt Franz Stämpfli zurück, der nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland in Übereinstimmung mit dem Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung, Heinrich Rothmund, den Bundesratsbeschluss (BRB) vom 7. April 1933 und das entsprechende Kreisschreiben des EJPD vom 20. April 1933 vorbereitet hatte.4 Die beiden Erlasse übertrugen die Kompetenz zur Anerkennung politischer Flüchtlinge der Bundesanwaltschaft (BA), ohne aber den Begriff des politischen Flüchtlings genau zu umschreiben. Stämpfli und Rothmund kamen vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgung von Oppositionellen in Deutschland einzig überein, hohe Staatsbeamte, Führer von Linksparteien und bekannte Schriftsteller als politische Flüchtlinge aufzunehmen, Kommunisten jedoch wegzuweisen.
Dieser behördliche Ermessensspielraum wurde in der politischen Grundstimmung der 1930er und 1940er Jahre zunehmend zu Lasten der Flüchtlinge ausgelegt. Zwar unterzeichnete die Schweiz am 4. Juli 1936 ein Abkommen des Völkerbundes über den Status der Flüchtlinge aus Deutschland und verpflichtete sich 1937, »von der bisherigen, äußerst zurückhaltenden Praxis [nicht] abzugehen, wonach der politische Flüchtling grundsätzlich nicht in den ihn verfolgenden Staat abgeschoben werden soll«.5 Mark Pieth und Walter Kälin haben die rechtlichen Aspekte der Auslieferung von Schutzsuchenden an Nazi-Deutschland in Gutachten eingehend erörtert – Pieth im Zusammenhang der Rehabilitierung von Paul Grüninger und Walter Kälin in einer Studie für die UEK.6 Die rechtliche Aufarbeitung der Flüchtlingspolitik wird anhand der Klage von Joseph Spring gegen die Eidgenossenschaft in Kapitel 4 besprochen.
Bundesanwaltschaft und Polizeiabteilung lösten ihre 1937 geäußerte Absicht, gemessen an den Zahlen politischer Flüchtlinge, aber nicht ein: Insgesamt wurden nur 644 Personen als politische Flüchtlinge anerkannt, 392 vor und 252 während des Krieges.7 Die Gesamtzahl der von der Bundesanwaltschaft erfaßten Personen war zwar höher, da auch nichtpolitische Flüchtlinge aus sicherheitspolitischen Erwägungen ihrer Kontrolle unterstellt wurden. Eine überwiegende Mehrheit der Verfolgten fiel aus der Sicht der Bundesbehörden grundsätzlich aber nicht unter das Prinzip des Non-Refoulement. Hingegen sollten aus humanitären Gründen etliche Ausnahmen vom Grundsatz der Wegweisung gemacht und so dennoch tausende von Flüchtlingen aufgenommen und gerettet werden (vgl. unten).
Als kleines Land war die Schweiz auf Unterstützung angewiesen. Behörden und Hilfswerke setzen große Hoffnungen auf die internationale Flüchtlingskonferenz 1938. die in Evian stattfand. Die USA bemühten sich im Rahmen des Völkerbundes darum, die Hilfeleistungen international zu koordinieren. Die meisten Staaten wollten sich aber nicht verbindlich festlegen oder nannten nur niedrige Kontingentszahlen zur Aufnahme von Flüchtlingen. Die Schweiz präsentierte ihr Konzept eines Transitlandes, war also im Prinzip nur dann bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn diese in andere Länder weiterreisen würden. Insgesamt war die Konferenz ein Misserfolg. Auf dieser wurden die Weichen so gestellt, dass die internationale Flüchtlingspolitik gemessen an der Realität des Holocaust scheitern musste.
In der Schweiz ermöglichte die Unterscheidung von politischen und nichtpolitischen Flüchtlingen eine restriktive Praxis, die sich nach Kriterien des seit dem Ersten Weltkrieg eingeübten Überfremdungsdiskurses gestaltete.8 Die Agitation nationalistischer Kreise und die Ängste der Bevölkerung im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und später des Krieges förderten eine ablehnende Grundhaltung, der gegenüber die behördliche Fremdenpolitik in manchen Belangen wesentliche Konzessionen machte. So erhob die EFP die Bekämpfung der sogenannten »Überfremdung« zum wichtigsten Ziel ihrer Tätigkeit.9 An erster Stelle standen der Schutz des schweizerischen Arbeitsmarktes und die Abwehr »wesensfremder Elemente«10. Die Weisungen des EJPD zum BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) vom 31. März 1931 umschrieben diese Zielsetzung wie folgt:
»Da die Schweiz übervölkert und überfremdet ist, steht jedem nicht zweifellos nur vorübergehenden Aufenthalt eines Ausländers der allgemeine Gegengrund der Überfremdung im Wege; nur wenn dieser durch stichhaltige und genügend starke Fürgründe überwogen wird, kann eine Bewilligung in...