In den vorangegangenen Kapiteln wurde unter Miteinbeziehung unterschiedlicher Literaturgrundlagen ersichtlich, dass die Thematik der Flüchtlingskinder in Deutschland ein völlig neues, spannungsreiches Anforderungsfeld darstellt, welches sehr viele gesellschaftliche und politische Bereiche tangiert. Insbesondere die Grundschule stellt ein Arbeitsfeld dar, in dem nicht nur die Flüchtlingskinder selbst von staatlichen und gesellschaftlichen Bestimmungen betroffen sind, sondern auch die darin involvierten und in ihr agierenden Lehrkräfte. Der erste Teil dieser wissenschaftlichen Hausarbeit widmete sich der theoretischen Darstellung der verschiedenen Aspekte, welche einen Einfluss auf minderjährige Flüchtlinge selbst sowie die Wahrnehmung von und den pädagogischen Umgang mit eben diesen haben.
An dieser Stelle soll jedoch der Frage nachgegangen werden, wie die pädagogischen Akteure in Grundschulen praktisch mit dem momentan bestehenden und möglicherweise auch fortdauernden Zustrom an Flüchtlingen umgehen. Diese Fragestellung scheint vor dem Hintergrund durchaus legitim, dass sie diejenigen sind, von denen ein professioneller Umgang mit den Konsequenzen von Entscheidungen und Bestimmungen, die sie meistens nicht selbst getroffen haben, erwartet wird. Die vorliegende bereichsspezifische Untersuchung setzt sich zum Ziel, subjektive Realitäten von Grundschullehrern offen zu legen und ein Verständnis dafür zu vermitteln, wobei die theoretischen Grundlagen des ersten Teils durchaus miteinbezogen werden.
Unter Zuhilfenahme vier exemplarischer Falldarstellungen soll deshalb der folgenden Forschungsfrage nachgegangen werden:
Wie empfinden Grundschullehrer die Arbeit mit Flüchtlingskindern?
Es soll an dieser Stelle noch verdeutlicht werden, dass diese qualitative Forschung lediglich ein theoretisches Interesse verfolgt und nicht den Anspruch stellt, eine Lösung für eventuell vorliegende Problemlagen im schulischen Umgang mit Flüchtlingskindern zu finden. Diese Studie soll höchstens zu einer kleinen Erweiterung wissenschaftlicher Kenntnisse beitragen.
Aufgrund mangelnder empirischer Befunde und unzureichender Fachliteratur zur Thematik der Flüchtlingskinder in der Grundschule, soll im Rahmen dieser wissenschaftlichen Hausarbeit nun eine eigene empirische Forschung vorgestellt werden. Zur intensiven Untersuchung der Fragestellung, wie Flüchtlingskinder in der Grundschule wahrgenommen, aufgenommen und integriert werden, reicht die einfache Beobachtung kaum aus. Deshalb wurde für diese Erforschung die Methodik der Grounded Theory herangezogen und verwendet. Diese setzt sich die Entdeckung von Theorieaussagen anhand empirischer Daten zum Ziel (vgl. Brüsemeister 2008, S. 19). Dies bedeutet, dass am Anfang der Forschung keine bereits existierende Theorie steht, die den Untersuchungsgegenstand ausreichend erklären könnte, sodass sich die Entwicklung von neuen, eigenen Theorien durch das Stellen generativer Fragen anbietet (vgl. ebd. S. 23). Dieses Verfahren erfordert eine große Offenheit sowie Flexibilität des Forschers.
Als Mittel der Datengenerierung wurde für das Vorhaben das narrative Interview gewählt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es einer Erzählaufforderung gleich kommt, die ein frei formuliertes Statement zu einer offenen Fragestellung verlangt (vgl. Lamnek 2010, S. 310). Dieses freie Erzählen ohne intensive Vorbereitung der Rede nennt man in der qualitativen Forschung auch Stegreiferzählung (vgl. Brüsemeister 2008, S. 99). Brüsemeister (2008) sieht im narrativen Interview die Wechselwirkung von Gesellschaft und der Biographie des Befragten insofern verwirklicht, als dass der Befragte immer vor dem Hintergrund der Gesellschaft und seiner zeitlichen Bewegung in eben dieser betrachtet und analysiert wird (vgl. ebd. S. 101). Es geht also darum, die soziale Wirklichkeit unserer Gesellschaft durch die Augen des Befragten zu betrachten und durch dieses Fremdverständnis einen neuen eigenen Blick darauf zu erhalten (vgl. Lamnek 2010, S. 317). In der Auswertung der Interviews gilt es darauf zu achten, dass nicht nur das Empfinden des Befragten selbst untersucht wird, sondern auch wie dieses im Interview präsentiert wird (vgl. ebd. S. 103). Entgegen der naheliegenden Vermutung geht es bei der Theoriebildung nicht darum, die Aussagen des im Interview Befragten zu paraphrasieren sondern vielmehr, sie zu Kategorien zusammenzufassen. Diese müssen teilweise neu erfunden werden, um die wesentlichen Inhalte des Gesagten auf einem allgemeinen Niveau zu erfassen (vgl. Breuer 2010, S. 75). Hierfür müssen zunächst Schlüsselwörter zu entsprechenden Textstellen der wörtlichen Interviewtranskription[5] zugeordnet werden, was in Fachkreisen als Kodieren bezeichnet wird. Eine Kategorie bündelt im Umkehrschluss mehrere Kodes (vgl. Mey/ Mruck 2011, S. 308). Aus diesen Kategorien und ihren Verknüpfungen lassen sich dann subjektive Theorien der jeweiligen Interviewpartner entwickeln. Diese sind stets personengebunden und in etwa gleichzusetzen mit kognitiven Strukturen, die die Sichtweisen und Denkmuster des Individuums beeinflussen und ihm beim Handeln Orientierung geben. Im Vergleich sowie der Gegenüberstellung der unterschiedlichen subjektiven Theorien der Befragten können schlussendlich die finalen, objektiven Theorien entwickelt werden.
Befragt wurden vier Personen, welche beruflich als Lehrer an einer Grundschule tätig sind. Die Anzahl der Befragten ist keineswegs ausschlaggebend für eine Generierung aussagekräftiger Theorien, weshalb die verhältnismäßig geringe Anzahl der Befragten für diese Studie als durchaus ausreichend eingestuft werden kann. Viel einflussreicher als die Zahl an Befragten ist die Erfassung verschiedener Facetten des Falls, weshalb die Variation innerhalb der Gruppe maximal groß sein sollte (vgl. Zimmermann 2015, S. 105). Es wurde darauf geachtet, mit der Auswahl der Interviewpartner eine weite Bandbreite an pädagogischen Idealtypen abzudecken, um eine bereits erwähnte facettenreiche Bearbeitung der Forschungsfrage nach den subjektiven Realitäten der Lehrkräfte zu gewährleisten. Es geht dabei also weniger um Repräsentativität der Befragten sondern viel mehr um ihre Typisierung (vgl. Lamnek 2010, S. 350).
Der erste Aspekt, in dem sich die pädagogischen Akteure unterscheiden, ist ihre Rolle innerhalb ihrer jeweiligen Grundschulen. Einer der Befragten ist ein Schulleiter, zwei haben bereits Erfahrungen in der Leitung einer Intensivklasse sammeln können und eine Befragte befindet sich noch im Referendariat. Es kann davon ausgegangen werden, dass die verschiedenen Aufgabenbereiche, in denen die Lehrkräfte tätig sind, einen Einfluss auf ihre Berufsidentität sowie damit einhergehend auf das persönliche Empfinden haben.
Eine große Altersvarianz soll außerdem verdeutlichen, welchen Wert die berufliche Erfahrung im Hinblick auf den Umgang mit schulischen Herausforderungen, wie es der Zustrom an Flüchtlingskindern eine ist, haben kann. Drei der Befragten sind schon mehrere Jahrzehnte im Schuldienst tätig, während eine Interviewpartnerin, wie bereits erwähnt, noch im Referendariat ist und somit noch verhältnismäßig wenig Handlungsroutine im Kontext der Grundschule hat.
Darüber hinaus kann die Auswahl der Geschlechter einen Einfluss auf die Entwicklung der zu generierenden Theorien haben. Obwohl der pädagogische Bereich nach wie vor sehr feminin geprägt ist und Männer an Grundschulen weitaus seltener vertreten sind als Frauen, ergab es sich, dass genauso viele Männer wie Frauen dazu bereit waren, mir für ein Interview zur Verfügung zu stehen.
Die Verbindung zu den Interviewpartnern entstand ausschließlich über die persönliche Bekanntschaft einer gemeinsamen Vertrauensperson. Dies wird in der qualitativen Forschung als entscheidendes Kriterium gewertet, da man so eher davon ausgehen kann, dass das Interview in einem vertrauensvollen Rahmen und unter entspannter Atmosphäre verläuft. Eine zu enge Verbindung zwischen dem Forschenden und den Interviewten ist hingegen jedoch möglichst zu vermeiden, da dadurch der objektive Blick des Forschers getrübt werden kann. Die Verbindung zwischen mir und meinen Interviewpartnern wurde jeweils über Freunde und Verwandte hergestellt. Dadurch konnten Vorgespräche mit den Befragten geführt werden, in denen ein erster persönlicher Kontakt hergestellt wurde und ich mich ihrer Bereitschaft zu einem Interview versichern konnte.
Die Namen aller Interviewpartner sowie ihrer Schulen wurden aus Datenschutzgründen geändert.
Biographischer Abriss
Heiko ist 58 Jahre alt und bereits seit 15 Jahren Schulleiter an einer Grundschule im Main-Taunus-Kreis. Er ist geschieden, lebt aber wieder in einer festen Partnerschaft und ist Vater dreier Kinder, von denen eines seit früher Kindheit an behindert ist. Nach seinem Studium des Förderschullehramts erweiterte er seine akademische Ausbildung um das Studium des Grundschullehramts. Er arbeitet seitdem im Schuldienst.
Der Kontakt zu ihm ergab sich über meinen Bruder...