Und herrlich ist das Studentenleben
Im Juli 1971 stand ich auf dem Innenhof der Forstlichen Fakultät in Göttingen und muss wohl etwas ratlos gewirkt haben. Ein älterer, stattlicher Herr kam auf mich zu und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“ Ja, was wollte ich eigentlich? Ich hatte das Abitur in der Tasche und wollte studieren. Mein heimlicher Traum war Forstwissenschaft. Schon als kleiner Junge hatten mich die Geschichten in den Jagdzeitschriften und Jagdbüchern meines Vaters gefesselt und später waren es Bücher von Kramer, Frevert und Beninde, die meine Fantasie beflügelten. Aber waren meine geheimen Wünsche nicht völlig unrealistisch? Seit Generationen sind die Chancen, in den Forstberuf übernommen zu werden, immer sehr gering gewesen. Die großen Länderforstverwaltungen schalteten dem Studium ein Auswahlverfahren voraus und neben körperlicher Fitness mussten natürlich die Abiturnoten stimmen. Und dennoch, nur wenige der vielen Bewerber wurden auserwählt. Wer es geschafft hatte, konnte dann allerdings davon ausgehen, dass er später nach erfolgreichem Studium in den Staatsdienst übernommen wurde.
Ich war von Kindesbeinen an Brillenträger und mein Abiturzeugnis war alles andere als ein Glanzstück. Die mündliche Englischprüfung verfolgte mich noch Jahre nach meinem Schulabschluss. Wie viele andere Bauernsöhne Niedersachsens hatte ich die Michelsenschule in Hildesheim durchlaufen, die der Landwirtschaftskammer in Hannover unterstand und deshalb schon etwas speziell war. Zwischen Mittlerer Reife und der gymnasialen Oberstufe musste eine zweijährige landwirtschaftliche Lehre absolviert werden. Weil es mir auf meinem Lehrbetrieb so gut gefiel, schloss ich noch ein Gehilfenjahr an und verdiente damit etwas Geld. In der 12. Klasse erwischte es mich dann. Ich blieb hängen. Gute Freunde behaupten noch heute, wenn ich damals nicht meine spätere Frau Jutta kennengelernt hätte, wäre nie etwas aus mir geworden. Wie sagt es doch Schiller in der Glocke: „Sie mehrt den Gewinn mit ordnendem Sinn.“ Auf jeden Fall war ich über den Ausbildungsweg 22 Jahre alt geworden und mein Gesuch zur Teilnahme an einem Auswahlverfahren wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass ich die Altersgrenze überschritten hätte.
„Kommen Sie mal mit in mein Büro“, sagte der nette ältere Herr zu mir. Die Forstliche Fakultät war 1970 vom traditionsreichen Standort Hannoversch Münden nach Göttingen umgezogen. Alles war neu und wir gingen zu einem der drei Blöcke. Oben angekommen, konnte ich im Vorbeigehen auf dem Türschild des Büros lesen: „Prof. B. - Waldbau der gemäßigten Zonen“. In diesem Büro fielen die für meinen weiteren Werdegang so bedeutenden Worte: „Also junger Mann, die Chancen waren noch nie so gut wie heute.“ Dieses Gespräch war so ermutigend, dass ich mich nur wenige Tage später im Sekretariat der Georg August Universität in Göttingen für Forstwirtschaft einschrieb. Wenn man schon nicht später in den Staatsdienst übernommen werden konnte, warum sollte es nicht mit einem Forstamt im Privatwald klappen?
Forstliche Fakultät Göttingen
Wir waren 24 Studenten, die ihr Glück versuchten. Einige davon gehörten zu den Privilegierten, den Angenommenen. Das Studium umfasste seinerzeit acht Pflichtsemester mit insgesamt 28 Prüfungen und im 7. und 8. Semester wurde parallel zu den Vorlesungen die Diplomarbeit geschrieben. Obwohl ich zu Beginn von forstlichen Tagesfragen wenig verstand, weckte das Studium zunehmend mein Interesse. Selbst in den weniger beliebten Grundlagenfächern wie Chemie, Statistik oder Genetik wurden schwierige Zusammenhänge von den Professoren so anschaulich dargestellt, dass man erstaunlich viel verstand. Es war wirklich kein Vergleich zur Schule, und Kernfächer wie Betriebswirtschaft, Waldbau oder Bodenkunde machten richtig Spaß.
Gleich zu Beginn des Studiums schloss ich mit meinem Kommilitonen Wolfgang F. Freundschaft. Wir hatten schon einige Jahre den Jagdschein und fühlten uns im Vergleich zu vielen Mitkommilitonen als alte Hasen. Groß geworden sind wir beide in Niederwildrevieren. Bald schon wurden wir in Göttingen von verschiedenen Studentenverbindungen angeworben, man sagt „bekeilt“. Sollten wir uns binden? Das Verbindungsleben ist zeitaufwendig und durfte unser gemeinsames Ziel, später Forstamtsleiter zu werden, nicht gefährden. Wie stand es doch in den alten Forst- und Jagdbüchern: „Erst kommt der liebe Gott und dann…der Forstamtsleiter.“ Die Neugierde überwog aber und der Reiz, mal bei sogenannten „Alten Herren“ jagen zu können, war groß. Also ließen wir uns von einer traditionsreichen forstlichen Verbindung aufnehmen und wurden Fuchs, Chargierter und Präside. Es wurden legendäre Kneipen geschlagen und ausgiebige Tanzfeste gefeiert.
Neben Studenten der forstlichen Fakultät gehörten Landwirte, Betriebswirte, Juristen und Mediziner unserer Gesellschaft an. Wir haben viele schöne Stunden im Verbindungshaus oder bei unseren „Alten Herren“ verbracht. Manchmal wurde auch hart diskutiert und wenn es sein musste, Meinungsverschiedenheiten mit einem „Bierjungen“ beendet.
Mein sogenannter Leibvater – die Funktion entspricht einer Patenschaft – war Forststudent. Heiko B. hatte sein Praktikum im Sollingforstamt Winnefeld bei dem bekannten Forstamtsleiter Steinhoff absolviert. „Du kannst mit zur Drückjagd kommen, ich habe mit Steinhoff gesprochen“, sagte Heiko und löste damit bei mir natürlich Begeisterung aus. Ich hatte bis dahin keinerlei Erfahrung mit Hochwild und auf der Fahrt von Göttingen in den Solling stieg die Spannung mit jedem Höhenmeter an. Alles war neu. Nach der Begrüßung und der Freigabe durch den Forstamtsleiter wurden wir auf unsere Stände gebracht. Meine Nachbarn zur Linken und Rechten waren etwa 80 Meter entfernt. Wir standen in einem Buchenaltholz, vor uns auf ca. 100 Meter fiel der Blick auf eine große, geschlossene Verjüngungspartie. Das Treiben war wohl gut eine Stunde alt, da hörte ich vor mir in der Verjüngung ein leises Knacken. Ein Alttier mit Kalb löste sich aus der Dickung und wechselte im leichten Troll auf meinen Stand zu. Ich war sehr aufgeregt. Als ich den Mannlicher Stutzen im Kaliber 8x57 IS – damals noch ohne Glas – in Anschlag brachte, ging der Pulsschlag so richtig hoch. Auf 40 Meter verhoffte das Kalb, der Schuss fiel und zu meiner Erleichterung lag es im Feuer.
Nach dem Treiben riefen mir die Nachbarn Waidmannsheil zu. Auch Heiko war glücklich und wir beide machten uns ans Aufbrechen. Als unerfahrene Hochwildjäger brauchten wir dazu eine Ewigkeit und allmählich kamen Zweifel auf, ob das überhaupt ein Kalb war. Kurze Zeit später fuhr der Revierleiter an uns vorbei und sagte ganz beiläufig: „Das ist aber ein schwaches Kalb.“ Wir waren erleichtert und der Weg zum hirschgerechten Jäger war geebnet.
Zum Studium gehörten auch zwei achtwöchige Forstamtspraktika, die in die Semesterferien gelegt wurden. Wir waren natürlich daran interessiert, in jagdlich interessante Forstämter zu kommen. Ich fragte bei einem „Alten Herren“ an, also bei einem Forstamtsleiter aus meiner Verbindung, und erhielt eine Zusage. Der Weg führte mich in das Forstamt Knobben in den schönen Solling. Dort wurde ich der Revierförsterei Donnershagen zugeordnet. Der zuständige Revierleiter H. nahm mich sehr freundlich auf. Für den ersten Tag – es war Mitte Februar – steht in meinem Berichtsheft: „Am Nachmittag habe ich zusammen mit dem Revierförsteranwärter B. die drei vorhandenen Wildfütterungen beschickt. Gefüttert wird mit speziellem Rotwildfutter, Mais und Heu.“ Ja, es waren noch andere Zeiten.
Der ausgewiesen kompetente Revierleiter H. erkrankte leider schwer, so dass schon nach kurzer Zeit Oberförster M., Revierförsterei Solingen, die weitere Ausbildung übernahm. Es war für mich ein Glücksfall. Ich wurde in der Familie aufgenommen wie ein eigener Sohn, wohnte in der Försterei und nahm selbstverständlich am Essen teil. Im Revier wurde mir Hoch- und Niederdurchforstung, die Buchen- und Fichtenwirtschaft, die Verlohnung der Waldarbeiter, das Vermessen des Holzes – der gesamte Jahresablauf in einer Försterei nahegebracht. Auch in die Geheimnisse der „Hohen Jagd“ wurde ich eingeführt. Viele Dinge hat mir mein geschätzter Ausbilder in Versform mit ins forstliche Leben gegeben. Eine Kostprobe–Schnitthaar:
„Rund, gedrillt mit schwarzen Spitzen –
auf dem Rumpfe muss die Kugel sitzen.
Doch ist solch Haar glatt, ohne Beule –
verlass Dich drauf, es ist von der Keule.
Und ist es weiß, dünn, fein wie Flaum –
kurz waidwund, darauf kannst Du bauen.
Ganz langes Haar, rüsch und gebogen –
vom Halse sind sie weggeflogen.
Weiß-gelb bis weiß das harsche Haar –
die Hose glatt durchschlagen war.
Ganz kurzes Haar aschfahl und fein
vom Brustkern oder Lauf wird’s sein.
Gestanztes Haar ohne Lug und Trug –
die Kugel durch die Decke schlug.“
Jagdpraktisch war in den Monaten Februar und März natürlich wenig zu machen, nur Überläufer mit einer Gewichtsbegrenzung auf 40 Kilogramm waren frei. Mir wurde ein Hochsitz zugewiesen, von dem aus ich es doch mal versuchen sollte. Er stand am Unterhang eines Fichtenaltholzes, das mit Fichtenna-turverjüngungspartien durchsetzt war. Obwohl die Märzsonne schon viel Kraft aufwies, waren große Teile des Sollings noch...