Die Begriffe ‚Sprachentwicklung’‚ Sprachlernprozesse’ oder ‚Spracherwerb’ signalisieren theoretische Positionen, die das Verhältnis von biologisch-genetischer Ausstattung (‚nature’, engl. ‚Natur’) und Umwelt (‚nurture’, engl. ‚Erziehung’) unterschiedlich gewichten.
Oft wird eine unvereinbare Dichotomie der inside-out- und outside-in-Annahmen vorgenommen, obwohl bereits in den Anfängen der Sprachpsychologie von Stern/ Stern 1928 konstatiert wurde: „Das eigentliche Problem lautet also gar nicht, ob Nachahmung oder Spontaneität, sondern inwiefern sich bei der Übernahme, Auswahl und Verarbeitung der von außen angebotenen Formen und Bedeutungen die inneren Tendenzen und Kräfte betätigen.“
Mittlerweile besteht Konsens darüber, das die nature-nurture-Frage nicht auf ein Entweder-Oder hinläuft, sondern dass sowohl ein Maß und eine Form von sprachlichem Input vorgesetzt werden muss, auf den das Kind mit bestimmten Prädispositionen reagiert.
Mit Positionen der „radical middle“ (vgl. Newcombe 1998, 210) sollen die beiden bisher konträren Positionen in einem konnektionistischen Ansatz (vgl. Elman 1995, Elman/ Bates/ Johnson/ Karmiloff-Smith/ Parisi/ Plunkett 1996) verknüpft werden:
„(...) We give up on some versions of constructivism, nativism and empirism are probably the only positions left us. We are forced to make the unpalatable choice between the all-knowing infant in need of al little parameter-setting and the proposition that childeren aquire knowledge fact by fact, through trial-and-error testing (…)” (Newcombe 1998, S.210).
So werden in jüngster Zeit zunehmend so genannte Emergenzmodelle im Bereich der Spracherwerbstheorien herausgearbeitet, die auf der Idee dynamischer, selbstregulierter neuronaler, psychischer und sozialer Netzwerke basieren und Aspekte biologischer und sozialer Systemtheorien integrieren. Das Konstrukt Emergenz von Sprache bedeutet, dass sich Sprache nicht in einer Übernahme aus Segmenten oder Strukturen realisiert, sondern dynamisch und selbst organisiert in der komplexen Wirklichkeit zu einer höheren Form findet (vgl. Emmeche, Køppe & Stjernfelt 1977; Nelson 1996) durch das Zusammenspiel von sprachlichem Input mit signifikanten Hinweisreizen, biologisch bedingten Lernmechanismen und einer Sensitivität der Kinder für die Nutzung sprachlichen Inputs:
„The biases beginn the process. Attention to some kind of information is stronger at the outset. These biases, however, do not constitute knowledge in an abstract or explicit sense, ans simply start the ball rolling” (Hollich/ Hirsh-Pasek/ Tucker/ Golinkoff 2000, S. 20).
Durch dieses Zusammenwirken unter bestimmten Bedingungen entstehen neue Strukturen, die in den Initialstrukturen der Systemkomponenten selbst nicht gegeben waren (Klann-Delius 1999, S. 147). Dieser Selbstproduktionsprozess wird mit dem Begriff der Emergenz beschrieben. Auf Grund der Eigendynamik des Zusammenspiels der sprachlichen Reaktionen der Bezugspersonen und der sich anpassend entwickelnden Fähigkeiten des Kindes „können neue Fähigkeiten entstehen, die nicht auf den Einfluss eines inneren oder äußeren Parameters allein zurückgeführt werden können.“ (Kauschke 2007, S. 13). „It is not the child’s set of competences alone, nor the adult’s sensitive framing of those skills, but the task-specific dynamic interaction of all these elements that creates the emergent skill” (Fogel/ Thelen 1987, S. 752).
Das gemeinsame Wechselspiel beschreibt Stern (1928) anschaulich mit dem Bild eines gelungenen Partnertanzes (‚Interaktion’, vgl. die Konzepte ‚Akkomodation’ und ‚Assimilation’ nach Piaget 1982), in dem beide die Regeln dieser gemeinsamen Tätigkeit beherrschen (‚biologisches Programm’, vgl. nativistische Position nach Chomsky (1978) und ‚kognitive Ausstattung’, vgl. Bruner 1997) und sich in der kreativen Ausgestaltung und Variation erfreuen (‚Emergenz’ in der sprachlichen Ko-Produktion, vgl. Bindel/ Mußmann/ Kessler 2007). „Spracherwerb kann weder durch eine kindzentrierte Hypothese der Angeborenheit noch durch eine strikt milieuzentrierte, empirizistische Hypothese erklärt werden. Vielmehr prägt das Zusammenspiel eines sprachlernenden Kindes Kindes und seiner Umgebung seine Sprachentwicklung“ (Van Der Geest 1983, S. 340).
Die folgende Tabelle fasst schematisch die Entwicklungsstadien der Sprachentwicklung auf den einzelnen linguistischen Ebenen zusammen:
Die Psycholinguistik im weitesten Sinne ist die Fachdisziplin, die sich mit der Spracherwerbsforschung beschäftigt. Die Psycholinguistik ist eine Wissenschaft an der Nahtstelle zwischen Linguistik und Psychologie. Sie befragt sprachliche Phänomene von der psychologischen Seite her. Sie ist eine Bezugsdisziplin der Sprachbehindertenpädagogik.
Die Psycholinguistik kann dabei strukturell-linguistisch, überwiegend psychologisch oder sozialwissenschaftlich orientiert sein.
Ihre weiteren Aufgaben sind:
Sprachwissensforschung (Gedächtnis von Sprache und Verbindung zum Weltwissen)
Sprachprozessforschung (Psychische Prozesse bei rezeptivem und produktivem Sprachgebrauch. hier schließt sich auch die Neurolinguistik an, die neuronale Korrelate der gespeicherten und aktuell genutzten Sprachstrukturen und -funktionen sucht)
Die Spracherwerbsforschung untersucht je nach Ausrichtung schwerpunktmäßig die unterschiedlichen Segmente der Komponenten der Sprachstruktur und Funktion. Die Komponenten sind:
(vgl. Grimm, H. (1995): Sprachentwicklung. In: Oerter, R./ Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union, S. 707
Der Pfeil symbolisiert die Reihenfolge der "Größe" der sprachlichen Einheit (vom Laut zum Gespräch) sowie die "Erwerbsreihenfolge" der sprachlichen Komponenten (vom "Babbeln" zur Diskussion, siehe dazu die "Tabelle der Erwerbsstadien").
Es gibt verschiedene Theorien, die den Prozess des Erwerbs bzw. der Entwicklung der linguistischen und kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten. Die folgenden Ausführungen stellen eine Zusammenfassung des Grundlagenwerkes zu Spracherwerbstheorien von Klann-Delius (1999) dar.
Die Spracherwerbstheorien und Sprachentwicklungstheorien sind im wesentlichen die:
nativistischen Ansätze: Sprachfähigkeit als gattungsspezifisch genetische und neurologische Prädisposition
kognitivistische Ansätze: Sprachfähigkeit als Ergebnis bestimmter kognitiver Entwicklungsschritte
interaktionistische Ansätze: Sprachfähigkeit entwickelt sich im kommunikativen Austausch mit der belebten, personalen, sozialen Umwelt unter den Bedingungen kognitiver Entwicklungsschritte und nativistischer Aspekte
Sprachliche Entwicklungs- und Lernprozesse laufen mono- oder bidirektional. Die Bedeutung des Erwerbs der Sprachstrukturen und der Einsicht in Sprachfunktionen wird dabei je nach theoretischer Argumentation und Ansatz unterschiedlich hervorgehoben:
Dieser Ansatz liegt das so genannte Language Acquisition Device Modell (LAD) ("Sprach Erwerbs Einrichtung") zu Grunde. Er geht von einem genetisch angelegten, impliziten Wissen um Grammatik zu jeder natürlichen, menschlichen Sprache aus.
Das LAD enthält sprachliche Universalien. Diese beinhalten:
Formale Universalien: implizites Wissen um Regelhaftigkeiten, die in einer expliziten Grammatik auftauchen können
substantielle Universalien: implizites Wissen um Möglichkeit der Semantik und Funktion von expliziter Sprache, Unterscheidungsfähigkeit von sprachlichen und nicht-sprachlichen Lauten
Das LAD enthält den impliziten Mechanismus eines Hypothesenbildungsverfahren und Hypothesenbewertungsverfahren: auf Grund des sprachlichen, expliziten Inputs werden implizit Hypothesen über die Struktur der Sprache aufgestellt. Die Regelhypothesen werden bestätigt oder nicht bestätigt und als effektiv bewertet.
Chomsky ergänzte sein Modell später im Prinzipien- und Parametermodell (P&P-Modell) mit der genetisch...