Der Gelenk-für-Gelenk-Ansatz
Wenn Sie den Gelenk-für-Gelenk-Ansatz noch nicht kennen, dann bereiten Sie sich schon mal auf einen Quantensprung in Ihrem Denken vor.
Als ich mit dem Physiotherapeuten Gray Cook über den Effekt von Training auf den Körper diskutierte, erklärte mir dieser verblüffend einfach und gleichzeitig sehr einleuchtend, wie Gelenke im Körper wirken. Seiner Meinung nach besteht der menschliche Körper schlicht und einfach aus einem Haufen Gelenke, die einzeln und für sich genommen zu betrachten sind (der Gelenk-für-Gelenk-Ansatz). Gray erwähnte in diesem Zusammenhang seinen Functional Movement Screen, FMS – eine funktionelle Bewegungsprüfung, der die Erkenntnis zugrunde liegt, dass jedes Gelenk oder jede Gelenkgruppe eine unterschiedliche Funktion hat: entweder Mobilität oder Stabilität. Durch den FMS lässt sich bestimmen, ob ein Mobilitäts- oder Stabilitätsproblem vorliegt.
Schnell wurde mir klar, dass ich in Zukunft jedes Gelenk für sich betrachten sollte. Jedes hat seine spezifische Funktion und ist anfällig für bestimmte, leicht vorhersehbare Dysfunktionen. Daher muss jedes Gelenk auch auf spezifische Weise trainiert werden.
Heute ist dieser Gelenk-für-Gelenk-Ansatz unter Fachleuten allgemein bekannt – so bekannt, dass häufig sogar vergessen wird, Gray Cook oder mich als Entwickler dieser Idee zu nennen.
In der folgenden Tabelle können Sie sehen, welche Funktion die wichtigsten Gelenke haben. Auffällig ist zuerst, dass Mobilität und Stabilität abwechseln: Das Fußgelenk braucht Mobilität, das Knie Stabilität, die Hüfte Mobilität usw.
Hüfte | Mobilität (in mehreren Ebenen) |
Lendenwirbelsäule | Stabilität |
Brustwirbelsäule | Mobilität |
In den letzten 20 Jahren haben wir uns vom Training einzelner Körperteile wegbewegt und uns stattdessen der Verbesserung spezifischer Bewegungsmuster zugewendet. Heutzutage haben demnach die meisten Trainer den alten Brust-Schulter-Trizeps-Ansatz aufgegeben und konzentrieren sich nun auf Programme mit Zug- und Druck- sowie Hüft- bzw. Kniestreckbewegungen. Dieser Ansatz muss jedoch noch einen Schritt weiterentwickelt werden, da inzwischen klar ist, dass Verletzungen mit der Gelenkfunktion oder vielmehr mit ihrer Dysfunktion zusammenhängen: Probleme in einem Gelenk machen sich meist durch Schmerzen ober- oder unterhalb dieses Gelenks bemerkbar.
Schauen wir uns hierzu den unteren Rücken an. Wir alle wissen, dass wir über gute Rumpfkraft verfügen müssen. Wir wissen auch, dass viele Menschen an Rückenproblemen leiden. Wenn wir nun das Prinzip der Gelenkfunktionen anwenden, stellen wir fest, dass Schmerzen im unteren Rücken ihren Ursprung in mangelnder Hüftmobilität haben. Wenn die Hüfte an Mobilität einbüßt, muss sich die Lendenwirbelsäule bewegen. Diese ist aber nicht dazu ausgelegt. Die Lendenwirbelsäule sollte ganz im Gegenteil für Stabilität sorgen. Eine unbewegliche Hüfte führt demnach zu Schmerzen im unteren Rücken. Wenn ein Gelenk, das Mobilitätsfunktion hat, zu steif ist, wird ein Gelenk mit Stabilitätsfunktion gezwungen, sich zu bewegen. Dieses verliert dadurch an Stabilität, was wiederum zu Schmerzen führt.
- Wenn Mobilität im Fußgelenk verloren geht, kommt es zu Knieschmerzen.
- Wer Mobilität im Hüftbereich einbüßt, bekommt Schmerzen im unteren Rücken.
- Mangelnde Mobilität in der Brustwirbelsäule führt entweder zu Problemen im unteren Rücken oder zu Nacken- bzw. Schulterschmerzen.
Wer also eine eingeschränkte Mobilität der Hüfte hat, leidet in der Regel unter Schmerzen im unteren Rücken. Daraus folgt: Wenn jemand mit Schmerzen im unteren Rücken zum Physiotherapeuten kommt, sollten zuerst die darüber und darunter befindlichen Gelenke auf ihre Funktion überprüft werden. Meist muss an einer Verbesserung der Hüftmobilität gearbeitet werden.
Wenn die Fußgelenke nicht mobil genug sind, wird der Aufprall vom Knie abgefangen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf ein Problem mit übermäßig stabilen Basketballschuhen oder Tapes hinweisen: Nicht selten kommt es zu Knieschmerzen, wenn die Mobilität im Fußgelenk durch Taping oder zu starres Schuhwerk verloren geht.
Die Hüfte nimmt eine Sonderstellung ein: Sie kann nämlich sowohl instabil als auch relativ unbeweglich sein. Instabilität in der Hüfte bedeutet eine schwache Abduktion oder besser gesagt eine mangelnde Verhinderung von Adduktion. Die Innenrotation und Adduktion des Oberschenkelknochens führt zur Überlastung der Knie, und es kommt zu Knieschmerzen.
Wenn sich die Hüfte hingegen nicht ausreichend beugen oder strecken lässt, sie also nicht beweglich genug ist, weil M. psoas major oder M. iliacus schwach ausgebildet sind, muss die Lendenwirbelsäule dies kompensieren. Doch wenn die Wirbelsäule anfängt, sich zu bewegen, verliert die Hüfte mehr und mehr an Mobilität, und es treten Rückenschmerzen auf. Kraftdefizite in der Hüfte bedingen also die mangelnde Beweglichkeit, was wiederum zu einer Kompensationsreaktion der Wirbelsäule führt.
Im Ergebnis handelt es sich bei der Hüfte um ein Gelenk, das sowohl Kraft als auch Mobilität in mehrere Bewegungsrichtungen braucht. Demnach müssen Athleten lernen, Bewegungen aus der Hüfte und nicht aus der Lendenwirbelsäule heraus auszuführen. Die meisten Sportler nämlich, die unter Schmerzen oder Zerrungen im unteren Rücken oder im hinteren Oberschenkelbereich leiden, weisen ungenügende Hüft- bzw. Beckenbeweglichkeit auf.
Schauen wir uns nun die Lendenwirbelsäule an: Es handelt sich hierbei um eine Reihe von Gelenken, die ganz klar für Stabilität sorgen müssen. Der größte Fehler, der in den vergangenen Jahren im Rumpfstabilitätstraining gemacht wurde, ist, den Bewegungsumfang in einem Bereich zu vergrößern, der eigentlich Stabilität benötigt. Heute muss gesagt werden, dass Rotationsübungen für den Lendenwirbelbereich zumeist, wenn nicht sogar generell unangebracht sind. Die Physiotherapeutin Shirley Sahrmann schreibt in Diagnosis and Treatment of Movement Impairment Syndromes, dass es nicht empfehlenswert und vielleicht sogar gefährlich sei, die Bewegungsamplitude der Lendenwirbelsäule zu vergrößern. Diese Aussage wird u.a. von James Porterfield und Carl DeRosa in Mechanical Low Back Pain unterstützt. Wir haben in der Vergangenheit die Mobilitätsfunktion des Brustwirbelbereichs nicht verstanden und daher fälschlicherweise versucht, die Bewegungsamplitude der Lendenwirbelsäule zu vergrößern.
Besonders wenig wissen wir über die Brustwirbelsäule. Viele Physiotherapeuten empfehlen, die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule zu vergrößern, doch leider ist heute noch nicht hinreichend bekannt, wie genau dies geschehen soll. In den nächsten Jahren werden hoffentlich mehr Übungen entwickelt, die eine verbesserte Mobilität der Brustwirbelsäule bewirken. Sahrmann ist eine der Vorreiterinnen dieser Auffassung: Sie hat schon früh die Empfehlung ausgesprochen, den Brustwirbelbereich zu mobilisieren und gleichzeitig den Lendenwirbelbereich zu stabilisieren.
Das Schultergelenk hat eine ähnliche Funktionsweise wie die Hüfte. Seine Funktion ist Mobilität, aber es muss auf Stabilität trainiert werden. Hierzu werden Übungen am Gymnastikball, BOSU-Liegestütze oder Kurzhantelübungen eingesetzt.
In ihrem Ernährungsbuch Ultra-Prevention beschreiben Mark Hyman und Mark Liponis unsere derzeitige Reaktion bei Verletzungen auf eindrucksvolle Weise. Wenn wir den Schmerz mit einem Rauchmelder vergleichen, der Alarm schlägt, wenn ein Feuer ausbricht, gehen wir hin und schalten den Rauchmelder ab, wodurch zwar der Lärm gestoppt wird, die Ursache für den Alarm aber ungeklärt bleibt. Wer also sein Knie mit Eis behandelt, ohne gleichzeitig Fußgelenk und Hüfte zu untersuchen, wird kurzfristig vielleicht den Schmerz los, kennt aber nach...