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Fokus Intersektionalität

Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes

AutorHelma Lutz, Linda Supik, Maria Teresa Herrera Vivar
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl251 Seiten
ISBN9783531925554
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Die hier versammelten Beiträge spiegeln den aktuellen Stand der Debatte um Intersektionalität 20 Jahre nach Prägung des Begriffes im Schwarzen Feminismus in den USA. Bei seiner transatlantischen Reise durchlief der Ansatz Metamorphosen und fiel in Europa auf vorbereiteten Boden, insbesondere in anglophonen und deutschsprachigen feministischen Diskursen. Klasse, Geschlecht, Ethnizität und 'Rasse', Sexualität, Behinderung, Alter und andere Dimensionen von Ungleichheit und Identität werden inzwischen in intersektioneller Perspektive untersucht.
In diesem Band wird der Ansatz vorgestellt und in transdisziplinäre und transnationale Analyseperspektiven wie Diskurstheorie, Biographieforschung, Wissenssoziologie, Rahmenanalyse und Sozialstrukturanalyse eingesetzt, ergänzt um kritische Interventionen zu Problemen und Grenzen dieses Konzepts.
Mit Beiträgen von Mechtild Bereswill, Kimberlé Crenshaw, Kathy Davis, Jeff Hearn, Gudrun-Axeli Knapp, Kira Kosnick, Gail Lewis, Helma Lutz, Nina Lykke, Myra Marx Ferree, Anke Neuber, Ann Phoenix, Paula Irene Villa, Nira Yuval Davis, und Dubravka Zarkov.


Dr. Helma Lutz ist Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe Universität Frankfurt am Main.
Maria Teresa Herrera Vivar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Goethe Universität Frankfurt am Main.
Linda Supik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Goethe Universität Frankfurt am Main.

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Leseprobe
Jenseits der Dichotomie von Anerkennung und Umverteilung: Intersektionalität und soziale Schichtung (S. 185-186)

Nira Yuval-Davis

Die „Politik der Anerkennung“ als Alternative und/oder Ergänzung zur sozialistischen „Politik der Umverteilung“ – um Nancy Frasers (2000) Begriffe zu verwenden – ist in den 1970er und 1980er Jahren immer wichtiger geworden. Grund dafür waren eine Vielzahl historischer, sozialer und politischer Entwicklungen – etwa der Niedergang der älteren sozialistischen Bewegung und der Zusammenbruch der Sowjetunion und all dessen, was diese in globaler Politik unterstützt hatte.

Insbesondere lag dies an der wichtigen Rolle, die identitätspolitische Bewegungen – in Bezug auf Geschlecht, „Rasse“, indigene Völker, Sexualität und Behinderung, um nur einige zu nennen, in immer mehr sozialen Feldern gespielt haben. Sozial- und Politiktheoretiker wie Charles Taylor (1992) und Michael Walzer (1992) haben argumentiert, dass das Bedürfnis nach Anerkennung eine der Triebkräfte hinter nationalistischen und anderen identitätsbezogenen (oder „subalternen“) politischen Bewegungen sei.

So behauptet Taylor (1992: 32), dass der Bedeutungszuwachs von „Anerkennungspolitik“ im öffentlichen Raum das Resultat zweier einander vermeintlich widersprechender Annahmen sei, die jede für sich immer wichtiger werden: Einerseits geht es um Menschenrechte und die Annahme, dass jeder das Recht auf eine universelle Würde und Anspruch auf den gleichen Respekt hat; andererseits um Individualisierung, wonach verschiedene Individuen und Gruppen jeweils verschiedene, einzigartige Identitäten besitzen.

Sozialistische Feministinnen wie Nancy Fraser (2000), Seyla Benhabib (2002) und andere haben diesen Argumenten zwar eine gewisse Gültigkeit zugestanden – bestehen aber zugleich darauf, dass nicht jeder Anspruch auf Anerkennung respektiert werden sollte. Sofern Identitätspolitik nicht von einer Politik der Umverteilung ergänzt werde, könne der emanzipatorische und progressive Charakter einer solchen Anerkennung verloren gehen.

Ohne die Bedeutung von Frasers Beitrag für eine feministische – und allgemein emanzipatorische – Politik in Frage zu stellen, argumentiere ich in diesem Beitrag, dass die Dichotomie von Anerkennungs- und Umverteilungspolitik zwar als heuristisches Instrument hilfreich ist, um einige Schwächen und Stärken von Identitätspolitik zu beleuchten, letztendlich potenziell jedoch irreführend ist. Weiter hin wird argumentiert, dass die Politik der Intersektionalität beide Seiten dieser Dichotomie aufnehmen und zugleich über sie hinausgehen kann.

Die Binarität von Anerkennung und Umverteilung fand in letzter Zeit auch Anerkennung als genuin feministischer Beitrag zur soziologischen Schichtungstheorie und führte dazu, Klasse neu zu denken (Crompton und Scott 2005). Aus denselben Gründen, aus denen ich in diesem Beitrag dafür plädiere, die Politiken der Anerkennung bzw. Umverteilung durch eine Politik der Intersektionalität zu ersetzen, oder besser gesagt, sie in ihr aufzuheben, plädiere ich auch dafür, Intersektionalität als den relevantesten aktuellen Beitrag der soziologischen Theorie zum Thema Klasse/ Schichtung anzuerkennen.

In diesem Sinne unterstützt dieser Essay die These von Leslie McCall (2005: 1771), dass Intersektionalität „der wichtigste theoretische Beitrag ist, den die Frauenforschung, gemeinsam mit verwandten Feldern, bisher geleistet hat“. Der folgende Abschnitt erörtert Intersektionalität zunächst allgemein und untersucht anschließend, wie sich das Konzept zu den Themen „Anerkennung“ und „Umverteilung“ verhält und welchen Beitrag es zu soziologischen Klassen-/ Schichtungstheorien leisten kann.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Danksagung8
Fokus Intersektionalität – eine Einleitung9
Gründungsnarrative9
Stand der Debatten13
Von der Frauenund Geschlechterforschung zur feministischen Intersektionalitätsforschung ?16
Let’s talk about race19
Die Beiträge dieses Bandes22
Literatur25
I. Die transatlantische Reise von Intersektionalität – Geogra en und Räume der Debatte31
Die Intersektion von „Rasse“ und Geschlecht demarginalisieren: Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht,32
Der Bezugsrahmen der Antidiskriminierung34
Die Erfahrung von Intersektionalität und die Reaktion der Rechtssprechung34
Intersektionalität in der Rechtsprechung38
Feminismus und Schwarze Frauen: „Sind wir denn keine Frauen?“40
Wann und wo ich eintrete: Die Integration von Sexismus in Schwarze Befreiungspolitiken45
Die Erweiterung feministischer Theorie und antirassistischer Politik durch Intersektionalität51
Literatur52
Intersektionalität als „Buzzword“54
Das „fundamentale Anliegen“56
Der überraschende Perspektivwechsel58
GeneralistInnen und SpezialistInnen60
Mehrdeutigkeit und Unvollständigkeit62
Intersektionalität – eine Erfolgsgeschichte ?63
Literatur65
Die diskursiven Politiken feministischer Intersektionalität68
Intersektionen, Systeme und Diskurse69
Frameworks und „Rahmungsarbeit“70
Rahmenwerke71
Intersektionelle Rahmung und institutionalisierte Diskurse über Rechte74
Schlussfolgerungen77
Literatur79
II. Neue Forschungsfelder der Intersektionalität: Männlichkeiten und Heteronormativität82
Marginalisierte Männlichkeit, Prekarisierung und die Ordnung der Geschlechter83
Marginalisierte Männlichkeit – eine widersprüchliche Konstellation86
Erschöpfung oder Beharrung männlicher Herrschaft ? Gesellschaftlicher Wandel und Wandel im Geschlechterverhältnis88
Die ernsten Spiele des Wettbewerbs ? Die Reproduktion männlicher Herrschaft mit Hilfe hegemonialer Männlichkeit91
Ausblick93
Literatur98
Vernachlässigte Intersektionalitäten in der Männerforschung: Alter(n), Virtualität, Transnationalität103
Männerforschung und Intersektionalität104
Hegemoniale Männlichkeit und die Hegemonie von Männern106
Die Hegemonie von Männern und vernachlässigte Intersektionalitäten108
Versäumnis 1: Alter(n), Behinderungen, ältere Männer, Verkörperlichung110
Versäumnis 2: Virtualität, „virtuelle Männer“113
Versäumnis 3: Transnationalität, transnationale Männer115
Schlussbemerkungen117
Literatur118
Enthüllungen und Unsichtbarkeiten: Medien, Männlichkeitskonzepte und Kriegsnarrative in intersektioneller Perspektive122
Enthüllungen und Unsichtbarkeiten in den Medien: Die Bedeutungen von Gewalt123
Zum Kontext in Kroatien: Krieg als Mittel der Nationalstaatsbildung124
Zum Kontext in den USA: Kriege zur Verteidigung der Demokratie und der Zivilisation125
Mediatisierte Bedeutungen: Der Körper des anderen Mannes und die Projekte des Selbst127
Präsenz und Unsichtbarkeit in der Forschung: Analysekategorien und ihre Bedeutungen132
Literatur138
Sexualität und Migrationsforschung: Das Unsichtbare, das Oxymoronische und heteronormatives „Othering“142
(Un)Sichtbarkeiten143
Codierungen von gleichgeschlechtlichem Begehren147
Queering Migrationsforschung149
Staatliche Interventionen151
Intersektionen156
Literatur158
Psychosoziale Intersektionen: Zur Kontextualisierung von Lebenserzählungen Erwachsener aus ethnisch sichtbar differenten Haushal161
Intersektionalität als Instrument für Mehrebenenanalyse162
Die Studie165
Intersektionelle und Mehrebenenanalyse von Brüchen [disjunctions] veränderlicher, situierter Identitäten166
Die Verhandlung disjunktiver situativer Identitäten167
Erste Begegnungen mit dem Rätsel disjunktiver Positionierung170
Die Verhandlung geographischer Brüche in rassi zierten Machtbeziehungen171
Die Imaginierung geschlechtsspezi scher/rassi zierter situierter Positionierung173
Abschließende Überlegungen174
Literatur176
III. Intersektionalität vorantreiben: Potentiale, Grenzen und kritische Fragen179
Jenseits der Dichotomie von Anerkennung und Umverteilung: Intersektionalität und soziale Schichtung180
Intersektionalität181
Das Dilemma „Anerkennung vs. Umverteilung“187
Schichtung und Klasse189
Intersektionalität als Schichtungstheorie: Skizze eines Fazits192
Literatur194
Verkörperung ist immer mehr197
Das Scheitern der Personen beim Versuch, Subjekt zu werden198
Die Suche nach Kategorien – ein „Wille zum Wissen“ ?204
Ein programmatischer Vorschlag: Scheitern als Struktur206
Mimesis: Scheitern durch Tun auf dem Gipfel der Performativität207
Anstelle einer Schlussfolgerung: Misstraut dem Hype210
Literatur213
„Intersectional Invisibility“: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung216
Formen der Entnennung: Intersektionelle Unsichtbarkeit – Über-Inklusion – Unter-Inklusion217
Wer fällt auf – wer wird übersehen ? Vorund Nachteile intersektioneller Gruppenzugehörigkeit218
Zwischenresümee: Desiderate und offene Fragen219
Verstellte Einsichten – herrschaftsförmige Vermittlungen223
Ausblick231
Literatur234
Postscriptum: Intersektionalität – Offenheit, interne Kontroversen und Komplexität als Ressourcen eines gemeinsamen Orientierung237
Un/Sichtbarkeiten von Wechselbeziehungen239
Strukturelle Privilegien und Intersektionalität242
Komplexe Analyseperspektiven: Wechselbeziehungen sozialer Kategorien und Analyseebenen244
Schluss246
Literatur247
Autorinnen und Autoren249

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