Die Arbeitswelt in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Durch technisch-ökonomische Veränderungen, wie die zunehmende Automatisierung von Arbeitsabläufen und deren Steuerung durch Computerprogramme, werden mehr und mehr Arbeitsplätze eingespart, die handwerkliche Qualifikationen voraussetzen. Der Anteil der Wissensarbeit steigt an. Dies wird am Beispiel der Automobilproduktion deutlich. Das Verhältnis der Materialkosten gegenüber den Arbeitskosten hat sich von 1920 -1990 von 40 zu 60% auf 15 zu 85% verschoben. Der Arbeitsanteil entfällt zu 20% auf die Produktion und zu 80% auf Wissensarbeit (vgl. Duismann, 2001, S. 3)
Abgänger der Förderschule verfügen meist über geringere kognitive Kompetenzen und haben es somit besonders schwer einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Sie müssen als zusätzliche Schwierigkeit auch noch mit Abgängern anderer Schulformen konkurrieren. Auch eine Ausbildung abzuschließen fällt ihnen schwerer, da sich die Berufsausbildung den Bedingungen am Arbeitsmarkt entsprechend anteilig mehr auf Wissensarbeit konzentriert.
Durch eine hochgradige Arbeitsteilung mit sich ständig wiederholenden, monotonen Arbeitsanforderungen in industriellen Produktionsbetrieben, gibt es einen Bedarf an ungelernten bzw. angelernten Arbeitskräften. Jedoch werden diese mehr und mehr im europäischen und internationalen Ausland beschäftigt, da die Löhne dort niedriger und mit weniger Nebenkosten verbunden sind. Dadurch nehmen sowohl Arbeitsplätze auf niedrigem Qualifikationsniveau, als auch die Kapazität an Ausbildungsplätzen in der Industrie in Deutschland ab. ( vgl. Jeschke, 1997, S. 493)
Jeschke prognostizierte 1997 die Verschärfung der Arbeitsmarktsituation für Menschen ohne qualifizierten Berufsabschluss und betonte dabei, dass diese ohnehin am Stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen seien. (vgl. Jeschke 1997, S. 496)
Diese negative Prognose war zutreffend und hatte sich 2002 nicht verbessert:
"Auch die demographische Entwicklung der künftigen Jahre wird das Problem der Beschäftigungsrisiken für Geringqualifizierte nicht lösen können, da die Anforderungen der Betriebe an die Qualifikation der Beschäftigten generell (selbst bei Einfachtätigkeiten!) weiter steigen werden." (BMBF, 2002, S. 15 - 16)
Die zukünftige Entwicklung des Beschäftigungssystems wird sich also für Ungelernte voraussichtlich negativ auswirken. Unter "ungelernt" wird jede Person ohne formalen Berufsabschluss verstanden. Im Jahr 2002 standen ungefähr 14% der Arbeitsplätze für Ungelernte zur Verfügung. Die Prognosen gehen davon aus, dass im Jahr 2010 nur noch 11,4% der Arbeitsplätze für nicht formal Qualifizierte in Frage kommen. Seit Beginn der 1990er Jahre werden dann ungefähr 50% aller Arbeitsplätze für Personen ohne formalen Berufsabschluss weggefallen sein (vgl. BMBF 2002, S. 15)
Im März 2002 waren von insgesamt 1,8 Mio. Erwerbspersonen unter 20 Jahren etwa 94.000 arbeitslos. Damit lag die Quote bei ungefähr 5,2%. Über 98.000 Jugendliche (eine Quote von 5,5%) befanden sich jedoch in berufsvorbereitenden Maßnahmen. Die Jugendarbeitslosigkeit wurde also durch diese Maßnahmen offiziell mehr als halbiert. (vgl. Castello, 2003)
Im Jahr 2003 hat sich der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Jugendliche weiter verschlechtert. Höheren Bewerberzahlen standen sinkende Stellenangebote gegenüber. Laut der Pressemitteilung 42/03 der Bundesanstalt für Arbeit vom 5.6.2003 war die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze im Mai 2003 11% niedriger als im Mai 2002. Für Ende September wurde das Defizit bei 60.000 - 70.000 Stellen geschätzt. Auch der Arbeitsmarkt für Jugendliche bis 25 blieb angespannt. Die Quote lag 7% höher als 2002. 486.200 Jugendliche waren arbeitslos. Die Zahl der Jugendlichen, die sich in Maßnahmen der Arbeitsförderung befanden, ist in der Quote nicht enthalten und zeichnet ein verschärftes Bild der Situation ab. 558.000 Jugendliche befanden sich in solchen Maßnahmen. 4% mehr als im Vorjahr.
Im Handwerk, dem Arbeitsfeld, welches für Förderschulabgänger besonders geeignet ist, sank die Zahl der Beschäftigten insgesamt um 5,3 % im Jahr 2002.[2]
Schulabgänger der Schulen für Lernbehinderte fanden in den Bereichen Bau- und Ausbau, Holzgewerbe, Nahrungsmittelgewerbe und Gewerbe für Gesundheits- und Körperpflege, chemische und Reinigungsgewerbe Ausbildungs- und Arbeitsplätze. (vgl. BFA 2003)
Im Berufsbildungsbericht 2003 gibt es eine Übersicht über die Berufe, in denen die Jugendlichen am häufigsten eine Ausbildung begannen. Abgänger von Förder- und Sonderschulen werden bei der Gruppe der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss eingeordnet. Im Jahr 2001 haben 2,6% der insgesamt 572.227 Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag keinen Hauptschulabschluss. Die meisten Auszubildenden ohne Abschluss erlernten handwerkliche Berufe wie Maler und Lackierer, Maurer oder Friseur. Viele wurden auch im Beruf Hauswirtschaftlicher Helfer ausgebildet (vgl. BMBF 2003, S. 1, 82)
Die zehn am häufigsten von Ausbildungsanfängern und Ausbildungsanfängerinnen ohne Hauptschulabschluss gewählten Ausbildungsberufe 2001 und Vergleich mit 20001)
Tabelle entnommen aus: BMBF – Berufsbildungsbericht 2003, S. 83
Die in dieser Übersicht erfassten Berufe umfassen 58% aller Auszubildenden ohne Hauptschulabschluss, die im dualen System ausgebildet werden.
Bei Behindertenberufen nach § 48 BBiG und § 42b HwO handelt es sich um eine modifizierte Berufsausbildung. Die Jugendlichen erhalten eine komplette Berufsausbildung, bestehend aus theoretischen und berufspraktischen Anteilen. Die Ausbildung enthält jedoch nur Teile der Anforderungen einer normalen Facharbeiterausbildung. Beispiele für die Facharbeiterausbildung und deren jeweilige Entsprechung als Behindertenberuf sind: Maler – Farbgeber, Sekretärin – Bürokraft, Hauswirtschafterin – hauswirtschaftstechnische Helferin. (vgl. Jeschke 1997, S. 495)
Der geschilderte Mangel an Ausbildungsplätzen führt zu einem Verdrängungswettbewerb. Hierbei verlieren die schwächeren Mitbewerber, bzw. die, die den gestiegenen Qualifikationsanforderungen nicht entsprechen können.
Unter diesen schwierigen Bedingungen ist es besonders wichtig, die Schüler/innen der Förderschulen gut vorzubereiten auf die Arbeitsplätze, die sie einnehmen können.
4.1 Bedeutung der Erwerbsarbeit für Förderschulabgänger
Die Ansprüche der Arbeitswelt sind heute geprägt durch Begriffe wie Flexibilisierung und Individualisierung. Jugendlichen mit guten schulischen und sozialen Voraussetzungen eröffnet sich die Möglichkeit auf eine sehr individuell gestaltete Berufskarriere. Sie müssen sich immer wieder neu beweisen und sich möglicherweise häufig wechselnden Arbeitsbedingungen anpassen. Jugendliche mit schwierigen schulischen, sozialen oder persönlichen Voraussetzungen, wie Abgänger der Förderschulen sie haben, profitieren weniger von diesen Veränderungen der Arbeitswelt. Sich häufig wechselnden Bedingungen flexibel anpassen zu können, setzt eine große Selbstsicherheit voraus, über die die Abgänger der Förderschulen zumeist nicht verfügen. Sie fühlen sich oft durch ihren Förderschulabschluss stigmatisiert (vgl. Jeschke 1997, S. 494) und minderwertig oder haben von vornherein ein durch schulische Misserfolge geprägtes negatives Selbstkonzept (vgl. Neukäter 1998). Dieses erschwert ihnen den Einstieg in die Arbeitswelt zusätzlich zu den in Kapitel 4 genannten Schwierigkeiten.
Ein stabiler Identitätsentwurf begünstigt die Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Die Arbeit macht einen wesentlichen Faktor bei der Identitätsfindung aus. So sagt Keupp, der in einer Längsschnittuntersuchung die Zusammenhänge zwischen Identitätsbildung und Erwerbsarbeit bei Jugendlichen mit relativ niedrigem Schulabschluss (maximal ein qualifizierter Hauptschulabschluss) untersuchte, dass die Erwerbsarbeit zentral in der Identitätsarbeit sei, weil das damit verbundene Einkommen die soziale Position von Menschen in der Gesellschaft bestimme. Produktive Selbstverwirklichung, soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe bildeten den Kern der Bedeutung von Arbeit für die Identitätsentwicklung. (vgl. Keupp 1999, S. 123, 129)
„Erwerbsarbeit vermittelt nicht nur zentrale Erfahrungen von Anerkennung, sondern auch von Selbstverwirklichung. In beiden Dimensionen ist sie ‚Sinnstiftende Instanz’ und unter den gegenwärtigen Bedingungen durch nichts zu ersetzen. Sich selbst als Produzent, Wertschöpfer, Kooperationspartner und Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zu erfahren, ist außerhalb von Erwerbsarbeit bisher kaum möglich. Es ist eine spezifische Form von sozialer Zugehörigkeit und Einbindung, die über Arbeit vermittelt wird.“ (Keupp 1999, S. 129)
Trotz und wegen der zunehmenden Verknappung von Erwerbsarbeit (siehe Kapitel 4) wächst deren Bedeutung für die Identitätsentwicklung. Menschen ohne Arbeit stellen ins Zentrum ihrer Identität nicht einfach etwas anderes, wie...