2. Alter und Geschlecht
Mythos Alter: Zwischen Kompetenzen und Defiziten
Den Begriff »Mythos« verwende ich hier im Sinne von »Alltagsmythen«, von unreflektiert tradierten Vorstellungen und Vorurteilen, die sich zu Klischees und Stereotypen verfestig(t)en. Die Überschrift dieses Abschnitts bezieht sich auf den deutschen Titel eines Buches von Betty Friedan, nämlich »Mythos Alter«. Es ist 1993 unter dem Titel »The Fountain of Age« in den USA und 1997 in deutscher Sprache erschienen.
In ihrem Buch kritisiert die US-amerikanische Autorin den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema »Alter«, nämlich die einseitig negative Wahrnehmung bzw. mediale Darstellung alter Menschen. Als »Altersmythos« bezeichnet sie sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung des Alter(n)s vor dem Hintergrund der Hochstilisierung von Jugendlichkeit, Fitness und Schönheit. Friedan sucht und findet »neue Möglichkeiten vitalen Alterns« (441ff) sowie zahlreiche Menschen, die ihr als Beispiele dafür dienen. Ihre These lautet: »Die extreme Variabilität im Alter (…) beweist eindeutig, dass der Individuationsprozeß (…) unsere dritte Lebensphase auf einmalige Art und Weise prägt – es sei denn, wir erliegen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung vom Alter als einer Zeit des Verfalls und der Verzweiflung, weil wir stagnieren und das Älterwerden verleugnen.« (147f).
Friedans Ausführungen verdeutlichen das so genannte »Kompetenz-Modell« bzw. »Kompensationsmodell« des Alters. Dieser Diskurs ist gekennzeichnet durch Schlagworte wie »die neuen Alten«, »Produktivität« oder »Generativität« im Alter. Tatsächlich hat sich sowohl die Lebensrealität als auch das Bild alter Menschen in den letzten Jahrzehnten entscheidend ausdifferenziert. Ein gängiger Ausdruck für diesen Prozess lautet »Strukturwandel des Alters«. Dessen Ursachen liegen vor allem in der Zunahme des Anteils alter Menschen an der Bevölkerung. Dazu kommen Veränderungen im Arbeitsleben, Veränderungen in den Familienstrukturen und bei der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern sowie in verbesserten medizinischen Möglichkeiten. Viele Menschen in westlichen Gesellschaften haben in einer verlängerten, in zumindest relativer Gesundheit verbrachten Phase des »Ruhestandes« neue Chancen der Lebensgestaltung.
Im Bereich der deutschsprachigen Altersforschung wurde nicht nur die mit dem Alter mögliche »Späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) thematisiert. Margaret Baltes verweist auf ein Modell des »erfolgreichen Alters« (nach Baltes 1996, 405). Erhard Olbrich befasst sich mit dem »Edelboom« der Langlebigkeit und der »Persönlichkeitsentwicklung im Alter« als Grundlage einer »neuen Altenkultur« (Olbrich 1996, 58ff). Alle diese AutorInnen stellen klar, dass die Chancen für ein »gutes Leben« im Alter innerhalb der Gesellschaft ungleich verteilt sind. Sie hängen vor allem von den jeweiligen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der Individuen ab. Und auch Friedan warnt vor einem Gegenmythos, der vorgibt, das Alter sei keine Krise, sondern vor allem eine »Chance zur persönlichen Weiterentwicklung« (198f).
Mir scheint darüber hinaus ein weiterer Gedanke wichtig. Gertrude Backes hat darauf verwiesen, dass hinter dem Betonen der Ressourcen und Potentiale des Alters auch die Frage stehen könnte: Was bringen die alt(ernd)en Menschen der Gesellschaft noch? Letztlich wäre unter einer solchen »positiven« Einstellung doch auch wieder Altersfeindlichkeit verborgen (Backes 2004). Notwendig und offenbar noch ausständig sind »der Lebensrealität – und das heißt im Wesentlichen der Lebenslage – des Alters und des Alterns angemessene, sozialstrukturell hinreichend differenzierte soziologische Analysen«. Ihnen käme »eine vordringliche ideologiekritische Funktion« zu – gegenüber jenen Untersuchungen, die sich auf die »aktiven und ›erfolgreichen‹ Seiten des Alter(n)s« konzentrieren (Backes/Clemens 2002,14).
Auch ich stehe dem starken Betonen all der Möglichkeiten, die alt(ernd)e Menschen offenbar nur wahrzunehmen brauchen, mit Skepsis gegenüber. Die Erwartung, dass alte Menschen mehr oder weniger lang gut »funktionieren«, übt auf diese oft einen nicht geringen Druck aus. Eine Verbesserung des weithin negativen Bildes sowie der tatsächlichen Lebensumstände und Möglichkeiten alter Menschen sollte nicht ein Anforderungsprofil hervorrufen, dem viele von ihnen gar nicht, manche oft nur schwer und vor allem nicht immer entsprechen können (und vielleicht auch nicht wollen).
Dem Kompetenzmodell steht als eine Art Gegenpol ein anderes Modell gegenüber, ein anderer »Mythos«, nämlich das »Defizitmodell«.
Meine erste gewissermaßen »historische« Basislektüre für diese Arbeit war »Das Alter« von Simone de Beauvoir (1970 bzw. deutsch 1972/2000). Dieses Werk hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt, nach wie vor wird – auch in gegenwärtigen Untersuchungen – darauf rekurriert. Etwa Göckenjan: »›Die Alten‹ sind bei Beauvoir Synonym für alle Ungerechtigkeit der Welt. Und die Alten in ihre Rechte zu setzen wäre bester Grund für Revolutionen. Die Forderung, dass Menschen im Alter Menschen bleiben müssen, würde eine radikale Umwälzung implizieren. Und so ruft sie (Beauvoir, EH.) ihre Leser auf, mit dazu beizutragen, diese ›Verschwörung des Schweigens‹ zu brechen, wie sie immer zum Kampf gegen Klassenherrschaft und Kolonialismus aufgerufen hat.« (Göckenjan 2000, 11f). Unter der Überschrift »Hoffnungsloser Skeptizismus« zitiert sie auch Eva Birkenstock: »Nun, das Alter ist eine Zeit allgemeiner Frustration; es erzeugt unklare Ressentiments …« (Birkenstock 2000, 55f). Beauvoir konstatiert gewisse Parallelen in der Lage von Kindern und alten Menschen, sieht jedoch einen entscheidenden Unterschied: Das Kind stellt für die Gesellschaft ein »künftiges Aktivum« dar, so dass sich Investitionen rentieren, während der alte Mensch aus diesem Blickwinkel »nur ein Toter auf Abruf ist« (278f).
Hier wird ein öffentlicher Diskurs dargestellt, in dem Altsein vorwiegend durch negative Vorstellungen bestimmt ist. Aktuell stehen dabei die demographischen Veränderungen unter Schlagworten wie »Alterslast« oder »Überalterung« der Gesellschaft im Vordergrund. Auf der Ebene der Individuen werden nach wie vor altersbedingte Abbauerscheinungen betont. Die Tatsache, dass Testergebnisse, die die Defizite alter Menschen bestätigen, häufig durch die Testbedingungen beeinflusst sind, ist dabei im allgemeinen Bewusstsein kaum gegenwärtig. Bei Vergleichen zwischen den Generationen wurden etwa die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen nicht genügend berücksichtigt. Wenn die Gegenwartsgesellschaft (noch) als eine »Arbeitsgesellschaft« zu verstehen ist, so werden diskriminierende Altersstereotype auch in diesem Zusammenhang durch den herrschenden Arbeitsbegriff hervorgerufen. Arbeit wird immer noch so gut wie ausschließlich als ursprünglich rein männliche Erwerbsarbeit verstanden. Dadurch gerät der gesamte Bereich der unbezahlten Tätigkeiten aus dem Blick. Dieser umfasst insbesondere all jene gesellschaftlich notwendige Arbeit, die vorwiegend von Frauen geleistet wird, und zwar auch im Alter. Selbst- und Fremdwahrnehmung alternder und alter Menschen verstärken sich gegenseitig im Rahmen eines Diskurses, der die negativen Seiten von Altern und Alt-Sein betont.
Defizit- und Kompetenzmodell: Zwei anschauliche Beispiele für »Codes der Alterserwartungen« (Göckenjan 25) und für Variationen der Konstruktion von Alter. Vielleicht also nicht nur »doing gender«, sonder auch »doing age«? Und könnten diese beiden Begriffe sogar zusammenhängen? Dieses Thema wird noch weiter zu verfolgen sein. Zunächst jedoch greife ich den Begriff »Altersfeindlichkeit« auf, den Backes verwendet hat (s.o.). Er geht über den Inhalt eines »Defizitmodells« von Alter(n) hinaus.
Altersfeindlichkeit und/oder Ageismus
Offenbar ist es schwierig, das Wort »Alter«, die Bezeichnung »alt« zu verwenden. Weshalb legt es der allgemeine Sprachgebrauch nahe, auf Bezeichnungen wie »älter«, »SeniorInnen«, »bejahrt« oder »betagt«, auf »dritte Lebensphase«, »Ruhestand« und ähnliche Beschönigungen auszuweichen? Ich sehe in solchen Vermeidungsstrategien durchaus einen Ausdruck von Altersfeindlichkeit. Worin besteht Altersfeindlichkeit? Wenn »Alter« ein vorwiegend negativ besetzter Begriff ist, so führt dies zur Stigmatisierung des Prozesses Altern und der davon betroffenen Gruppe alter Menschen (nach Undine Kramer 2003, 258). Als Bezeichnung für diese Form sozialer Diskriminierung wurde der Begriff »Ageism« geprägt. Dieser geht zurück auf einen Artikel von Robert N. Butler 1969 (nach Kramer...