2. Was heißt philosophisch fragen und antworten? Der philosophische Diskurs
Sokrates im Angesicht des Todes. Platons Phaidon
Wer etwas von Platon gehört hat, hat etwas vom Höhlengleichnis gehört. Davon soll hier nicht die Rede sein. Da geht es um Platons Idealismus, den sogenannten Ideenhimmel und verwandte Fragen. Platons Werke sind in Gesprächsform gehalten, daher wird von den »Dialogen« Platons gesprochen. Zwei unter ihnen stechen durch ihre schiere Länge hervor, die Nomoi (Gesetze) und die Politeia (Staat), wo u. a. das Höhlengleichnis vorkommt. Darüber hinaus sind Briefe von Platon überliefert. Ich habe vor, am Beispiel eines Dialogs zu erläutern, welche Bedeutung Fragen und Antworten in der Philosophie hat. Mit Glück springt am Ende eine vorläufige Klärung des Diskursbegriffs heraus.
Bevor wir an einer bestimmten Stelle in einen Dialog, den Phaidon, einsteigen können, muss ich kurz das Setting, wie das beim Film heißt, erklären. Für gewöhnlich präsentiert sich uns am Anfang eines Dialogs eine Gruppe von Männern, die sich trifft, die jemanden besucht, die eben eine Gesprächsgelegenheit schafft. Allermeist geht es auch um ein bestimmtes Thema, das den gesamten Dialog bestimmt. Zum Beispiel nimmt sich der berühmte Dialog Protagoras die Sophisten und ihr Handwerk der Rede- oder besser: der Überredungskunst zum Gegenstand. In dem berühmten Symposion (Gastmahl) werden die ethischen Regeln der homosexuellen Beziehungen unter den Männern Athens durchdiskutiert. Immer sind mehrere Männer an den Gesprächen beteiligt, insofern könnten wir auch von Gesprächen reden. Aber in der Tat hat das, was wir bei Platon lesen, nichts mit Talk zu tun. Vielmehr wechseln sich die Gesprächspartner ab, und erstens redet immer nur einer, und zweitens stehen immer zwei der Anwesenden unmittelbar im Dialog, tauschen Ansichten und Argumente aus. Insofern hat der Begriff »Dialog« für dieses Textgenre schon seinen guten Sinn.
Der Phaidon setzt bei einer besonderen Situation ein. Sokrates, die zentrale Figur der Dialoge Platons, ist von den Athenern zum Tode verurteilt worden, und das Urteil wurde vollstreckt. Wir schreiben das Jahr 399 v. Chr. Einige seiner philosophischen und Lebensfreunde waren zugegen, andere konnten seine letzten Stunden nicht begleiten. Diese fragen nun den Phaidon, der dabei war, wie diese letzten Stunden verlaufen sind und wie Sokrates selbst sein Ende verstanden hat. Phaidon berichtet den Schülern des Sokrates wörtlich, so offenbar der Anspruch des Textes, den Verlauf des Gesprächs – bis hin zum Leeren des tödlichen Schierlingsbechers und Sokrates’ Ableben.
Im Zentrum des Gesprächs in der Gefängniszelle stand offenbar die Sorge der Schüler und Gefährten Sokrates’, dass nun alles vorbei sei. Sie sind nicht nur betrübt, sondern auch betroffen, besorgt, dass Sokrates, abgesehen von seiner berühmten Verteidigung vor Gericht, so gar nichts gegen seinen Tod einzuwenden hat. Im Gegenteil, er fügt sich in seinen Tod. Bedeutet das nicht auch, dass er es gar nicht schlimm findet, dass er nun den Freunden verloren sein wird? Wie kann es sein, dass ihm das so gar nichts ausmacht? – Kurzum, es geht um die Frage, ob mit Sokrates nun einfach alles zu Ende ist oder ob er nach dem Tode auf irgendeine Weise weiterlebt.
Wenn ich Ihnen eine Passage aus dem Dialog Phaidon, der etwa 90 Seiten umfasst, zitiere, dann mit zweierlei Absicht: Einmal soll die Textart bekannt gemacht werden, das Dialogische; und zudem geht es in der Passage um einen bestimmten Gegenstand, ein philosophisches oder theologisches Problem, das nicht ganz unwichtig ist.
Es sprechen Simmias, ein post-pythagoreischer Gelehrter aus Theben, und Sokrates selbst. Im Kontext geht es um die These des Sokrates, dass Lernen immer ein Erinnern sei – nebenbei bemerkt, eine für die Schule interessante Sichtweise, weil sie ja bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler, wie überhaupt jeder Mensch, immer schon das Wichtigste wissen, sie müssen nur daran erinnert werden. Das Bild des Nürnberger Trichters, wie es der Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer entwarf, der die Regeln des guten Sprachgebrauchs für Reim- und Dichtkunst jedem in nur sechs Stunden ins Hirn eintrichtern zu können meinte, nach dem Lehrer pausenlos Wissen ins Hirn der Schüler schütten, scheidet als Stütze für ein Verständnis von Lernen nach dieser Auffassung jedenfalls aus.
[Sokrates:] Wenn jemand sich aber durch ähnliche Dinge an etwas erinnert, wird ihm dann nicht notwendig das noch dazu widerfahren, daß er abwägt, ob diese in Bezug auf Ähnlichkeit etwas zurückbleiben hinter jenem, an das er erinnert wurde, oder nicht?
Notwendig, sagte er. (Phaidon, 74a)
Wovon ist hier die Rede? Sokrates spricht über Ähnlichkeit und Gleichheit von Dingen. Sein Argument ist, dass wir, wenn wir eine Ähnlichkeit oder Gleichheit feststellen, den einen Partner des Vergleichs aus der Erinnerung holen.
Prüfe also, sprach er [Sokrates], ob sich das so verhält: Wir sagen doch, etwas sei gleich, ich meine nicht ein Holz dem Holz oder ein Stein dem Stein und auch nichts anderes dieser Art, sondern neben diesem allen noch etwas anderes, das Gleiche selbst. Sagen wir, es sei etwas oder nichts?
Das sagen wir in der Tat, bei Zeus, sprach Simmias, aufs entschiedenste!
Erkennen wir auch, was es ist?
Gewiß, sagte er.
Woher nahmen wir seine Erkenntnis? Nicht von den Dingen her, von denen wir eben sprachen? Wenn wir Hölzer oder Steine oder andere gleiche Dinge sahen, haben wir uns nicht bei diesen jenes vorgestellt, das verschieden ist von ihnen? Oder scheint es dir nicht verschieden zu sein? Prüfe es auf folgende Weise: Erscheinen nicht gleiche Steine oder Hölzer zuweilen, obwohl sie dieselben bleiben, einmal gleich, einmal nicht?
Allerdings.
Wie aber? Die gleichen Dinge selbst, ist es so, daß sie dir manchmal als ungleich erscheinen – oder die Gleichheit als Ungleichheit?
Niemals, Sokrates.
Nicht dasselbe sind demnach, fuhr er fort, jene gleichen Dinge und das Gleiche selbst.
Keineswegs, wie mir scheint, Sokrates. […]
(Ebd., 74a–b)
Hier könnte allmählich der Faden verlorengehen. Worüber sprechen die beiden? – Sokrates nimmt, nachdem von ähnlichen oder gleichen Dingen wie Holz usw. die Rede war, eine philosophisch entscheidende Erweiterung des Gesprächsgegenstandes vor: Er geht von den einzelnen Dingen zu einem allgemeinen Begriff über, zum Begriff »Gleiches«.
»… haben wir uns nicht bei diesen jenes vorgestellt?« – soll offenbar heißen: setzen wir nicht eine Vorstellung vom Gleichen allgemein voraus, wenn wir über die Gleichheit oder Ähnlichkeit zweier Gegenstände vor uns oder nach der Erinnerung urteilen? Das ist der erste Schritt, den Sokrates seinen Zuhörern abverlangt. Der zweite folgt sogleich. Zwei ähnliche Dinge oder Vorstellungen von ihnen sind offenbar nicht haltbar in der Zeit, sie können mal so, mal so ausfallen. Das Gleiche als Gleiches hingegen bleibt sich gleich, da tritt kein Unterschied ein.
Wir müssten keineswegs so rasch zustimmen, wie Simmias zustimmt. Zwei Ziegelsteine mögen gleich sein, nicht nur ähnlich. Ein dritter, industriell gefertigt, mag den beiden anderen gleichen, und so weiter. Aber müssen wir, um das festzustellen, einen allgemeinen und von diesen Einzelfällen unabhängigen Begriff des Gleichen oder der Gleichheit bilden? Nehmen wir diesen Schritt nicht zu leicht, auch wenn er uns leicht einleuchtet? Schließlich gewinnt das Abstraktum »das Gleiche« eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Einzelfällen, von denen wir feststellten, sie seien gleich. Fast scheint es, das Gleiche sei ebenso ein Ding, ein Objekt, wie die Steine, nur eben kein konkretes. Hinter der Redeweise vom Gleichen oder einer Gleichheit scheint eine Art Schluss zu stehen, nämlich der Schluss von einer Beziehung zwischen zwei Dingen auf ein Allgemeines. Wir reden dann davon, dass diese Dinge, die drei Steine, eine Gemeinsamkeit hätten, nämlich eben diese Gleichheit. Das Gleiche scheint eine Eigenschaft der Steine zu sein wie ihre Länge, Breite, ihr Gewicht, ihre Farbe. Wir könnten das so verstehen, als gäbe es ein viertes Ding, eben die Gleichheit, die, sagen wir, in allen diesen drei Steinen vorkommt, eben ihre Gleichheit.
Aber bitte, wo steckt denn die Gleichheit? Steckt sie wie Länge, Breite usw. in den Steinen, oder liegt sie vielmehr in unserer Wahrnehmung, in unserer Deutung der Steine? Vermutlich würde eine Betrachtung unter dem Mikroskop ergeben, dass die Steine alles andere als gleich sind, ihre Gleichheit also nur der Unschärfe unserer Sinne geschuldet ist. Descartes scheint gegen uns und gegen Platon recht zu behalten: Wir sollten damit aufhören, auf unsere Beobachtung der drei Steine zu vertrauen und ihnen alles Mögliche, wie etwa ihre Gleichheit, anzudichten, und uns stattdessen auf den Satz zurückziehen: »Ich nehme wahr, ich denke, also bin ich.«
Die Wirkungen dieses Zweifels an abstrakten Allgemeinbegriffen in der Philosophiegeschichte gehen noch viel weiter. Manche Kritiker der Philosophie gaben zu bedenken, dass es nur in bestimmten Sprachen, so in der griechischen oder in der deutschen Sprache, möglich sei, solche Substantivierungen von Adjektiven vorzunehmen: aus »gleich« wird »das Gleiche«, aus »schön« – »das Schöne«, aus »nichts«...